Eine Tomate weniger

„Bitte Katie, rede mit ihm. Er verweigert seitdem jegliches Essen, sieht aus wie ein wandelnder Zombie."

„Er würde sich melden, wenn es so wäre", versuche ich mehr mir selbst als Mira einzureden.

„Er braucht dich, will dir aber den Freiraum geben, den du verlangt hast bei der Trennung." Ich stocke.

„Das wäre das erste Mal seit langer Zeit, dass er einen Wunsch von mir berücksichtigen würde."

„Er versucht sich wirklich zu bessern." Ich presse die Lippen aufeinander, schüttele aber dann den Kopf, obwohl Mira es auf der anderen Seite des Anrufs nicht sehen kann.

„Ich kann nicht, Mira." Jetzt erst recht nicht mehr. Ich würde ihm sofort von der Schwangerschaft erzählen, ihm noch mehr Last auferlegen, die er nicht verdient hat.

„Bitte, Katie." Ich will so gern ja sagen, will ihn unbedingt wiedersehen, mich zurück in seine Arme legen. Einen kurzen Moment werfe ich einen Blick auf die einfahrende Bahn und bin geneigt, einzusteigen, um zu ihm zu fahren und alles wieder in Ordnung zu bringen und gleichzeitig weiß ich, dass ich jetzt einen wichtigeren Termin habe.

„Tut mir leid, es geht gerade nicht", sage ich, lege auf, und gehe die Stufen der U-Bahn Station hinauf.

Die Praxis wirkt nicht so angsteinflößend, wie sie es in meinen Träumen war. Die Empfangsdame begrüßt mich mit einem herzlichen Lächeln und nimmt meine Formalien auf. Dann folge ich mit zittrigen Beinen der Assistenz in den Behandlungsraum. Vor mir sitzt eine junge Ärztin, die mich genauso freundlich anlächelt.

„Hast du jemanden, der dich nach der Operation abholen kann?", fragt sie, sieht dabei aber die Assistenz an.

Ich nicke.

Maltes Telefonnummer habe ich vorher aufgeschrieben und der Assistenz gegeben. Er wird mich danach mit dem Auto abholen und nach Hause fahren.

„Gut, wir müssen noch einmal die Formalitäten durchgehen, um sicherzugehen, dass du dich der Prozedur bewusst bist. Das Infoblatt hast du ja bereits gelesen und unterschrieben. Bei einer Vollnarkose belaufen sich die Kosten auf 480 Euro, die du am Empfang bezahlen kannst." Ich nicke pflichtbewusst. Das sind drei Wochen Fahrunterricht, oder ein Monat jobben plus mein Taschengeld, aber nichts, das ich nicht zusammengespart habe in den letzten Monaten, weil ich mir ein neues Bett kaufen will. Das Jetzige erinnert mich zu sehr an Tom und alles, was wir gemacht haben, was er gemacht hat. Ich kann darin nicht mehr schlafen, liege eingerollt in einem unbenutzten Bettlaken auf dem Boden davor. Aber das hier hat Vorrang.

„Das ganze dauert nicht länger als fünfzehn Minuten und in einer Stunde wachst du dann wieder auf. Alles also ganz einfach." Die Zuversicht, mit der sie das sagt, beruhigt mich.

Sie helfen mir beim Klamotten ausziehen und Patientenkittel anziehen, weil meine Beine so sehr zittern, dass wir alle fürchten, dass ich jeden Moment zusammenklappe. Sie befestigen meine Beine mit Gurten, damit sie während der Operation nicht vom Stuhl fallen, arbeiten schnell und sagen dabei nichts und ich bin erleichtert über die urteilsfreie Atmosphäre, die sie schaffen.

„Hier", eine der Assistentinnen gibt mir einen blauen Stressball, den ich dankbar annehme. Jetzt hier im Kittel zu sitzen und auf den Narkosearzt zu warten ist fürchterlich. Ich weiß, dass es die einzig richtige Entscheidung ist, die einzig verantwortungsvolle Entscheidung, die ich treffen kann, und dennoch tut es weh daran zu denken, dass ich den letzten Beweis unserer Beziehung nun ausradiere. Ein Leben ausradiere.

Und im gleichen Moment fällt mir ein, wie ich überhaupt in dieser Situation gelandet bin, wie Tom gegen meinen Willen gehandelt hat und ich gezwungen bin, diese Entscheidung zu treffen.

Ich habe gesagt, dass wir kein Sex an diesem Wochenende haben dürfen.

Ich habe es gesagt. Mehrfach.

Aber ich habe mich nicht gewehrt.

Für einen Moment schließe ich die Augen, versuche die Erinnerungen an die Hochzeit abzuwenden, aber sie sind dennoch da.

Das Gefühl, wie meine Haut über die Laken kratzt.

Wie ich innerlich schreie und weine, und mein Körper sich doch nicht zur Wehr setzt.

Wie es schmerzt innen und außen und ich danach von ihm liegen gelassen werde wie ein Sack Müll.

Zum ersten Mal spüre ich, wie Wut in mir aufsteigt darüber und ich bin mehr als gewillt Tom dafür die Schuld zu geben, dass ich heute hier sitze und diesen verdammten blauen Stressball auseinanderreiße, statt ihn zu drücken.

„Oh, Sie sind wohl sehr aufgeregt", begrüßt mich der Narkosearzt mit einem Blick auf den zerfetzten Ball in meinen Händen, dessen aufgedrucktes Gesicht nun Mund und ein Auge fehlen.

„Keine Sorge, aber den muss ich Ihnen jetzt leider abnehmen." Ich gebe ihm die blauen Schaumstoffreste und er bereitet meinen Arm vor.

„Ich lege Ihnen jetzt den Zugang, ist noch alles in Ordnung soweit?" Ich nicke, aber meine Unterlippe zittert und ich spüre, wie die Wut der Angst weicht.

„Großartig. Sagen Sie, Frau Sailer, was machen Sie gern außerhalb der Schule?"

Ich überlege, kann aber nichts finden. Alles, was ich in den letzten zwei Jahren gerne gemacht habe, habe ich nur deswegen gemacht, weil Tom sie gemacht hat oder gut fand.

Ich schüttele den Kopf.

„Ach, dann denken Sie einfach daran, wie Sie am Strand sitzen, ein gutes Buch lesen und sich entspannen, ja?" Ich nicke wieder. Ein Buch. Lucien.

„Spüren Sie die warme Sonne auf Ihrer Haut oder das kalte Wasser, je nach dem, was Ihnen lieber ist."

„Wasser", bringe ich noch heraus, dann wird alles schwarz.


*


„Sie sind wieder unter uns. Großartig. Ruhig, ruhig, ich bringe Ihnen etwas Tee und zu Essen." Es ist eine sanfte Stimme, aber es dauert ein wenig, bis mein Sichtfeld scharf wird.

Meine Augen suchen nach etwas Bekanntem, blieben aber an meiner Bettdecke hängen. Vorsichtig hebe ich sie an und erkenne, dass mir eine durchsichtige, aber bequeme Unterhose mit einer bestimmt drei Zentimeter dicken Binde angezogen wurde.

Mit jeder Sekunde, die mein Kopf klarer wird, fällt mir mehr auf; das flackernde Licht, die Vorhänge, die die Betten voneinander abtrennen wie in einem Horrorfilm, der Nachttisch, auf dem Tabletten liegen, das krampfartige Stechen in meinem Unterbauch.

Die Frau kommt mit einem Tablett zurück, auf dem eine dampfende Tasse Früchtetee, Zwieback und Salzstangen auf meinen hungrigen Magen warten.

„Wenn Sie Schmerzen haben, dürfen Sie gern eine Tablette nehmen", sie deutet auf den Nachttisch.

„Die zweite ist für später. Sie werden noch ungefähr zwei Wochen Schmerzen spüren und es kann auch zu Blutungen kommen. Es sollte aber immer weniger werden. Auf dem Zettel finden Sie alle Informationen auch noch einmal schriftlich."

„Ich würde gern Malte anrufen", sage ich, wobei mir allmählich bewusst wird, dass ich nicht weiß, wo mein Handy ist, ich seine Nummer nicht auswendig kann und dass sie Malte höchstwahrscheinlich gar nicht kennt.

„Alles zu seiner Zeit. Sie müssen erst aufessen", antwortet sie mit einem beruhigenden Lächeln.

Obwohl mein Magen knurrt, ist mir doch schlecht bei dem Gedanken, jetzt etwas zu essen.

Vorsichtig greife ich stattdessen nach der Tasse und puste ein wenig gegen den aufkommenden Dampf. Er ist heiß und einzelne Früchte kann ich auch nicht herausschmecken, aber er sorgt für eine wohlige Wärme in meinem Bauch, die ich gern entgegennehme.

„Sie haben ja noch gar nichts gegessen", die Frau sieht mich besorgt an. „Sie müssen wirklich etwas essen. Sie sitzen schon seit einer dreiviertel Stunde vor Ihrer Tasse Tee. Ist die wenigstens leer?" Sie klingt nicht vorwurfsvoll, sondern wie eine typische Großmutter, die sichergehen möchte, dass man auch noch das dritte Kuchenstück isst und nicht von den Rippen fällt.

„Okay", stimme ich zu und versuche mich, wie zum Beweis, an einem Bissen Zwieback. Die Frau lächelt.

„Super, ich schau in zehn Minuten nochmal nach Ihnen." Ich nicke, aber sobald sie sich umdreht, spucke ich den Bissen auf den Teller zurück. Es ist eine durchweichte Masse, die einem Zwieback nicht mehr im Geringsten ähnelt. Es fühlt sich nicht richtig an, etwas zu essen, überhaupt mehr in die Nähe meines Bauches zu lassen als Wasser mit Früchten.

Ein Krampf durchzuckt meinen Unterbauch.

Hilfesuchend sehe ich zu den Tabletten, strecke meine Hand danach aus und lasse sie doch wieder sinken.

Nein.

Es fühlt sich nicht richtig an. Ich habe diese Entscheidung gefällt. Ich muss mit den Konsequenzen, den Schmerzen leben. Ich atme tief durch, aber die Krämpfe werden nur schlimmer, weswegen ich mich zusammenkrümme wie der Embryo, den ich mir herausnehmen lassen habe.

„So, wie sieht es bei Ihnen", ich höre, wie sie scharf die Luft einzieht, und sehe zu ihr auf. „Meine Güte, Sie sehen gar nicht gut aus. Nehmen Sie unbedingt eine Schmerztablette, dafür sind die da."

Ich schüttele den Kopf, während ich weiterhin mit verschränkten Armen gegen meinen Bauch drücke, um die Krämpfe so hoffentlich unterdrücken zu können.

Sie beugt sich zu mir runter.

„Hey, hör' mal. Ich weiß, dass eine Ab...das sowas nicht einfach ist und du wahrscheinlich denkst, dass die Schmerzen eine gerechte Strafe dafür sind. Aber du hast nichts falsch gemacht. Es ist okay, dass du hier bist. Und es ist okay, wenn du eine Schmerztablette nimmst oder etwas isst."

Sie streicht über meine Schulter, während mir meine Gesichtszüge entgleisen und ich wieder anfange zu weinen und so genervt von mir selbst bin, dass ich im gleichen Moment verärgert kichere.

„Tut mir leid, dass ich weine", lache ich.

„Muss es nicht", sie streicht weiter über meinen Oberarm, während sie mit der anderen Hand die Tablette aus der Packung drückt und mir hinhält: „Hier."

Prüfend sehe ich sie an, aber sie nickt mir aufmunternd zu. Also nehme ich die Schmerztablette und schlucke sie mit dem restlichen Früchtetee herunter.

„Ich hol dir noch etwas Tee und wenn ich wiederkomme, ist mindestens ein Zwieback gegessen, klar?" Sie grinst mich tadelnd an und ich schniefe, nicke aber.

Als sie wiederkommt, ist der Teller leer. Es sind ja auch nur zwei Zwieback und ein paar Salzstangen gewesen. Es fühlt sich immer noch nicht richtig an, meinen Bauch in irgendeiner Weise zu füllen, aber der Hunger hat sie schlussendlich doch eingetrieben.

Sie nickt stolz, dann holt sie mir mein Handy und erlaubt mir, Malte anzurufen.

„Alles in Ordnung?" Malte beäugt mich mit einem kritischen Blick, wie ich langsam versuche die Treppen hinunter zu torkeln. Sein Arm packt meinen und gemeinsam schaffen wir es irgendwie, die Stufen zu überwinden.

„Mann, hätte ich gewusst, dass einen das so mitnehmen kann, hätte ich dir einen Rollstuhl mitgebracht." Ich lache sanft, was leichte Krämpfe durch meinen Unterbauch schickt.

„Es ist nur die Nachwirkung der Narkose, wird schon wieder." Malte führt mich zu seinem Auto, hilft mir beim Einsteigen und sieht mich dann noch eine Weile an.

„Brauchst du noch irgendwas?"

„Ich will nur schlafen", antworte ich erschöpft, bevor Malte den Zündschlüssel dreht.

*

Nachdem die Blutung eine Woche später nachlässt, besuche ich Yasmin, eine alte Freundin, die vorletztes Jahr die Schule abgebrochen hat. Wir haben uns dadurch und durch die Beziehung mit Tom aus den Augen verloren. Aber laut Instagram besitzt sie eine eigene Tattoomaschine und freut sich immer, wenn sie jemanden zum Üben haben darf für ihre Ausbildung.

„Oh mein Gott, hey, Katie! Wie geht's, wie steht's?" Ihre quiekende Stimme schickt mir eine leichte Gänsehaut über den Rücken, dennoch muss ich lächeln.

Sie drückt mich an sich und ich genieße die Körpernähe, die mir seit der Trennung zu Tom so fehlt.

„Was kann ich für dich tun?", fragt sie mit einer einladenden Geste in ihre WG.

„Ich", ich schlucke, „wärst du vielleicht bereit, mir ein Tattoo zu stechen?" Yasmin hebt die linke Augenbraue.

„Ich bezahle das natürlich auch", füge ich schnell hinzu, bevor sie antworten kann. Aber sie lacht und schlägt mir auf die Schulter.

„Das hätte ich ja niemals von dir erwartet, Katie. Aber klar, komm mit!" Sie zieht mich ins Wohnzimmer, wo ihr Mitbewohner gerade eine Orange tätowiert.

„Hab's schon gehört", grummelt er und hört augenblicklich auf.

„Koda will auch tätowieren lernen", erklärt Yasmin, „du hast also sogar die Auswahl zwischen ihm und mir. Ach was, was sage ich da? Wir wissen alle, dass du mich wählen würdest."

Koda sieht mich abwartend mit seinen kristallblauen Augen an und ich zucke entschuldigend mit den Schultern.

„Ich kenne dich nicht, nicht böse gemeint." Meine Worte bringen ihn zum Grinsen und er verschwindet mit einem Zwinkern in meine Richtung aus dem Wohnzimmer. Für das, was ich mir überlegt habe, und die Stelle, die ich mir ausgesucht habe, ist es mir sowieso lieber, wenn Yasmin das macht.

Ich zeige ihr die Schriftart, die ich gern hätte und den Ort, wo sie tätowieren soll, weswegen Yasmin mich skeptisch beäugt. Sie mustert mich von oben bis unten.

„Du bist irgendwie anders."

Aber ich antworte nicht, sage ihr nicht, was in den letzten Monaten alles passiert ist. Sie würde über Tom herziehen, was wahrscheinlich gerechtfertigt ist, aber das könnte ich im Moment nicht durchstehen. Ich will das Tattoo für mich, nicht für ihn.

Es ist meine Entscheidung. Es tut mir leid, was ich gemacht habe. Deswegen will ich es.

Wenn ich schon keinen Grabstein haben kann, um meine Trauer zu überwinden, dann wenigstens diese Erinnerung an das, was hätte sein können.

„Willst du das wirklich?", fragt Yasmin noch einmal, als meine Haut bereits rasiert und ihre Tätowiernadel bereit ist. Ich nicke.

„Sagst du mir auch, was es zu bedeuten hat?" Ich schüttel den Kopf.

Sie zuckt mit den Achseln.

„Okay, dann mal los."

Die Schmerzen sind nicht so schlimm, wie ich es mir ausgemalt habe, es ist, als würde sie meine Haut epilieren. Immer und immer wieder. Nach knapp zwei Stunden ist sie fertig.

„Alles klar, sieh's dir mal an." Benommen stehe ich auf, weil nach so lange still liegen meine Beine vergessen haben, wie ihre Kniegelenke funktionieren. Yasmin stützt mich auf dem Weg zum Spiegel.

Der Schriftzug in weißer Farbe ist wunderschön, die einzelnen Buchstaben ineinander verwoben, aber doch so, dass es auf den ersten Blick nicht wie ein Name aussieht. Genau, wie ich es wollte. Nur ich sollte wissen, was es eigentlich bedeutet.

Luciens Name würde wie eine Narbe unter meiner linken Brust pranken und ich würde das Geheimnis hüten.

Für immer.

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