Ein Dschungel im Zoo
Die Nacht bei Darja wende ich mich nur unruhig hin und her und als es endlich Morgen ist, suche ich bei Facebook nach Tomate. Der zweite Treffer lässt mich fündig werden.
„Was tust du da?" Erschrocken drehe ich mich zu Darja um, die mir über die Schulter blickt. „Aha", sagt sie nur mit einem vielsagenden Blick und verschwindet ins Bad.
Soll ich eine Freundschaftsanfrage schicken oder würde das zu aufdringlich wirken? Und wenn ich frage, ob wir uns treffen wollen? Nein. Auch zu aufdringlich.
Ich atme tief durch und tippe meine erste Nachricht und spüre, wie mein Herz augenblicklich schneller schlägt. Darja kommt wieder herein und schaut auf mein Handy.
„Du hast ihm angeboten beim Aufräumen zu helfen?"
„Was ist falsch daran?", frage ich kleinlaut.
„Ehh...alles?!"
„Er hat eh geschrieben, dass die Jungs schon gestern geholfen haben", antworte ich und lege das Handy zur Seite, nur um es direkt wieder in die Hand zu nehmen, als es ein weiteres Mal klingelt. Ein kurzer Glücksschrei entweicht meiner Kehle, was Darja dazu veranlasst mir sofort das Telefon wegzunehmen, nur um dann das gleiche Geräusch wie ich zu machen.
„Aber du kannst trotzdem gern vorbeikommen. Ha! Ich hab' doch gesagt, der steht auf dich. Und du offensichtlich auch auf ihn."
„Pff, das braucht ein bisschen länger als ein Abend und ein paar Kartenspiele."
„Mh-hm", antwortet sie in diesem Ton, der besagt, dass sie mir nicht glaubt. Aber das winke ich mit einem Lächeln ab. Heute werde ich ihn wiedersehen, ganz unverbindlich. Ohne Zwang oder Agenda. Ich will ihn nur besser kennenlernen, verstehen, was hinter diesen funkelnden Augen liegt. Deswegen bin ich auch nicht aufgeregt, als ich in die Bahn steige und zu ihm fahre.
Der Weg ist nicht weit und an der Bahnhaltestelle wartet er auf mich. Ein grünes Shirt mit V-Ausschnitt betont seine Augen. Ein Windstoß bringt seine Haare ein wenig durcheinander, aber als ich ihn zur Begrüßung umarme, rieche ich nur seinen sanften Geruch, gemischt mit den des Nadelwaldes von seinem Deo.
Wir gehen nebeneinander die Stufen der Bahnstation hinunter und obwohl wir nicht Hand in Hand gehen, so streifen sich unsere Handrücken doch bei jedem Schritt. Wie zwei Magneten, die sich immer wieder zueinander ziehen, berühren wir uns und jedes Mal überlege ich, ob ich nicht doch nach seiner Hand greifen sollte. Wäre das zu aufdringlich?
Ich kenne ihn ja kaum, nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Da kann ich nicht einfach seine Hand nehmen. Oder?
Nein. Ich schüttele leicht den Kopf.
„Alles in Ordnung?", beunruhigt sieht Tomate zu mir herunter, wodurch ihm vereinzelte Strähnen in die Stirn fallen.
„Ja, ja. Alles gut. Ich habe nur gedacht, dass ich ganz schön aufdringlich war."
„Aufdringlich?"
„Ja, dich anzuschreiben, dir beim Aufräumen zu helfen und", die Worte bleiben mir im Hals stecken, denn jetzt, wo ich es laut ausspreche, merke ich, wie billig das klingt. Beim Aufräumen helfen. Da hätte ich ihm auch gleich mit einem String zuwinken können.
Wahrscheinlich hat er zugesagt, weil er genau das denkt, dass ich einen Booty Call am Morgen gemacht habe. Verdammt.
„Alles gut, ich wollte dich auch wiedersehen", er zwinkert mir zu und ich spüre augenblicklich, wie meine Wangen heiß anlaufen. „Aber aufgeräumt ist es schon. Die Jungs haben gestern noch geholfen."
Ich nicke abwesend, weil mein Kopf nur noch daran denken kann, was wohl in seinen Gedanken abgeht. Will er mich wiedersehen oder will er mich eigentlich nur nackt sehen? Wäre ich bereit dafür, wenn er nur das Eine will?
Ein dumpfer Schmerz macht sich in meiner Magengrube bemerkbar, als hätte mir jemand hineingeschlagen. Mir wird übel, als wir zusammengedrängt im Fahrstuhl seines Hauses stehen, der wohl eher für ein Kleinkind, statt ausgewachsenen Personen geeignet ist.
Tomate lächelt mich an, bevor er die Haustür aufschließt und nachdem wir einige Minuten stumm nebeneinanderstehen und er nicht versucht, mich in eine Ecke zu drängen und zu küssen, lässt die Übelkeit nach. Meine Muskeln entspannen sich nacheinander, ohne Eile.
Ich bin nur hier, um ihn näher kennenzulernen. Später vielleicht, irgendwann vielleicht. Ja, dann vielleicht könnte...ich schlucke.
„Also, wie du siehst, ist alles schon aufgeräumt", Tomate zeigt auf das Wohnzimmer, in dem nun ein Vogelkäfig ist, der gestern definitiv noch nicht dort stand.
Ich folge ihm durch die Wohnung in sein Zimmer, das genau so ist, wie ich es von jedem Typen erwarten würde. Seine Möbel bestehen aus einem Schreibtisch und einer Schlafcouch mit schwarz-roter Bettwäsche und irgendwelchen asiatischen Schriftzügen darauf. Da bleiben nicht viele Sitzmöglichkeiten übrig.
„Was spielst du?", ich deute auf den PC mit zwei Bildschirmen und der leuchtenden Tastatur.
„Hauptsächlich LoL." Mein Blick verrät ihm, dass ich keine Ahnung habe, was er meint, sodass er hinzufügt: „League of Legends, ein Online Spiel."
„So ein Shooter-Ding?"
„Nee, nicht so ganz."
„Zeigst du's mir?" Seine Augen weiten sich für einen Moment, als wäre das das Letzte, was er aus meinem Mund erwartet hätte, aber dann schüttelt er lächelnd den Kopf.
„Du bist unglaublich, weißt du das?"
„Ich bin schon ziemlich cool", erwidere ich mit einem Grinsen und entlocke ihm damit ein Lachen. Mit einer Handbewegung bedeutet er mir, sich auf den Stuhl zu setzen. Er zeigt mir die unterschiedlichen Charaktere, die man spielen kann, und ich wähle eine Frau, die mir ähnlich sieht. Ihre Fähigkeiten sind mir ziemlich egal und eigentlich auch irrelevant, weil es keine zwei Minuten dauert, bis ich das erste Mal sterbe.
„Okay, ich denke, das ist einfach nichts für mich", sage ich nach einigen weiteren gescheiterten Runden.
„Was machst du gern?" Er dreht den Stuhl zu sich und setzt sich auf die Couch, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.
„Naja, ich lese gern, male, schreibe. Sowas halt."
„Hey, vielleicht kannst du mir ja mal was schreiben." Ich lache nervös auf.
„Ja, wenn mich die Muse küsst, sag ich dir Bescheid."
„Dann lesen."
„Lesen?"
„Ja, zum Einschlafen. Hörst du keine Gute-Nacht-Geschichten mehr?"
„Ehm, manchmal."
„Ich mag deine Stimme. Ich würde mich freuen, wenn du mir irgendwann mal eine vorliest." Ich bin zu perplex, um sofort zu antworten, weil meine Gedanken bereits drei Schritte weitergehen.
„Ich geb' dir einfach meine Nummer und wir können ja dann telefonieren, wenn du willst." Ach, daher weht der Wind, ich atme erleichtert aus.
„Gern."
„Was magst du noch?"
„Ehm, keine Ahnung. So vieles, da ist es wahrscheinlich leichter zu sagen, was ich nicht mag."
„Und was wäre das?"
„Sushi", antworte ich schneller als beabsichtigt.
„Wow, diese Antwort war wohl vorbereitet", ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht.
„Möglich. Was sind das alles für Bilder?", stelle ich die nächste Frage und deute auf die verschiedenen Poster an der Wand.
„Aus verschiedenen Animes. Das dort ist von Bleach, den habe ich als Kind immer gern gesehen und das da ist von Tokyo Ghoul, etwas blutrünstiger." Er stockt, mustert mich einen Moment. Ich kenne den Ausdruck auf seinem Gesicht, er will sichergehen, dass er mich damit nicht verschreckt.
„Ich lese zurzeit Fairy Tail", antworte ich deshalb und warte auf seine Reaktion. Seine Schultern entspannen sich sichtlich und sein Gesicht erhellt sich wieder.
„Den wollte ich auch sehen, aber es sind so viele Folgen."
„Ich wusste gar nicht, dass es davon auch einen Anime gibt." Seine Augen weiten sich und sofort dreht er den Schreibtischstuhl wieder in Richtung Schreibtisch, um mir im Internet den Opening-Song und den Trailer zu zeigen. Ich bin begeistert und zeige ihm bei Google den ersten Manga, den ich gelesen habe. Daraufhin zeigt er mir weitere Trailer bis wir zur Musik übergehen und so verbringen wir die nächsten zwei Stunden.
Plötzlich streicht etwas Weiches um meine Beine entlang und ich erkenne eine orange Katze, die sich genüsslich an meine Schienbeine kuschelt.
„Das ist Shir Khan."
„Habt ihr auch einen Bagheera?", frage ich lachend und seine zusammengepressten Lippen verraten es mir.
„Nicht dein Ernst?" Er vergräbt für einen Moment sein Gesicht in seinen Händen und hebt dann einen Zeigefinger.
„Nur für's Protokoll, das war nicht meine Idee." Ich lache und folge ihm auf der Suche nach Bagheera, der sich in der Badewanne zu einem schwarzen Kuschelball zusammengerollt hat. Sein Gesicht hat einen gelangweilten Ausdruck als Tomate ihn hochhebt und ich streiche vorsichtig über seinen Kopf.
„Das ist noch nicht alles", ich folge ihm in ein weiteres Zimmer, das wahrscheinlich seinem Bruder gehört. Auf einem Tisch befindet sich ein großer Glaskasten, in dem eine Maus fröhlich durch die Tunnel läuft.
„Ihr habt ja einen richtigen Zoo hier."
„Dabei kennst du unseren Hund noch gar nicht."
„Ihr habt auch noch einen Hund?" Er zuckt entschuldigend mit den Schultern.
„Ich hoffe, du bist nicht allergisch." Ich schüttele lachend den Kopf.
Wir kochen gemeinsam und er erzählt mir von seinem kleinen Bruder Leon, der mit seinen Eltern für das Wochenende bei den Großeltern ist.
„Er ist manchmal ein wenig aggressiv und ein Wochenende auf dem Bauernhof meiner Großeltern tut ihm da ganz gut." Ich nicke verständnisvoll und denke an meine Eltern, denen ein Bauernhofbesuch sicherlich auch guttun würde.
„Was ist?", Tomate sieht mich mit einem Blick an, den ich nicht ganz deuten kann. Ich schlucke und schüttele dann leicht den Kopf.
„Nicht so wichtig."
„Sicher?"
Ich antworte nicht, weil ich es nicht weiß.
„Wenn du doch reden willst, bin ich da, okay?" Ich nicke, sehe ihn an und erkenne in seinen Augen pures Mitgefühl, als würde er wissen, was bei mir zu Hause abgeht und warum ich nicht gern dort bin. Als würde er wissen, wie sich dieses beklemmende Gefühl in mir ausbreitet, sobald ich mich meinem zu Hause nähere in dem Wissen, was folgen wird. Und mit einem Mal will ich es ihm erzählen, alles.
Weil ich mir sicher bin, dass er es verstehen würde, dass er mich nicht verurteilen würde, dass er einfach nur zuhören und für mich da sein würde.
Also sage ich das, was ich seit zwei Jahren mit mir herumtrage und noch nie jemandem gesagt habe: „Ich bin schuld daran, dass meine Eltern sich getrennt haben." Er sagt nichts, er wartet einfach ab.
„Mein Vater hat meine Mutter betrogen und als ich es herausgefunden habe, mich gebeten, es geheim zu halten." Die Worte sprudeln aus mir heraus, ohne, dass ich es aufhalten kann und obwohl ich jemanden, den ich gerade erst kennengelernt habe, nicht meine ganze Lebensgeschichte erzählen würde, will ich doch, dass er es weiß.
„Ich meine, ich war dreizehn und mein Vater der Nabel meiner Welt. Meine Mutter war immer die Böse, bei der du aufpassen musstest, wo du hintrittst, weil sie so ein Minenfeld war. Immer. Aber", der Kloß in meinem Hals wird mit jedem Wort dicker und ich bekomme ihn nicht mehr heruntergeschluckt. Stattdessen wandern Tränen meine Wangen hinunter und Tomate tupft sie vorsichtig trocken. Ich wische die Restlichen weg und lächele.
„Ist auch nicht so wichtig."
„Sag das nicht, für dich scheint es wichtig zu sein." Ich lächele und bezweifle, dass es wirklich nach einem Lächeln und eher nach einer verzerrten Grimasse aussieht.
„Hast du eine Zigarette für mich?" Er sieht mich überrascht an, fragt aber nicht. Wahrscheinlich versteht er, dass es manchmal Situationen gibt, in denen Nikotin beruhigend wirken kann und es einem hilft, den Kopf wieder klar zu kriegen. Eine Zeit stehen wir wieder schweigend an der Brüstung des Balkons. Diesmal ein wolkenloser Himmel vor uns. Doch dann entscheide ich mich, das bedrückende Schweigen aufzulockern.
„Sag mal, das frage ich mich schon die ganze Zeit...dein Name ist doch nicht wirklich Tomate." Er sieht mich einen Moment ernst an und kurz habe ich Angst, ihn damit beleidigt zu haben, aber dann grinst er.
„Nein, es nennen mich alle nur so. Eigentlich heiße ich nur Tom, aber weil mein Nachname Martens ist, klingt das sehr nach Tomate und keine Ahnung, ich glaube in der sechsten Klasse oder so hat das angefangen und irgendwann fand ich es cool und habe mich dann nur noch so vorgestellt."
Wir verbringen weitere Stunden, in denen wir über Gott und die Welt reden und schlussendlich in einen kleinen Kissenkrieg ausbrechen, als es an der Tür klingelt. Sofort halte ich inne, habe aber nicht mit Tomate gerechnet, der mir gnadenlos das Kissen über den Kopf zieht.
„Na warte!" Ich revanchiere mich ein letztes Mal, bevor er aufsteht, um die Tür zu öffnen. Ein schlanker Typ, ein wenig kleiner als Tomate, kommt in den Flur und winkt mir höflich zu. Dann wirft er einen fragenden Blick zu Tomate.
„Wir brauchen noch ein paar Unterschriften, ich hab' alle mitgebracht", sagt er, während er an mir vorbei ins Wohnzimmer geht und den gleichen Zettel in mehrerer Ausführung auf den Couchtisch legt. Tomate nimmt meine Hand und zieht mich mit ins Wohnzimmer.
„Das ist übrigens Flo."
„Ja, hey, 'tschuldige, hab' grad einfach nicht dran gedacht", sagt Flo, ohne von seinem Handy hochzuschauen.
„Ich kann dich ja mitnehmen, aber ich soll auch Ivan mitnehmen und mehr als zwei geht nicht."
„Das habe ich schon geklärt, Maurice nimmt Jan und Fynn und Elias nimmt dann Boris. Alles, was wir noch brauchen", er durchsucht sein Handy, und zeigt es dann siegessicher Tomate, „sind ein paar Unterschriften."
„Können die das nicht selbst unterschreiben?"
„Wir treffen uns dort, Jan und Fynns Eltern wissen nichts und Maurice hat keinen Drucker."
„Sein Ernst?" Tomate reibt sich sein Gesicht und atmet tief durch, dann nimmt er das Handy in die Hand und studiert das Bild der Unterschrift. Mit einer schnellen Handbewegung schreibt er die Unterschrift ab, aber es sieht nicht im Ansatz so aus wie auf dem Foto.
„Ich geh' dann mal noch eins drucken", Flo verschwindet aus dem Wohnzimmer und Tomate nutzt das bereits beschriebene Blatt, um weiter die Unterschrift darauf zu üben.
„Wofür braucht ihr die?"
„Wir wollten in einen Club heute Abend und einige brauchen eben 'nen Muttizettel", er holt tief Luft und ruft quer durch die Wohnung: „weil einige von uns noch nicht achtzehn sind!"
„Halt's Maul!", höre ich Flo von irgendwo rufen und beide brechen in Gelächter aus.
„Also, ich kann das relativ gut", setze ich an und würde am liebsten den Gedanken beiseiteschieben, warum ich seit letztem Jahr das Unterschriftenfälschen perfektioniert habe. Tomate sieht mich überrascht von der Seite an, hält einen Moment inne, bevor er sagt: „Das musst du nicht."
„Ich kann's gern versuchen, echt. Ich mach das...hab das schonmal gemacht", sage ich und verdränge den Gedanken daran, dass meine Mitschüler mir bereits Geld bieten, weil ich die Unterschrift ihrer Eltern mittlerweile aus dem Effeff fälschen kann. Tomate zuckt mit den Achseln und rückt ein wenig zur Seite, damit ich auf der Couch neben ihm Platz nehmen kann. Unsere Oberschenkel berühren sich und wieder durchströmt mich eine wohlige Wärme. Gleichzeitig irritiert es mich, ihm wieder so nahe zu sein, und ich schließe kurz die Augen, um mich zu konzentrieren. Tomate vergrößert das Bild für die Unterschrift und ich pause es mit einem Bleistift leicht ab, bevor ich mit dem Kugelschreiber die schwungvollen Bewegungen nachziehe und die Bleistiftreste vorsichtig wegradiere. Tomate sieht sichtlich beeindruckt auf die Unterschrift und starrt mich noch eine Weile an, als überlege er, ob er fragen soll, entscheidet sich dann aber dagegen.
„Dein Drucker hat kaum Tinte." Zum Beweis hält Flo mehrere Muttizettel hoch, die alle kaum erkennbar oder von Schlieren überzogen sind.
„Scheiße, ja, dann nimm den, der am wenigsten kacke aussieht." Flo nickt und vergleicht die Muttizettel miteinander, währenddessen ich den nächsten Zettel unterschreibe.
„Was...was macht sie da?" Flo's Stimme wandert einige Töne höher als bisher, aber Tomate hält beschwichtigend seine Hand in die Höhe und ich halte in der Bewegung inne, um auf Flos weitere Gedankengänge reagieren zu können. Statt etwas zu sagen kommt er aber näher und sieht sich meine bisherigen Unterschriften an.
„Das ist ja", er begutachtet mich mit einem prüfenden Blick, „gut." Dann sieht er zu Tomate und hebt vielsagend eine Augenbraue.
„Ehrenfrau", sagt Flo da schon und hält mir die Hand für einen High Five hin. Irritiert schlage ich ein, dass es laut klatscht und Flo zwinkert mir zu. „Nice."
„Ich würd' dich ja mitnehmen, aber heute ist Jungsabend, nächste Woche dann", sagt Flo und geht hinaus auf den Balkon, um sich eine Zigarette anzuzünden. Auch Tomate nimmt sich eine und bietet mir seine Schachtel an, die ich dankend ablehne.
„Das ist schwierig", setze ich an und überlege einen Moment, wie ich es am besten formulieren soll, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen. „Weil ich ab nächster Woche in Chicago bin."
Gut gemacht, Katie.
Tomate lässt seine Zigarette fallen und starrt mich an, ohne auch nur Anstalten zu machen, sie wieder aufzuheben. Für einen Moment wagt es niemand zu atmen und ich unterbreche die Stille, indem ich Tomates Zigarette aufhebe und sie ihm wieder zwischen die Finger stecke. Aber auch darauf reagiert er nicht.
„Chicago, Amerika Chicago?", findet Flo seine Stimme wieder.
„Ja, ich mache einen Schüleraustausch."
„Aber", Tomate räuspert sich, „wie lange?"
„Nur drei Wochen" und bei meinen Worten kann ich sehen, wie Tomates Körper sich augenblicklich entspannt. Er atmet erleichtert aus, nimmt den Blick aber noch nicht von mir. Er kommt einen Schritt zu mir heran, sodass sich unsere Körper nur wenige Zentimeter voneinander befinden und ich seine Wärme wieder spüren kann. Seine Pupillen weiten sich als sie meine treffen und ich halte den Atem an.
Doch dann drückt er seine Zigarette aus und geht wieder ins Wohnzimmer.
„Weißt du, wann deine Bahn kommt?", höre ich ihn von innen rufe und folge seiner Stimme. Währenddessen schaue ich auf meinem Handy nach, kenne die Antwort aber bereits, bevor ich sie sehe. Tomate wohnt auf der ganz anderen Seite der Stadt, ich brauche mindestens neunzig Minuten, wenn nicht zwei Stunden nach Hause und bei mir am Stadtrand fahren die Busse nicht mehr zu dieser Zeit.
„Ich, also, die letzte Bahn fährt in fünf Minuten."
„Das schaffen wir nicht, es dauert mindestens doppelt so lange bis zur Bahnstation", er mustert mich einen Moment und auch in meinem Kopf rattert es nach einer passenden Lösung. „Du könntest hier schlafen", setzt er an und wartet auf eine Reaktion meinerseits. Ich nicke langsam und spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt, wenn ich daran denke, bei Tomate zu übernachten. Das widerspricht jeglicher Vernunft, ich kenne ihn doch kaum. Und dennoch komme ich nicht umher daran zu denken, wie sich seine Nähe richtig anfühlt, wie ich mich in dieser Wohnung wohler fühle als ich es jemals zu Hause getan habe.
„Auf dem Sofa natürlich", fügt Tomate nach meiner langen Denkpause hinzu.
Das klingt vernünftig. Kurzerhand besorgt Tomate Bettwäsche und legt sie ins Wohnzimmer.
„Brauchst du", er kratzt sich am Hinterkopf, „was zum Schlafen oder so?" Ich reiße die Augen auf. Daran habe ich absolut nicht gedacht, aber er hat recht.
„Vielleicht ein großes Shirt oder so?"
„Ja, ehm, klar", er bleibt kurz, wo er ist, fängt sich dann aber wieder und bringt mir ein schwarzes Shirt, das mir beinahe bis zu den Knien reicht. Erst jetzt fällt mir auf, wie viel größer er eigentlich ist. Oder eher gesagt, wie viel kleiner ich bin. Eineinhalb Köpfe sind es bestimmt, schwierig zum Küssen. Ich presse meine Lippen aufeinander, um nicht noch laut auszusprechen, was ich gerade gedacht habe.
„Alles gut soweit?"
„Mh-hm", bringe ich zwischen zusammengepressten Lippen heraus und Tomate hebt fragend eine Augenbraue. Ich ziehe die Mundwinkel auseinander, weil ich es noch nicht wage, den Mund wieder zu öffnen.
„Gut, dann los", sagt Flo und steht bereits angezogen an der Haustür.
„Geh' schon mal vor, ich komm gleich nach", sagt Tomate ohne sich zu Flo umzudrehen. Jetzt bin ich es, die ihn fragend ansieht.
„Ich schreib dir regelmäßig, ob alles in Ordnung ist. Ist es okay, wenn ich einige Türen abschließe?" Tomate holt seinen Schlüsselbund hervor und deutet damit auf einen Raum, den ich bisher noch gar nicht betreten habe. Wahrscheinlich das Schlafzimmer seiner Eltern.
„Du denkst, dass ich 'ne Diebin bin?" Mir entweicht ein ungläubiges Lachen. Tomate ist knapp zwei Köpfe größer als ich und fast doppelt so breit mit Muskeln bepackt. Der könnte mich jederzeit aufhalten, wenn ich mit Diebesgut abhauen wollen würde. Aber ich würde wahrscheinlich auch niemandem vollkommen trauen, den ich erst einen Tag kenne. Ich hebe kurz die Schultern, um sie gleich darauf wieder fallen zu lassen.
„Wenn du so Angst hast, kannst du gern alle Türen verschließen und den Schlüssel verstecken."
„Was ist mit dir? Hast du keine Angst?"
„Wovor?"
„Ich könnte dir schaden, ein Axtmörder sein oder so." Bei seinen Worten entweicht mir ein Kichern.
„Bisher habe ich noch keine Axt gesehen", ich zwinkere ihm zu und entlocke ihm dadurch ein ungläubiges Kopfschütteln vereint mit einem Grinsen, das mein Herz höher springen lässt. Gott, wie sehr will ich einfach nur in seiner Nähe sein und sein Grinsen spüren.
„Von mir aus kannst du auch die Haustür abschließen. Ich habe damit kein Problem." Beim Aussprechen merke ich, dass es die Wahrheit ist. Obwohl wir uns noch nicht lange kennen, vertraue ich ihm. Tomate sieht mich zweifelnd an.
„Aus dem Fenster kann ich eh nicht springen, wir sind hier im fünften Stockwerk", sage ich grinsend und lockere damit die Stimmung ein wenig. Tomate nickt einige Male.
„Okay, ja, du hast recht. Schreib mir, wenn was ist, ja?" Und mit diesen Worten schließt er die restlichen Türen ab und verschwindet mit Flo.
Sofort ziehe ich mir sein Shirt über, kann nicht anders als an seinem Kragen zu riechen. Eine Mischung aus Nadelwald und Vanille. Im Flur finde ich eine seiner Caps und ziehe sie mir über den Kopf. Wirklich schlafen kann ich nicht, aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich es ernsthaft versucht habe.
Ich will ihn wiedersehen, wach sein, wenn er wiederkommt und hören, was er zu erzählen hat, und wenn es nur die Liste der Songs ist, die gespielt wurden. Ich haue mir leicht mit beiden Händen gegen die Wangen.
„Krieg dich wieder ein", sage ich zu mir selbst und atme ein paar Mal tief durch. Ich sollte mich nicht so an jemanden heranschmeißen.
Ein Schlüssel dreht sich in der Haustür und sofort mache ich das Licht aus, kuschel mich unter die Decke auf dem Sofa und lege mich so hin, als würde ich schlafen. Als die Tür aufgeht, merke ich, dass ich immer noch seine Cap auf dem Kopf habe. Aber wenn ich mich jetzt bewege, merkt er, dass ich nur so getan habe. Ich höre, wie die Schritte leise näherkommen, wahrscheinlich hat er seine Schuhe schon ausgezogen und schleicht jetzt auf Socken über das Parkett. Vorsichtig öffne ich die Augen und sehe gerade noch, wie er am Wohnzimmer vorbeigeht und seine Zimmertür öffnet. Vielleicht hätte ich mich doch nicht schlafend stellen sollen.
Aus Tomates Zimmer ertönt ein lautes Poltern, gefolgt von einem leisen „Scheiße." Ich halte mir die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen, und verharre so einige Momente. Tomate steht im Wohnzimmereingang mit einer Decke und einem Kissen unter dem Arm.
„Sorry", sagt er, als er mich sieht.
„Kein Ding, ich habe eh noch nicht wirklich geschlafen."
„Achso", er bleibt einen Moment im Türrahmen stehen, doch dann führt er seinen Plan fort und legt sich vor das Sofa auf den Boden.
„Hübsche Cap", grinst er.
„Oh, ja, entschuldige." Ich nehme sie vom Kopf und halte sie ihm hin, aber Tomate lehnt ab.
„Sie steht dir sowieso besser als mir." Er wendet sich auf den Bauch und ist so mit dem Gesicht zum Fenster gedreht. Entgegen meiner Vernunft lege ich die Cap auf den Couchtisch und werfe Decke und Kissen auf den Boden neben Tomate. Erschrocken dreht er sich zu mir um.
„Wenn du auf dem Boden liegst, liege ich hier auch." Es ist vielleicht die dümmste Entscheidung, die ich jetzt treffen kann, vielleicht auch die beste. Aber ich will die Nähe und das Gefühl, das sie in mir auslöst, solange auskosten, wie es mir möglich ist. Langsam streckt Tomate seine Hand nach meiner Wange aus, streicht sanft hinüber und nimmt dann eine meiner blonden Strähnen zwischen seine Finger.
„Amerika also."
„Ja."
„Aber wirklich nur für drei Wochen?"
„Ja."
„Ich hatte schon Angst, Katie. Ich habe dich gerade erst kennengelernt und dich ungern jetzt schon verloren." Er lässt meine Strähne los und wir sehen einander eine Weile in die Augen, bevor er noch einmal das Wort ergreift.
„Also sehen wir uns im November wieder?"
Ich nicke.
Heyho Tomato,
viele Grüße aus Chicago!
Ich weiß, wir schreiben fast jeden Tag und du kennst so gut wie alles, was ich hier bereits erlebt habe, einschließlich meiner Blamage in der Kirche und beim Kürbisse schnitzen, aber diesmal wollte ich dir einen richtigen Brief schreiben, meine Gedanken mal zu Papier bringen, denn... seit einigen Tagen meldest du dich nicht mehr. Und du wolltest ja unbedingt etwas von mir lesen. Ich habe dir ja gesagt, dass du etwas Richtiges lesen kannst, wenn die Muse sich bei mir meldet, auch wenn es anders ist als geplant... deine Stille ist wie Steine werfen, direkt durch mich hindurch und es hinterlässt ein Loch im Innern. Ich kann es nicht so richtig in Worte fassen, was ich aber weiß, ist, dass ich deine Stimme gern hören würde. Am Donnerstag fliege ich zurück und hoffe, dass wir uns vielleicht am Flughafen sehen, denn glaube mir. Ich würde um alles in der Welt lieber dir dort begegnen als meinem Vater und seiner neuen Freundin. Sie ist ohne ein Wort einfach eingezogen, während ich am anderen Ende der Welt feststecke! Kann man das glauben?!
Und von all jenen, mit denen ich darüber reden könnte, bist du derjenige, mit dem ich reden möchte...
Ich weiß nicht, warum du dich nicht meldest. Habe ich irgendwas Falsches gesagt? Ich dachte, dass du diese Nähe auch gespürt hattest, als ich bei dir war... ich sage ja nicht, dass wir sofort heiraten müssen oder so. Ich fände es nur schön, herauszufinden, wohin es führen kann. Und wenn es nur eine Freundschaft ist! Du bist mir in den letzten Wochen wirklich wichtig geworden und ich würde dich ungern verlieren, nur weil ich vielleicht zu schnell gedacht habe... also bitte... melde dich, ja?
Mein Flug ist der KL 1771 und ich komme um 15:05 Uhr an. Ich habe bestimmt Jetlag, aber... ich würde dich echt gern sehen...
Katie
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