Ein Berg Sorgen

TRIGGERWARNING für  Gaslighting und Darstellung von Symptomen einer psychischen Erkrankung.

Eine gekürzte Fassung für das Kapitel ohne Trigger im folgenden Kapitel "ZSM"

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Seitdem ich die drei magischen Worte gesagt habe, kann ich gar nicht mehr aufhören, sie zu sagen. Es ist wie ein Befreiungsschlag gewesen, wie ein großer Rucksack, den ich nun nicht mehr tragen muss. Mit einem Mal bin ich schneller unterwegs, fokussierter, energiegeladener. Die ganze Welt fühlt sich nicht mehr so groß an, sondern gerade groß genug, dass ich sie tatsächlich bereisen könnte. Überall. Zu Fuß.

Es ist ein traumhaftes Gefühl von Freiheit und Selbstbewusstsein, von dem ich mich fortan nähre wie ein Schmetterling. Ich war eine Raupe, gefangen in meinem Kokon und diese Worte waren mein Schlüssel nach draußen. Es ist eine ganze Verwandlung, die ich so nicht erwartet habe, und mir gefällt jeder einzelne Augenblick davon.

Mir ist es egal, dass meine Noten wieder absacken, weil ich seltener zur Schule gehe, um wieder mehr Zeit mit Bigfoot zu verbringen.

Mir ist es egal, dass meine Schulfreunde sich fremd anfühlen und wir nichts mehr haben, worüber wir miteinander reden können, denn es fühlt sich alles so unbedeutend an im Vergleich zu dem, was ich fühle, wenn ich mit ihm bin.

Ich will einfach nur bei ihm sein, jede Sekunde, in der es möglich ist, und dafür setze ich alles, was ich habe.

Meine Oma hat mir einen Ring geschenkt, den sie schon von ihrer Mutter bekam, und diesen trage ich jetzt am rechten Ringfinger wie eine Art Verlobungsring. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, muss ich daran denken, wie Bigfoot hinter mir in der Juwelierabteilung gestanden hat, wie sein warmer Atem mich gestreift hat.

Es ist nicht wichtig, wann wir heiraten oder wann ich einen richtigen Ring von ihm bekomme, solange wir beieinander sind, reicht mir auch ein Plastikring aus einem Kaugummiautomat als Symbol für das, was noch kommt.

Ich warte oben an einem Treppengeländer darauf, dass Bigfoots Unterricht vorbei ist. Sein Schulgebäude besteht aufgrund von Renovierungsarbeiten nur aus Containern, die übereinander gestapelt sind. Ich weiß nicht genau, in welchem Container sich sein Klassenraum befindet und so stehe ich sozusagen im ersten Stock außen am Geländer von einem Container, von dem aus ich fast den ganzen Schulhof überblicken kann.

Seine dunklen Haare unter der schwarzen Beanie mit den ganzen Pins daran würde ich überall erkennen. Vor einiger Zeit habe ich durch Zufall einen Pin gefunden, der aussieht wie eine Tomatenscheibe. Natürlich musste ich sie ihm schenken und seitdem prangt sie auf der rechten Seite seiner Beanie, knapp über seiner Augenbraue.

Er ist der Erste, der aus dem Container herauskommt, also atme ich tief durch und nehme meinen ganzen Mut zusammen, um von oben zu ihm runterzuschreien: „Bigfoot!"

Überrascht hebt er den Kopf und sieht sich um, bis er mich entdeckt.

„Ich liebe dich!", rufe ich hinunter und kann bis nach oben sein Lachen hören. Um dem ganzen noch eins draufzusetzen, laufe ich die Stufen hinunter und falle ihm um den Hals, wie wir es damals in diesem Anime gesehen haben.

Obwohl ich um einiges kleiner, dünner und schwächer bin, schaffe ich es doch mittels meines Anlaufs ihn umzustoßen. Wir landen beide auf dem Boden, wobei Bigfoot mit dem Rücken auf Asphalt landet, ich mit meinem Bauch auf seinem. Er stöhnt auf.

„Entschuldige", sage ich, kann mir aber ein Kichern nicht verkneifen und auch Bigfoot steigt langsam mit ein, wobei sein Lachen von einigen Hustern unterbrochen wird.

„Wer hätte gedacht, dass sich in deinem Körper solche Kraft versteckt?"

„Bigfoot", ziehe ich seinen Namen in die Länge und boxe ihm spielerisch in die Seite. Er umarmt mich lachend und flüstert mir dann ins Ohr: „Ich liebe dich auch, Katie. Jetzt. Heute. Immer."

Die Worte hallen in meinem Kopf wie ein Ohrwurm. Es ist wie ein Liebeslied, das wir zwei uns ausgedacht haben, eine Hommage an mein Gedicht, das ich ihm geschrieben habe.

Ich drücke seine Hand leicht, was er mit einem Lächeln erwidert. Seine Nähe fühlt sich so gut an, sein Geruch ist mir besser vertraut als irgendein anderer. Wenn es eine Beschreibung für zu Hause geben würde, wäre es diese.

Ich liebe ihn.

Jetzt. Heute. Immer.

Ich lege meine Arme um seinen Hals und setze mich auf seinem Schoß, als wir in seinem Zimmer sind. Küsse ihn am Nacken, führe sie weiter fort Richtung Wange und ende am Mund. Seine Lippen sind voll und weich und schmecken ein wenig nach Pfefferminz. Als hätte er bis eben ein Kaugummi gekaut.

Bigfoot legt seine Hände um meine Taille, seine rechte Hand schiebt sich unter meinen Hintern, um mich noch näher zu ihm zu rücken. Ich tue es ihm gleich, indem ich seinen Oberkörper leicht zu mir drücke, die Hände um seinen Nacken gelegt. Meine Küsse werden fordernder, ich will das hier. Jetzt.

Ich liebe ihn. Jetzt.

Ungeduldig ziehe ich ihm das Shirt über die Schultern und werfe es hinter ihn aufs Bett. Meins folgt keine Sekunde später. Inmitten von Küssen grinsen wir uns an, während seine Hände langsam über meine Brüste fahren.

Es löst ein sanftes Kribbeln aus, gleichzeitig bemerke ich die Hitze zwischen meinen Schenkeln und ich drücke mich noch näher an ihn, spüre seine Erregung und bekomme das beklemmende Gefühl, viel zu viele Klamotten anzuhaben.

Ich öffne seinen Gürtel, während wir aufstehen, um unsere Hosen loszuwerden und uns aufs Bett zu legen. Bigfoot wirft die Decke über uns und ich kuschele mich an ihn heran.

Er küsst mich auf die Stirn und meine Hände fahren über seinen Rücken, seine Taille bis ich bei seinem Schaft hängen bleibe und langsam meine Hand auf und ab bewege.

Als seine Finger vorsichtig zwischen meine Schenkel gleiten, entfährt mir ein Stöhnen. Sofort zieht er die Hand zurück.

Ich öffne die Augen, halte inne in meinen Bewegungen, möchte herausfinden, was ihn plötzlich so aus dem Konzept gebracht hat.

Habe ich ihn aus Versehen zu fest angepackt und verletzt?

„Das ist ja alles ganz nass", murmelt er, während er sich mit einem angewiderten Blick die Hand am Bettlaken abwischt. Dann presst er seine Lippen auf meine, legt sich über mich, dringt in mich ein und scheint die Situation nicht im Geringsten so aufgefasst zu haben wie ich.

Ich bin verwirrt, erinnere ich mich doch an mein erstes Mal, als ich so unsicher war, dass ich so nass geworden war und ich meine Bedenken Yuri schilderte, der mich schief angrinste, mit der Zunge meine Schenkel entlang glitt und dann mit einem Funkeln beteuerte, dass das geil wäre und ich mir niemals etwas anderes einreden lassen sollte.

Yuri und ich hatten großartigen Sex, und ich kann mir niemand besseren vorstellen, mit dem ich mein erstes Mal erlebt habe. Wir waren nie ein Paar gewesen, aber gute Freunde und als wir auf das Thema Sex kamen und ich erzählte, dass ich es noch nie gemacht hatte, war er mehr als verständnisvoll damit umgegangen.

Nie hatte er es direkt angeboten und nie hatte ich direkt gefragt, es hat sich einfach ergeben und bis heute habe ich es nicht bereut.

Bei all dem Sex, den wir hatten, hat Yuri mir Selbstvertrauen gezeigt, dass ich fortan mitgenommen habe.

Doch jetzt in diesem Moment bin ich unsicher. Dieser eine Satz, von der Person, die mir am meisten bedeutet, zersplittert die Erinnerung an Yuri und seine mutmachenden Worte. Mein Körper beginnt unkontrolliert zu zittern noch bevor die erste Träne meine Augen verlässt.

Bigfoot sieht mich überrascht an.

„Alles okay?"

„Ja...ja, ich brauch nur einen Moment", gebe ich zurück und drehe mich unter ihm zur Seite.

Bigfoot wartet geduldig, während ich versuche, meine Tränen unter Kontrolle zu bekommen. Yuri war damals ehrlich gewesen, Yuri hat gesagt, das würde zeigen, dass es mir gefiele, und das mache Männer an. Ich habe Yuri so sehr glauben wollen, weil ich dadurch mit meinem Körper zufriedener war.

Mit so einer Reaktion wie von Bigfoot habe ich nie im Leben gerechnet.

Ist Yuri die Ausnahme?

Hinter mir höre ich Bigfoot, der sich stöhnend ins Bett fallen lässt und sich die Decke überzieht, indem er sie mir ein Stück klaut. Ich habe ihn zu lange warten lassen und damit die Stimmung kaputt gemacht.

Ich winkele die Beine an und umschlinge meine Knie. Ob nun mit oder ohne Decke, ich würde diese Nacht frierend einschlafen, denke ich mir.

Aber es geht nicht.

Ich bekomme sein angewidertes Gesicht nicht aus dem Kopf. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, muss ich daran denken, wie er mich angesehen hat.

Die Nässe ist doch nur ein Zeichen, dass ich bereit war, dass ich den Sex wollte. Wieso hat ihn das so irritiert?

Ich drehe mich zu Bigfoot um, der so laut atmend neben mir schläft, als hätte er eine Bergwanderung hinter sich. Ich seufze.

Dann schicke ich Kilian eine Nachricht, ob bei ihm alles in Ordnung ist, was er mit einem Daumen hoch Emoji beantwortet.

Ein weiterer Blick auf Bigfoot verrät mir, dass er tief schläft und sicher nicht geweckt werden will, also lasse ich ihn schlafen und schleiche mich aus der Wohnung.

Auch wenn Kilian meine Textnachrichten immer mit einem Daumen hoch beantwortet, will ich es doch mit eigenen Augen sehen. Oder vielleicht brauche ich gerade einfach jemand anderen bei mir als Tomate.

Als ich gegen elf Uhr abends nach Hause komme, erwartet mein Vater mich bereits in der Küche. Sein Gesicht ist vor Zorn verzogen, seine Augen eng zusammengekniffen und seine Halsschlagader pulsiert so stark, dass ich selbst an den Schläfen schon herausstehende Äderchen sehen kann.

„Denkst du, das hier ist ein Hotel?" Mit gerunzelter Stirn sehe ich ihn an, weil ich nicht verstehe, was er meint.

„Denkst du, du kannst hier Kommen und Gehen, wann du willst?"

Mein erster Gedanke ist, die Frage zu bejahen, obwohl das alles andere als schlau wäre, also bleibe ich still.

„Ich habe genug davon, ständig von euch als Fußabtreter genutzt zu werden!"

„Was ist denn los?", versuche ich so ruhig, wie möglich, zu sagen, während mein Vater sich weiter in Rage redet, was dazu führt, dass sein Gesicht immer röter wird.

„Ihr lasst überall Lichter an, verwendet den Herd und die Waschmaschine, das ist alles viel zu viel Strom und Wasser! Das kann ich mir nicht leisten, ihr verbraucht zu viel!"

Ich atme erleichtert auf. Diese Diskussion habe ich letztes Jahr schon mit ihm geführt, ich weiß also, wie es ablaufen wird, und das ist das, was mir jetzt Sicherheit gibt.

„Ich werde da in Zukunft besser drauf achten."

„In Zukunft, ja, in Zukunft! Was ist mit jetzt? Die Rechnung bezahlt sich nicht von alleine. Scheiße ich denn Geld? Nein! Ich bin doch auch nur ein einfacher Angestellter mit meinen Problemen, ich kann mich doch nicht um alles kümmern." Seine Stimme bricht ab und für einen kurzen Moment befürchte ich, dass mein Vater anfängt zu weinen.

„Und dann eure Mutter, dreißigtausend wollte sie als Abfindung. Dreißigtausend! Viel zu viel! Wie soll ich das denn alles bezahlen? Und Dodos Kinder wollen Silvester vorbeikommen."

„Sollen sie doch", versuche ich ihn zu beschwichtigen, aber da schwingt seine Stimmlage wieder um: „Nicht in diesem Ton. Wenn ihr euch genauso scheiße benehmt wie an Dodos Geburtstag, könnt ihr Silvester unter der Brücke feiern."

„Wir werden eh nicht da sein", sage ich, obwohl ich noch keine Pläne habe, geschweige denn weiß, was Kilian macht. Aber im Notfall finden wir bestimmt beide Unterschlupf bei Bigfoot. In jedem Fall werde ich ihn nach seinen Silvesterplänen fragen, sobald ich ihn sehe.

„Und das Licht müsst ihr ausmachen, wenn ihr nicht in eurem Zimmer seid! Du hast dein Licht angelassen."

„Ich war die ganze Woche nicht da, Papa."

„Verarsch' mich nicht. Dein Licht war an!"

Ich mustere sein Gesicht, seine Augen, die wild suchend herumirren.

„Papa?" Seine Augen fokussieren mich für einen Moment, aber eben auch nur für einen Moment. Wie ein wildes Tier sucht er die Küche nach einer Bedrohung ab. Ich seufze, weil ich dachte, dass er nach seinem Klinikaufenthalt und seiner Therapie nicht mehr so sehr in dieses Muster verfällt. Dass seit unserem letzten großen Streit im Frühjahr er sich wieder im Griff hat.

„Dir ging es schonmal so schlecht und vielleicht... vielleicht solltest du nochmal mit deinem Therapeuten reden", sage ich vorsichtig und sehe dabei zu meinem Vater, der wie ein aufgescheuchtes Reh in der Ecke kauert.

„Was fällt dir ein, so mit deinem Vater zu reden?" Hinter mir ertönt Dodos Stimme und auch mein Vater zeigt wieder Anzeichen von Wut in seinem Gesicht. Das ängstliche Reh von eben ist verschwunden.

„Bitte was?" Er lacht ein hohles Lachen, das um einiges beängstigender klingt als die Stimmungsschwankungen es je sein könnten.

„Bitte, Papa, du", ich schlucke, „du brauchst Hilfe."

„Raus!", mein Vater schubst mich nach hinten, sodass ich gegen Dodo falle, die mich auch von sich wegdrückt.

„Raus", wiederholt sie, wobei sie um Längen leiser spricht als mein Vater.

„Papa", ich sehe über Dodo hinweg zu meinem Vater, der wieder orientierungslos durch die Gegend starrt. Er reagiert nicht auf mein Flehen, während Dodo mich aus dem Haus schiebt.

Weil sie mir meinen Haustürschlüssel nicht abgenommen haben, muss ich nur abwarten, bis die beiden schlafen gehen. Es wird nicht allzu lange dauern, schließlich ist es kurz vor Mitternacht und beide müssen an einem Montag früh arbeiten.

Dennoch beschließe ich, mir ein wenig die Beine zu vertreten, denn draußen auf der Backsteintreppe zu sitzen, lässt meinen Hintern schneller einfrieren als im Gefrierfach.

Den Blick nach oben gerichtet, durchsuche ich die Sterne nach Sternenbilder, die ich vielleicht kenne.

Früher hat mein Vater mir Sternenbilder erklärt, an seinem Teleskop haben wir besondere Planetenkonstellationen und einmal sogar einen kleinen Meteoritenschauer bewundert. Früher, bevor die ganze Trennung und Scheidung und Dodo passiert ist.

„Katie?" Ich drehe mich um und sehe einem Jungen in meinem Alter entgegen.

„Malte!"

„He, ich hab für'n halbes Jahr nichts von dir gehört, Katie. Wo warst du?"

War es wirklich schon so lange? Ich schnappe nach Luft bei dem Gedanken daran, dass ich auch Fiona seit Monaten nicht mehr gesehen habe, geschweige mit ihr geredet habe.

Sie wird es mir sicher nicht übelnehmen, weil wir immer mal wieder einige Zeit keinen Kontakt haben, dennoch fühle ich mich schlecht bei dem Gedanken daran, dass ich Bigfoot so viel mehr Zeit gewidmet habe als meiner besten Freundin.

„Ich habe einen Freund", versuche ich zu erklären, spüre aber, wie mein mitleidiger Ton eher nach einer Entschuldigung klingt. Malte lacht und nimmt mich in die Arme.

„Ach, so ist das also. Der scheint dich ja ganz schön einzunehmen, der Glückliche. Schön, dich wiederzusehen."

„Finde ich auch", seufze ich und gebe mich seiner Umarmung hin. Er ist noch nicht so lange draußen wie ich und demnach um einiges wärmer und bei dem Unterschied unserer Körperwärme beginnen meine Zähne zu klappern.

„Mein Gott, Katie, du bist ja nahezu durchgefroren", Malte reibt mir über den Rücken. „Komm."

Arm in Arm folge ich ihm zu seinem Auto, das wohlig warm ist. Der Motor knarzt noch, ein Zeichen dafür, dass er bis eben unterwegs war. Es ist ein alter BMW, den es heutzutage nicht mehr neu zu kaufen gibt, und wahrscheinlich mittlerweile als Sammlermodell bekannt ist.

„Wo warst du denn so spät noch?"

„War noch bei 'nem Kumpel, bisschen zocken, hauptsächlich planen."

„Planen?"

„Klassenreise. Eigentlich verrückt, dass man in der zwölften Klasse noch sowas macht. Aber wird bestimmt gut. Wir mussten einmal abklären, wer was mitbringt, Alkoholmäßig", seine Mundwinkel zucken.

„Oho, also eher ein Saufgelage?"

„Nee, das nun auch nicht. Aber ganz ohne will man eine Woche an der französischen Küste auch nicht verbringen." Ich lache über seine Worte, weil der Gedanke daran, eine Woche mit meiner Klasse samt Lehrer für mich zu absurd klingt. Mittlerweile habe ich bestimmt die Hälfte der Namen meiner Klassenkameraden vergessen, so lange, wie ich nicht mehr da war. Wer weiß, ob sie mich überhaupt mitfahren lassen würden, geschweige denn überhaupt in die zwölfte Klasse aufsteigen lassen?

„Sag mal, wie gut bist du in Mathe?"

„Ehm, nicht so gut wie in Musik", weicht er aus.

„Kannst du mir helfen? Ich", ich überlege, wie ich es am besten formulieren kann, „ich hänge einige Stunden hinterher."

„Einige Stunden?"

„Ich, Wochen trifft es eher", murmle ich kleinlaut und wage es nicht, ihm in die Augen zu sehen.

„Katie", seine Stimme klingt überrascht, „das, also, okay, ja, das hätte ich nicht von dir erwartet. Ich dachte eher, du bist 'ne Einser-Schülerin."

Ich rolle mit den Augen.

„Das dachten alle, bevor ich meine Haare gefärbt habe."

„Was? Weinrot ist nicht deine natürliche Haarfarbe?" Der ironische Unterton in Maltes Stimme lässt mich auflachen. „Ich helf' dir so gut ich kann, versprochen."

„Danke", sage ich und meine es auch so.

Wenn ich tatsächlich doch noch die Chance auf mein Abi haben möchte, sollte ich mich wieder ran setzen. Wieder öfter in die Schule gehen, am Unterricht teilnehmen und überhaupt mich blicken lassen.

*

Am nächsten Tag setzte ich meinen Plan in die Tat um, gehe brav zur Schule mit den restlichen Schulsachen, die ich in meinem Zimmer finden konnte, und versuche, im Unterricht mitzukommen. Meine Mitschüler sehen mich an wie man einen Autounfall ansieht; man möchte nicht gucken und erst recht nicht dabei erwischt werden, Wegsehen kann man aber dennoch nicht.

Es ist zum Kotzen.

Ich weiß nicht, ob sich irgendwer jemals wirklich in einer Schule wohlgefühlt oder dazugehörig gefühlt hat, aber ich bezweifle es. Die hellen Wände und der gummiartige Linoleumboden lassen eher jede Psychiatrie-Fantasie aus jedem Horrorfilm der neunziger Jahre auflodern, anstatt ein Gefühl von Bildung hervorzurufen.

Auch die Lehrer sehen mich an, als hätten sie nicht erwartet, mich je wiederzusehen. Übelnehmen kann ich es ihnen nicht, meine liebste Freundin Yasmin aus meiner Klasse hat das letztes Jahr gemacht und wahrscheinlich haben viele Lehrer gedacht: „Tja, da hat sie Katie mit in den Abgrund gezogen".

Obwohl ich eine Ausbildung, die Yasmin nun hat, nicht unbedingt als Abgrund bezeichnen würde. Vielmehr ist der Abgrund doch dieser ständige öde Schulalltag, von dem alle Schüler wissen, dass sie das Wissen vergessen, sobald sie einen Schritt vor die Tür des Schulgebäudes setzen. Wie in einem magischen Schloss, auf dem ein Zauber lastet, sodass man sich nicht daran erinnert, dass man jemals drinnen war.

Nachmittags übe ich mit Malte und er kann mir sogar auch in Deutsch helfen. Er ist eine unglaubliche Hilfe und ich verspreche, es ihm irgendwie zurückzuzahlen. Aber Malte lacht nur.

Im Laufe des Tages habe ich mehrere Nachrichten von Bigfoot erhalten, eine wütender als die andere, weil ich nicht sofort antworte. Er ist es nicht gewohnt, dass ich ihn so lange warten lasse. Ich hätte ihm sagen müssen, dass ich wieder zur Schule gehe und deswegen nicht mehr so viel Zeit habe.

Sofort wähle ich seine Nummer und er geht nach dem ersten Klingeln ran.

„Katie!"

„Hey, sorry! Ich hatte so viel mit der Schule heute zu tun und Malte hat mir geholfen, damit ich wieder hinterherkomme", entschuldige ich mich. Am anderen Ende der Leitung ist es eine Weile still. Ich kann regelrecht hören, wie sich die Zahnräder in Bigfoots Kopf bewegen. Und ich beiße mir auf die Unterlippe, weil ich ganz genau weiß, welche Frage als Erstes von ihm kommen wird.

„Wer ist Malte?"

„Mein Nachbar, der große Blonde? Der Klavier spielt", versuche ich ihm die Eckdaten zu geben, die ich ihm damals schon genannt habe.

„Ahh."

„Ja, ich war in den letzten Wochen nicht wirklich oft in der Schule, um Zeit mit dir zu verbringen und ich fand es ja auch toll, aber ich denke, ich sollte doch ein wenig mehr für die Schule tun. Sonst werde ich vielleicht nicht versetzt und kann mein Abi nicht schreiben."

„Hm."

„Tut mir leid, ich hätte es dir vorher sagen sollen. Ich habe es gestern Nacht eher spontan entscheiden, nachdem mein Vater mich rausgeworfen hat und Malte und ich gequatscht haben."

Ich höre, wie Tomate nach Luft schnappt und im selben Moment hätte ich mir gern auf die Zunge gebissen. In den letzten Monaten habe ich bemerkt, dass Bigfoot sehr eifersüchtig sein kann, besonders gegenüber Jungs, die er nicht persönlich kennt. Ich habe dadurch den Kontakt zu meinen männlichen Freunden ziemlich ausgedünnt und mich mit Bigfoots Leuten angefreundet. Alleine treffe ich mich so gut wie gar nicht mehr mit irgendwem.

Nervös drehe ich am Ring meiner Oma, der über die letzten Wochen immer lockerer geworden ist. Mein Wunschgewicht ist beinahe erreicht, dann sehe ich wirklich aus wie diese Animemädchen, von denen Bigfoot ständig schwärmt.

„Mein Vater ist gestern wieder ein wenig ausgetickt", ergreife ich nochmal das Wort. „Da bin ich draußen spazieren gegangen und habe zufällig Malte getroffen."

„Und er hat dir gesagt, dass du seine Hilfe für die Schule brauchst?"

„Nein, ich habe ihn darum gebeten."

„Warum?"

„Weil ich dachte, dass er mir vielleicht helfen könnte", ich versuche so geduldig wie möglich zu sein, finde diese Nachfragerei aber mehr als ermüdend.

„Ich kann dir helfen."

„Mit Mathe?"

„Ja."

„Oh", mir ist nicht bewusst, dass Bigfoot gut in Mathe ist. Soweit ich das verstanden habe, ist er notentechnisch eher auf meiner Ebene. Also gerade so an der fünf vorbeigeschlittert, weil der Lehrer beide Augen zugekniffen hat. In meinem Fall wegen der Trennung meiner Eltern. Herr Fransann hat mir bei der letzten Zeugnisausgabe gesagt, dass er sieht, wie viel Mühe ich mir gebe. Zugegeben, danach war ich nicht mehr in seinem Unterricht, aber ich bin bereit, es jetzt nochmal zu versuchen.

„Ich kann ja morgen nach der Schule zu dir kommen und du hilfst mir?", schlage ich vor, um die Wogen wieder zu glätten.

„Klingt gut. Sei um drei bei mir."


Katie

Ich weiß, dass es mit mir nicht immer einfach ist. Ich vermisse dich jede Sekunde, die du nicht bei mir bist so sehr, dass es schmerzt. Tief in mir drinnen lodert diese Wut, die nur darauf wartet, befreit zu werden, und ich kämpfe jeden Tag mit mir selbst, damit dies nicht geschieht.

Ich liebe dich für jetzt und für immer Katie, du bist meine Seelenverwandte, mein kleiner Wunschtraum. Ich lasse dich nicht mehr los, das weißt du.

Es macht mich wahnsinnig, nicht zu wissen, wann ich dich wieder in meine Arme schließen kann, wann ich dich wieder küssen kann.

Mit jeder Sekunde wächst meine Liebe nur weiter für dich und das möchte ich dir jeden Tag zeigen.

Denn ich will für immer an deiner Seite bleiben.

In Liebe, Bigfoot

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