Bigfoot
TRIGGERWARNING für sexuelle Nötigung
Eine gekürzte Fassung für das Kapitel ohne Trigger im folgenden Kapitel "ZSM"
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‚Ich bin keine Nase, ich habe nur eine' steht jetzt in großen Kreidebuchstaben unter Tomates Fenster, direkt vor dem Eingang des Hochhauses. Stolz stemme ich die Hände in die Hüften und bewundere mein Werk. Mit den ganzen bunten Schnörkeln und Sternchen sieht es gar nicht mal schlecht aus. Was fehlt, ist eine Tomate. Leider habe ich keine mitgenommen, also male ich eine, aber wegen der rosa Kreide sieht es eher nach einem Pfirsich aus. Deswegen zeigt ein grüner Pfeil auf den Pflastersteinen nun zu meiner gemalten rosa Pfirsichtomate und beschriftet sie mit der richtigen Gemüseart. Wenn er von der Schule heimkommt, wird er wahrscheinlich nicht schlecht staunen. Schnell sammle ich die Kreide wieder ein und mache mich auf den Heimweg, denn zwei Stunden zu jemandem fahren, um ihn ein kleines Geschenk dazulassen, ohne Hallo zu sagen kann ich auch.
Ich sitze in der Bahn, als mich Tomates Nachricht erreicht, woraufhin ich grinsend seine Nummer wähle.
„Du bist echt unglaublich, Sonnenschein!"
„Vielen Dank", sage ich und verbeuge mich innerlich wie auf einer großen Bühne.
„Ich hatte schon das Gefühl, dass du heute irgendwas planst. Wo bist du?"
„In der Bahn."
„Was? Du bist extra hergefahren dafür?"
„Hast du doch auch gemacht", antworte ich grinsend, während eine kleine Pause entsteht.
„Das heißt, es gibt keine Chance, dich heute zu sehen?"
„Ach, ich will dich doch nicht ablenken von deinen Schulsachen, Tomate", ahme ich seine Worte von damals nach.
„Touché." Es entsteht eine weitere Pause, in der ich Tomate regelrecht denken hören kann. „Wie wäre es dann am Wochenende? Ayleen feiert ihren achtzehnten."
„Noch jemand volljähriges in deinem Freundeskreis? Da bin ich ja ein richtiger Außenseiter", ärgere ich ihn, bin aber irritiert, dass nicht sofort eine Antwort kommt. Verwundert schaue ich auf mein Display, um sicherzugehen, dass ich noch Empfang habe, während die Bahn weiter durch einen Hauch von Nichts als Feld fährt.
„Nicht für mich, für mich wärst du der Mittelpunkt." Mir stockt der Atem und ich spüre, wie mir sofort das Blut ins Gesicht schießt.
„Ich komme gern", schaffe ich es zu sagen, ohne laut loszuschreien vor Freude.
„Klasse, am Samstag um acht bei mir? Wir können zusammen hingehen."
„Klingt gut", antworte ich und denke gar nicht daran, wie ich meinem Vater erklären soll, dass ich abends mit der S-Bahn quer durch die Stadt fahren will, um einen Jungen zu sehen. Trotzdem kann ich es kaum erwarten und fiebere dem Wochenende entgegen.
Anscheinend hat sich mein Vater wieder einigermaßen beruhigt, denn als ich am Samstag das Haus wortlos verlasse, höre ich keine Einwände.
Tomate begrüßt mich mit einer innigen Umarmung. Ich mustere ihn und seine dunklen Haare, die ihn ein wenig verrucht ins Gesicht fallen. Wie immer hat er ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen, aber irgendetwas ist anders. Es dauert einen kurzen Moment, bis ich den Finger darauflegen kann.
Es ist das Schloss, das um seinen Hals hängt. Nicht so ein kitschiges Disneyschloss, welches oft als Schlüsselanhänger für Touristen in Paris hergestellt wird. Ein richtiges Schloss. Ein goldenes Vorhängeschloss, mindestens drei Zentimeter breit.
Eine silberne Kette, die um seinen Hals hängt und aus mehreren in sich greifenden Elementen besteht, wird von dem Schloss zusammengehalten, das zwischen seinen Schlüsselbeinen baumelt. Die Elemente sind relativ dick und durch jedes Einzelne hätte ich meine Finger hindurchstecken können, wäre ich nur nahe genug an seinem Hals. Ich verwerfe den Gedanken sofort wieder. Freunde. Tomate und ich sind Freunde.
„Tomate", er sieht abwartend zu mir runter, „dein Schloss. Wofür ist es?"
Ein mysteriöses Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit, bevor er den Blick wieder abwendet. Statt mir eine Antwort zu schenken, nimmt er meine Hand und führt mich in einen Erdgeschössigen Bungalow, in dem die Geburtstagsparty stattfindet. Es ist eigentlich ein einzelner großer Raum samt einer kleinen Bühne, wenn man die extra Räume für die Toiletten und die Garderobe nicht mitzählt. Alles, was man für eine Feier eben braucht. Drinnen spielt sich eine bunte Lichtershow aus verschiedenen Laserstrahlen ab, die mir im ersten Moment die Sicht erschweren.
Aber Flos Lockenkopf würde ich überall erkennen. Grinsend kommt er auf mich zu und umarmt mich, nur um kurz darauf Tomate tadelnd an seiner neuen Schlosskette zu ziehen.
„Was soll das sein? Das Schloss zu deinem Herzen oder sowas?" Flo lacht über seine eigene Frage, aber ich halte die Luft an. Was, wenn es wirklich das Schloss zu seinem Herzen ist? Wenn er tatsächlich eine so romantische Sicht auf die Dinge hat? Wer besitzt dann den Schlüssel dafür?
„So ähnlich", antwortet Tom mit einem schiefen Grinsen.
„Ohoo, so ist das also. Wieso hast du nicht vorher gesagt, dass du wieder eine Olle hast?", ruft Flo und boxt Tomate in die Seite. „Wo ist sie?"
Er schirmt seine Augen mit der Hand ab, während er den Blick durch die Menge streifen lässt. Aber Tomate gibt ihm keine Antwort. Stattdessen beugt er sich zu mir.
„Ich werde mal Ayleen Hallo sagen", ruft er in mein Ohr, weil die Musik seine Stimme sonst komplett verschluckt hätte. Er lässt meine Hand los, an der er mich eben noch reingezogen hat und verschwindet zwischen der wild tanzenden Menge.
Auf der Bühne ist der Alkohol frei verfügbar für alle, die sich eine Mische machen wollen, was Flo direkt annimmt und dahingehend auch entfernt. An einigen abgelegenen Tischen sitzen kleinere Grüppchen an ihren Bechern nippend, Spielkarten in den Händen. Mischen sind nicht wirklich das alkoholische Getränk, das ich gern zu mir nehme, weswegen ich die einzelnen Tische in den Ecken des Raumes mustere, um herauszufinden, was diese trinken. Ich folge zwei Jungs, die sich freudestrahlend an mir vorbeidrängen, mit einer großen Flasche in der Hand, die eine rote Flüssigkeit in sich trägt. Wahrscheinlich Erdbeerlikör, nicht unbedingt mein Lieblingskurzer, aber allemal besser als die Mischen mit Captain Morgan und Cola oder das Bier, dessen Gestank mich an meinen Vater erinnert.
„Na, Lust auf 'nen Kurzen?" Ich setze mich ihnen gegenüber und grinse genauso zurück.
„Immer her damit." Das hier ist eine Party und ich bin hier, um mich zu amüsieren. Deshalb hat Tomate mich doch überhaupt erst mitgenommen. Er wollte, dass ich hier Spaß habe und die Sorgen von zu Hause wenigstens einen Abend lang vergessen kann. Das Grinsen der Jungs wird nur noch breiter und mit einem beeindruckenden „Alles klar" füllt der Blonde mir ein Gläschen Erdbeerlikör ab. Schnell kippe ich es runter und warte darauf, dass es in meinem Rachen ein angenehmes heißes Brennen hinterlässt, so wie ich es von Tomates Zigaretten kenne. Der Likör ist süßer, als ich erwartet habe, weswegen ich für einen Moment die Mundwinkel verziehe.
„Doch zu stark?", der blonde Typ lacht, schenkt mir aber bereits das zweite Gläschen ein. Bestimmt schüttle ich den Kopf und nehme den Kurzen in die Hand.
„Von wegen. Ich habe mit Russen gelernt." Danilo und Nikolaj haben mir einige Tricks beigebracht, ich weiß ganz genau, wie viel ich vertrage und was für Alkohol ich abkann. Das haben wir wie in einer Langzeitstudie über viele Abende getestet. Ich kippe den nächsten Kurzen in mich rein. Mit jedem Einzelnen verblassen die Worte und das Gesicht meines Vaters ein wenig mehr. Die Jungs, sichtlich begeistert von meinem Eifer, schenken mir nach, wenn ich eins leertrinke, und sind bei jedem weiteren geleerten Shotglas begeisterter. Für einen Moment sehe ich mich im Raum um, aber von Tomate ist weit und breit keine Spur. Als ich mich wieder den beiden Jungs zuwende, ist mein Shotglas schon gefüllt, sodass ich es kurzerhand auch runterkippe. Ich versuche die verbrauchten Plastikgläser zu zählen. Auf meiner Seite sind mindestens doppelt so viele wie bei dem blonden Typen vor mir.
„18!", grölt er und klatscht seinen Kumpel ab. 18? Das ist schneller gegangen, als ich gedacht habe und viel mehr, als ich eigentlich wollte. Ich halte mir den Kopf, in dem mein Gehirn doch nun lauter hämmert als erwartet. So viele Kurze habe ich noch nie hintereinander getrunken. Ein neuer Rekord, aber ob ich darauf stolz sein konnte, würde sich noch zeigen. Denn im Moment dreht sich mein Kopf wie verrückt. Mein Rachen brennt nicht mehr von dem Alkohol, dafür aber mein Magen. Kein gutes Zeichen. Mit wankenden Schritten stehe ich auf, klopfe mit der flachen Hand zweimal kurz zum Abschied auf die Tischplatte und bahne mir dann einen Weg an der tanzenden Menge vorbei nach draußen. Frische Luft. Bloß nicht kotzen, Katie.
Mit zittrigen Beinen bewege ich mich an die frische Luft, in der Hoffnung, dass die wenigstens meiner Übelkeit entgegenwirken kann, denn obwohl mein Körper mir das Geradestehen und Geradegehen versagt, bin ich doch bei relativ klarem Verstand. Vor dem Eingang sind zwei Stehtische aufgestellt, um die sich die Raucher versammelt haben. Seltsamerweise ist Tomate nicht dabei. Ich hätte den gesamten Alkohol darauf verwettet, dass er sich hier draußen aufhält. Ich greife nach der Tischplatte, stärker als ich beabsichtigt habe, weil ich bemerke, wie ich schwanke. Meine Beine zittern. So eine heftige Reaktion habe ich bisher nie auf Alkohol gehabt. Als ich das erste Mal Alkohol getrunken habe, war das purer Wodka, verdammt! Nikolaj hat mir damals ein mit zwei Finger breitem Wodka gefülltes Glas überreicht und lachend gesagt: „Wenn du bei mir trinken lernen willst, dann richtig." Nur mit Mühe habe ich die durchsichtige Flüssigkeit herunterschlucken können, angenehm war etwas vollkommen anderes. Bestimmt eine Minute lang musste ich mir das Husten unterdrücken, weil ich auf das starke Brennen im Rachen nicht vorbereitet gewesen war. Tränen stiegen mir damals in die Augen und Nikolaj klopfte mir wild auf den Rücken.
„Alles gut, devushka, das wird wieder", hat er gesagt und lauter gelacht. Danilo hat nur weiter an seiner Zigarette gezogen und die Szene ruhig beobachtet.
„Wenigstens ist es 'ne sichere Umgebung, devushka", grinste Nikolaj und deutete fragend auf den Wodka, den ich daraufhin dankend ablehnte. Nikolaj, Danilo und ich haben uns oft getroffen, waren oft unterwegs auf Festivals, auf denen ich noch gar nicht sein dürfte, mit Getränken, die ich nicht trinken und Zigaretten, die ich nicht rauchen durfte. Sie haben dabei immer auf mich aufgepasst, wie zwei große Brüder standen sie links und rechts von mir, um sicherzugehen, dass nicht irgendwer meine Neugier an all den verbotenen Dingen ausnutzen würde. Ich habe mich jedes Mal sicher dabei gefühlt, so sicher, dass ich in Ruhe meine Grenzen austesten konnte. Ja, 18 Kurze sind eine Menge, aber nicht so viel, dass mein Körper nun mit Schüttelfrost, Lallen und verschwommener Sicht reagieren würde.
„Du siehst gar nicht gut aus", der blonde Kerl von vorhin ist mir anscheinend gefolgt und hakt sich nun bei mir unter, was ich dankbar annehme. „Komm", höre ich ihn sagen und spüre, wie mein Sichtfeld immer kleiner wird. Kurz darauf erfüllt mich eine einengende Wärme. Sind wir etwa wieder drinnen? Ich versuche meinen Kopf zu heben, mich umzusehen, aber mit jedem Schritt, den ich weiterstolpere, wird er schwerer.
„Raus", murmle ich, bezweifle aber, dass der blonde Typ mich gehört hat. Schließlich setzt er mich auf etwas ab, sodass ich mich nach hinten lehnen kann. Es ist schön weich und kuschelig. Links und rechts genauso. Mäntel und Schals der Gäste. Der Umkleideraum. Die Musik kommt nur gedämpft hier an, was das Pochen in meinem Hinterkopf um einiges erträglicher macht. Langsam hebe ich den Kopf, der Typ ist verschwunden, hat mich hier einfach abgesetzt. Ich mache Anstalten aufzustehen, werde aber von meinen zittrigen Beinen im Stich gelassen, die mich zurück auf die Bank katapultieren. Dann eben anders. Ich greife nach den Mänteln seitlich von mir, um mich an ihnen hochzuziehen und entlang zu hangeln. Ich brauche frische Luft, mir ist so übel, dass ich das Gefühl habe, mich gleich übergeben zu müssen und das will ich sicherlich nicht hier zwischen den Jacken und Mänteln tun. Noch ein Schritt und ich bin am Türrahmen der Umkleideecke. Vorsichtig lehne ich meinen Kopf dagegen, während ich mich mit beiden Händen daran festklammere wie Rose und Jack an das Holzstück im Meer.
„Du solltest lieber nicht aufstehen." Ich blinzle einige Male, bevor ich den blonden Typen wieder erkenne. Ich weiß nicht einmal seinen Namen, aber sein schiefes Grinsen kann ich trotzdem sehen. Es ist kein freundliches Grinsen, eher boshaft, so, wie er sich über die Lippen leckt. Sanft legt er eine Hand auf meinen Bauch, die andere an meinen Rücken und schiebt mich zurück in die Umkleide.
„Frische... Luft", flüsterte ich, aber der blonde Kerl schüttelt den Kopf, legt mir einen Finger auf die Lippen.
„Shh." Mit einem gekonnten Stoß drängt er mich gegen die Wand der Umkleide, sein Gesicht so nah, dass ich seinen Erdbeerlikör riechenden Atem auf meinem Hals spüre. Mit der Zunge fährt er meine Halsschlagader nach, während seine Hände nach meinen greifen.
„Lass das", bringe ich hervor und in dem Moment, in dem er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen mich drücken will, lässt mein rechtes Bein nach und ich falle zur Seite. Mein Kopf knallt unsanft gegen den Türrahmen. Im nächsten Moment hat er schon wieder mein Handgelenk gepackt, um mich an ihn heranzuziehen. Halb sitzend, halb liegend auf dem Boden fährt seine andere Hand unter meinem Top meinen Rücken entlang, hoch zu meinem BH.
„Wohin willst du denn jetzt? Wir haben doch nur ein wenig Spaß zusammen." Seine raue Stimme gemischt mit dem Geruch nach Erdbeerlikör nimmt mir die Luft zum Atmen. Seine zweite Hand wandert meine Taille entlang, will sich einen Weg in meine Hose bahnen. Von seinen Berührungen wird mir schlecht und bevor er den Knopf meiner Jeans öffnet, sammle ich allen Speichel, den ich besitze und spucke ihm damit ins Gesicht.
„Schlampe", zischt er mit zusammengebissenen Zähnen und wischt sich angewidert übers Gesicht. Den Moment nutze ich, um mich von ihm loszureißen. Mit kleinen Schritten wanke ich zur Ausgangstür, immer die eine Schulter, an die Wand gelehnt, um das Gleichgewicht halten zu können. Die Tische auf der kleinen Rasenfläche sind unverändert, nur die Rauchergruppe sieht anders aus in ihren Umrissen. Klar sehen kann ich noch nicht.
Ich greife das zweite Mal an diesem Abend nach der weißen Tischplatte und spüre, wie ich mich nahezu daran festkralle, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Einer der Raucher dreht sich zu mir um.
„Ey, alles klar?" Besorgt mustert er mich. Sein Gesicht ist undeutlich, die einzelnen Konturen kann ich nicht zu einem gesamten Bild zusammenfügen. Was ist los mit mir? Das alles vom Erdbeerlikör? Der wird ab sofort von meiner Alkoholliste gestrichen.
„Hee", er stützt mich am Rücken, um mich davon abzuhalten, nach hinten wegzukippen.
„Alles gut...ich muss mich nur kurz", ich sehe mich um und entdecke direkt neben dem Tisch einen kleinen Stein auf der Grasfläche, „nur kurz...auf diesen Stein...setzen", antworte ich, während ich mich mit seiner Hilfe langsam zum Stein hocke und nach ihm taste, bis ich mit meinem Hintern sicher drauf sitze.
„Bisschen zu viel?", fragt er, der sich mittlerweile vor mich hingehockt hat. Von seiner Zigarette ist nur noch ein kleiner Stummel übrig, den er unsanft im Gras löscht. Ich nicke benommen, fasse mir an den Kopf, versuche zu verarbeiten, was gerade los ist. Mir ist übel, aber mich übergeben habe ich das letzte Mal als Kind. Ich hoffe inständig, das würde so bleiben, obwohl eine Entladung meiner Übelkeit durch den Rachen bestimmt helfen würde.
„Ich hol dir mal ein Glas Wasser", er drückt meine Schulter, bevor er aus meinem Sichtfeld verschwindet. Ich kneife die Augen fest zusammen, versuche, meine Umgebung wieder in schärferen Konturen wahrzunehmen.
„Katie!" Vor mir hockt ein Mädchen, umrahmt von kurzen platinblonden Haaren. Mira! Endlich ein bekanntes Gesicht!
„Komm mal mit, ich muss dir was erzählen", ihre Stimme klingt euphorisch, auch wenn ich ihre Gesichtszüge nicht ganz ausmachen kann. Sie zieht mich weg von meinem sicheren Stein, den ich nur ungern verlasse, und führt mich an der Hand hinter das Haus. Die Schritte, die sie macht, wirken wie die eines Riesen im Vergleich zu den Tippelschritten, die ich nur vollbringen kann. Als sie stehen bleibt, lehne ich mich instinktiv an die Wand und lasse mich langsam nach unten gleiten, bis mein Hintern den kalten Boden spürt und ich mich einigermaßen sicher fühle.
„Alles okay?" Ich nicke abwesend, während Mira sich eine Zigarette anzündet, nur um sie mir in die Hand zu drücken. Ich schüttele den Kopf, sodass Mira sie mir wieder abnimmt. Ich brauche nicht noch mehr Drogen, die meinen Zustand verschlimmern könnten. Ich sollte erst einmal eine Pause machen. Ich sehe, wie Mira schulterzuckend genüsslich an ihrer Zigarette zieht und den Qualm langsam ausstößt. Dann setzt sie sich zu mir auf den schmalen Steinboden, der das Haus umrandet.
„Was hältst du von Tomate?"
„Was?" Ich kann zwar klare Gedanken fassen, aber meine Zunge fühlt sich schwer beim Reden an, wie geschwollen, sodass mir die Antwort nur langsam über die Lippen kommt.
„Na, ihr seid doch zusammen hergekommen."
„Ja, weil wir Freunde sind." Obwohl ich immer noch einiges etwas schummrig wahrnehme, erkenne ich, wie Mira ungläubig eine Augenbraue hebt.
„Freunde also." Ihre Antwort trieft nur so vor Sarkasmus.
„Warum fragst du?"
„Weil ich gehört habe, wie Tomate gesagt hat, dass er dich echt gern hat."
„Natürlich hat er das. Wir sind Seelenverwandte", antworte ich und spüre, wie das Lallen zunimmt, je mehr ich rede. Mira seufzt und sieht mich einige Momente an.
„Ich meine mehr als Freunde."
Sofort spüre ich, wie mein Herz zehn Zentimeter nach oben wandert und lautstark gegen meinen Rachen klopft. Aber es ist kein schönes Gefühl, mir wird schlecht davon und die Übelkeit zieht sich bis in meine Magengrube. Der Alkohol hat es wirklich in sich gehabt.
Auf ihren Lippen macht sich ein wissendes Grinsen breit.
„Was denkst du?"
„Ich...ich weiß nicht", antworte ich ehrlich. Tomate und ich sind großartige Freunde geworden über die letzten Monate, aber ich würde lügen, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass da noch etwas ist zwischen uns. Die unbedachten, aber häufigen Berührungen, die vielen Telefonate, sein Lächeln, wenn er mich sieht, die Art, wie er mich umarmt. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass ich mir das eingebildet habe, Mädchenschwärmereien. Meine Naivität hat mir schließlich damals schon mit Jess einen Strich durch die Rechnung gemacht. Außerdem ist er älter und ich will ihm nicht wie ein kleines Mädchen am Rockzipfel hängen. Ich will ihm zeigen, dass ich sehr wohl auch alleine klarkomme. In keinem Fall will ich, dass er aus Mitleid oder einem sonstigen Grund in meinem Leben bleibt. Gleichzeitig habe ich Angst davor, was es bedeuten könnte, wenn wir diesen Schritt gehen. Er hat schon eine zweijährige Beziehung hinter sich, ich war nur ein paar Mal mit Yuri im Bett gewesen, von freundschaftlichen Gefühlen oder gar... Liebe keine Spur. Das ist nicht vergleichbar mit den Erfahrungen, die Tomate schon gemacht hat.
„Du magst ihn", Mira stupst mir mit dem Zeigefinger in den Bauch, direkt unter meine Brust, wo mein Herz hätte sein sollen, dessen Pochen ich aber mittlerweile in den Ohren spüre, die zunehmend heißer werden.
„Vielleicht", gebe ich zu, was mir sofort Hitze in die Wangen beschert.
„Katie?" Tomates tiefe Stimme ist nicht zu überhören, er wirkt ein wenig besorgt.
„Hier!", kommt Mira mir zuvor, was Tomate offensichtlich prompt in die richtige Richtung lenkt, weil er keine Minute später neben uns steht.
„Alles gut?", fragt er mit einem Blick auf mich und hält mir eine Hand hin, die ich ablehne. Die Übelkeit lässt zwar langsam nach und hat noch mehr Platz für mein pochendes Herz geschaffen, das ich dafür verfluche, dass es sich in diesem Moment nicht unter Kontrolle bekommt, aber mir ist immer noch ein wenig schwindelig. Es ist nur Tomate. Ich habe ihn schon unzählige Male berührt, warum dreht mein Herz jetzt so durch?
„Ja, ich, mir ist nur etwas schwindelig."
„Zu viel Alkohol?" Tomate hockt sich vor mich, klemmt sanft eine meiner blonden Haarsträhnen hinter mein Ohr, wo seine Hand noch kurz verweilt.
„Ich glaube schon, keine Ahnung." Ich schüttele leicht den Kopf aus Angst, dass sonst die Übelkeit oder das Schwindelgefühl wieder stärker werden würden.
„Soll ich dich nach Hause bringen?"
„Magst du mich?", stelle ich die Gegenfrage und hätte mir am liebsten einen Reißverschluss für meinen Mund zugelegt. Tomate sieht mich aus geweiteten Augen an, dann kratzt er sich am Kopf.
„Ehm, klar mag ich dich."
„Gut, wir sind nämlich seelenverwandt", antworte ich selbstbestimmt, aber mit quietschiger Stimme, was bei Tomate zu einem schnaubenden Lächeln führt, während er wieder aufsteht.
„Du bist echt unglaublich, du Nase", sagt er und sieht dabei auf den Boden. „Oder eher Littlefoot bei deinen kleinen Füßen."
„Was? Was stimmt denn bitte nicht mit meinen Füßen?" Ich folge erstaunt seinem Blick zu meinen schwarzen Chucks, die ich mit silbernen Sternen und Monden bemalt habe.
„Nichts, sie sind klein und süß."
„Musst du gerade sagen mit deinen riesen Latschen. Bigfoot." Kein besonders guter Konter, aber auch nicht der Schlechteste. Tomate bricht in ein lautes Gelächter aus.
„Das ist Schuhgröße 45."
„Riesig, sag ich ja." Ich verschränke die Arme vor der Brust.
„Ach, und was ist deine Schuhgröße?", er geht in die Hocke und beugt sich ein Stück zu mir, sodass mich einige seiner vorgefallenen Haare an der Nasenspitze kitzeln. Erstaunt sehe ich ihm in die Augen, deren Pupillen sich augenblicklich weiten. Als hätte er es bemerkt, richtet er sich schlagartig wieder auf und sieht zu mir herunter.
„Also, ehm, soll ich dich nach Hause begleiten?"
„In meinem jetzigen Zustand sollte ich vielleicht nicht nach Hause", gestehe ich.
„Weiß dein Vater, wo du bist?"
„Ich habe gesagt, ich bin bei Darja."
„Über Nacht?"
„Nicht direkt", gebe ich zurück und wünsche mir momentan nichts sehnlicher als mein Bett.
„Hier", Mira zeigt Tomate ihr Handy, der nickt.
„Gut", Tomate hilft mir auf die Beine, „dann komm, wir fahren zu dir."
Ohne Widerworte lasse ich mich von ihm nach Hause begleiten. Das rhythmische Ruckeln der S-Bahn wiegt mich in einen sanften Schlaf, sodass ich die Fahrt nahezu komplett verschlafe und erst an der Endhaltestelle mit dem Kopf in Tomates Schoß aufwache.
„Tut mir leid, dass du wegen mir so früh gehen musstest."
„Mach' dir deshalb mal keine Gedanken, klar?"
Niemand ist zu Hause, als ich die Tür aufschließe, wofür ich mehr als dankbar bin. Vielleicht wäre es besser gewesen, bei Tomate zu übernachten. Aber mein Bett ist um einiges gemütlicher als seine Schlafcouch.
„Ich glaube, ich nenne dich ab sofort wirklich Bigfoot." Ich zeige auf seine Füße, während Tomate mir hilft, meine Hose und Schuhe auszuziehen, weil der Alkohol immer noch etwas nachwirkt und mich wie ein unkoordiniertes Kleinkind wirken lässt.
„Alles klar, du Saufnase, ab ins Bett mit dir", antwortet er grinsend. Ich murmle mich zu einer Kugel zusammen, die Tomate mit einer Bettdecke zudeckt. Dann setzt er sich vor mich, sieht mich eine Weile an, hebt immer mal wieder die Hand, als wolle er etwas tun, lässt sie dann aber doch wieder sinken.
„Liest du mir was vor?" Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen, bevor er nickt und das Buch Lucien von Isabel Abedi aus meinem Regal zieht, und an der Stelle weiterliest, bei der ich gestern Abend aufgehört habe, als ich ihm vorgelesen habe. Wie ich das die letzten Wochen jeden Abend getan habe.
Hey meine kleine Seelenverwandte,
Natürlich hast du eine Nase, bist auch eine. Manchmal. Meistens bist du einfach meine kleine Seelenverwandte, meine Prinzessin, mein Sonnenschein oder eben seit neuestem Littlefoot. Ganz egal, welche Spitznamen ich dir gebe, sie beschreiben nicht im Ansatz, wie ich mich in deiner Nähe fühle.
Wir sind in so kurzer Zeit so unglaublich gute Freunde geworden und wir kennen uns so gut und trotzdem bin ich jedes Mal wieder überrascht, wenn du mich von der Schule abholst oder ein Gemälde unter meinem Fenster hinterlässt. Du bist einfach unglaublich, Katie.
Lass mich dir zeigen, dass du all die Aufmerksamkeit und Liebe dieser Welt verdienst.
Denn du bist wunderbar, in jeglicher Hinsicht bist du ein kleiner Sonnenschein, der mir den Tag erhellt. Auch wenn dein Licht nicht so weit scheinen kann aufgrund deiner Größe ;)
-Bigfoot
PS: Du siehst wirklich niedlich aus, wenn du schläfst!
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