An Durchblick gewinnen

„Ich muss noch was einkaufen. Ja und dann muss ich Hausaufgaben machen."

„Und wann sehen wir uns dann?" Ich seufze. Wir reden zwar wieder miteinander, aber etwas fühlt sich kaputt an. Ich bin noch nicht bereit, ihm für all das Gesagte zu vergeben, gleichzeitig möchte ich ihn nicht aus meinem Leben streichen. Wir haben so viel gemeinsam erlebt, wir kennen uns so gut. Ich will das alles nicht wegwerfen wegen einem Streit.

Er liegt mittlerweile einige Wochen zurück und Tomate hat sich wirklich Mühe gegeben, mir den Freiraum zu lassen, den ich wollte. Dennoch habe ich immer noch dieses beklemmende Gefühl in der Magengrube, wenn er sich verabreden will.

„Ich weiß nicht, Tomate. Ich hab' grad echt viel um die Ohren." Ich gehe über die Straße und höre seine weiteren Worte nicht, weil mir plötzlich schwarz vor Augen wird.

*

„Oh Gott! Alles in Ordnung? Hey, sieh mich mal an." Ich sehe in das besorgte Gesicht einer Frau mittleren Alters.

„Mir geht's gut, ja", sage ich und will aufstehen, aber ein Schmerz sticht durch mein linkes Bein und sorgt dafür, dass ich wieder zu Boden falle. Die Frau fängt mich auf und hilft mir, mich auf den Bordstein zu setzen. Ich sehe mich um und erkenne ein Auto auf der Straße, aus der eine alte Dame aussteigt, und einen Mann am Straßenrand, der wild gestikulierend am Handy telefoniert. Er wirft mir einen Blick zu und murmelt etwas.

Ich will mir mein Bein ansehen, herausfinden, woher der Schmerz kommt, aber die Frau drückt meine Schultern und zwingt mich damit, ihr ins Gesicht zu schauen.

„Sie mich an." Der Schmerz in meinem Bein ist brennend und gleichzeitig dumpf, sodass ich ihn nicht einordnen kann. Ist es der Fuß, der Knöchel, das komplette Bein? Was tut am meisten weh? Was ist gerade passiert?

Die alte Dame kommt langsam auf mich zu und hält sich die Brust.

„Mein Gott, ich habe beinahe einen Herzinfarkt bekommen und das bei meinem Asthma. Sie können doch nicht einfach so auf die Straße rennen und telefonieren ohne zu gucken!" Telefonieren. Mein Handy. Ich blicke mich um.

„Mein Handy", sage ich und zeige auf eine rote Handyhülle einige Meter entfernt, die nur meine sein kann. Die Frau mittleren Alters hastet los und bringt es mir. Tomate ist noch dran.

„Katie? Katie? Was soll der Scheiß? Was ist da los?"

„Tomate? Ich ruf dich später an, ja?" Ohne ein weiteres Wort lege ich auf und wähle die Nummer meines Vaters, weil es das Einzige ist, was in meinem Kopf Sinn ergibt.

„Papa? Ich, ich glaube, ich wurde gerade angefahren. Ich kann nicht aufstehen. Mein Bein tut weh." Ich schluchze zwischen meinen Sätzen wie ein kleines Kind. Versuche, ihm zu sagen, wo ich bin, aber er kennt den Weg zum Supermarkt und ist schon draußen, bevor ich überhaupt etwas sage.

„Ich komme sofort. Bist du hinten rum?"

„Ja."

„Okay, gleich da." Währenddessen hält mir der Mann sein Handy hin. Zitternd nehme ich es.

„Der Krankenwagen ist schon auf dem Weg, aber die wollen wissen, ob Sie auch die Polizei schicken sollen." Was? Nein.

„Keine Polizei", sage ich halb ins Handy, halb zu ihm.

„Hallo, sind sie schwer verletzt?", dröhnt die Stimme aus dem Handylautsprecher.

„Ich, ich weiß nicht. Mein Bein tut weh, es blutet", sage ich, während ich an mir herunterlinse.

„In Ordnung, der Krankenwagen ist unterwegs, die Polizei auch."

„Keine Polizei", wiederhole ich, denn ich will nicht noch mehr Ärger.

„Können Sie mir den Mann von eben einmal geben?" Ich reiche dem Mann sein Handy zurück und er geht einige Schritte weg. Er sieht immer wieder zu mir hinüber, schüttelt den Kopf, murmelt etwas ins Handy, nickt. Nickt nochmal.

Die Stimmen sind dumpf, meine Sicht getrübt, alles wirkt so schnell und hektisch und ich kann nicht einmal aufstehen.

Der Krankenwagen kommt keine Minute später mit Blaulicht vorgefahren und zwei Sanitäter steigen aus. Einer hockt sich vor mich, begutachtet mein Bein und nickt mir dann zu.

„Halb so wild", grinst er und ich grinse gequält zurück.

„Das kriegen wir wieder hin." Er hilft mir auf die Trage und lädt mich in den Krankenwagen ein.

„Katie!"

„Das ist mein Vater", sage ich zum Sanitäter, der kurz innehält und meinen Vater prüfend begutachtet. Dann nickt er und zieht eine Schere hervor.

„Ich werde dir jetzt den Schuh und auch das Hosenbein aufschneiden, damit wir sehen können, was alles verletzt ist, okay?" Ich nicke tapfer, während mein Bein unkontrolliert zittert und mein Vater es mit festhalten muss, damit der Sanitäter überhaupt schneiden kann.

Obwohl wir nicht gerade Alliierte sind, bin ich doch froh, dass er hier ist. Es ist wie ein neutraler Boden, den wir beide betreten und es ist ein schönes Gefühl, dass er für mich da ist, wenn es darauf ankommt.

„Schade um den schönen Schuh", sagt der Sanitäter und deutet auf meine schwarzen Chucks, die ich mit Sternen und Sprüchen bemalt habe. „Willst du ihn behalten?" Er hält mir den zerschnittenen Schuh hin und ich greife dankend danach. Der Stoff ist komplett zerfetzt, die Gummisohle aufgerissen. Der Sanitäter mustert meinen Fuß, tupft ein wenig. Ich zische vor Schmerz.

„Gut, also wir sollten damit vorsichtshalber ins Krankenhaus und das einmal röntgen lassen." Er sieht zu meinem Vater.

„Ich komme nach", sagt er mehr zu mir als zum Sanitäter und steigt aus. Es dauert keine zwei Sekunden, da ist er aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich nicke.

Wohl doch nicht so ein neutraler Boden, wie ich gedacht habe.

Der Polizeiwagen hält vor der offenen Krankenwagentür und ein Polizist kommt zu mir. Er will meinen Namen wissen, mein Geburtsdatum, meine Adresse, ob ich eine Haftpflichtversicherung habe. Ich beantworte seine Fragen, so gut es geht, obwohl mein Kopf vor Schmerzen pocht und ich nicht das Gefühl habe, gerade eine zurechnungsfähige Person zu sein.

Der Polizist nickt, bedankt sich und verschwindet. Vermutlich fragt er die alte Frau mit dem Asthma dasselbe.

Der zweite Sanitäter erscheint: „Alles klar soweit?"

„Ja und bei dir?"

„Ja, hat ein wenig übertrieben, die Frau. War nur der Schock. Bleibst du hier?" Der Sanitäter sieht zu mir und wahrscheinlich sieht mein Gesicht noch ängstlicher aus als ich bin, sodass er nickt und der zweite Sanitäter die Türen schließt und den Krankenwagen in Bewegung bringt.

„Wie hießen Sie?", frage ich den Sanitäter, um mich von meinen Schmerzen abzulenken.

„Bob."

„Katie." Mein Bein beginnt wieder unkontrolliert zu zittern, wofür ich mich sofort entschuldige, was Bob zum Lachen bringt.

„Dafür musst du dich wirklich nicht entschuldigen, Katie. Das ist vollkommen normal, dass das überschüssige Adrenalin jetzt einen Weg nach draußen sucht. Mach' dir keinen Kopf, die kriegen deinen Fuß wieder hin."

„Ist es sehr schlimm?"

„Nein", er lächelt mich so offen und ehrlich an, dass ich ihm glauben möchte, obwohl meine Schmerzen mir etwas ganz anderes weismachen wollen.

„Wie lange sind Sie schon Rettungssanitäter?", frage ich bei den nächsten Straßenschäden, die den Krankenwagen, und damit auch mich, ins Rütteln bringen.

„Sechsundzwanzig Jahre", Bob hält mein Bein fest, begutachtet meinen Fuß eine Weile, sein Gesicht ist ausdruckslos. Nur, als er wieder zu mir sieht, lächelt er.

„Und war das schon immer Ihr Traumberuf?" Meine Zähne klappern nun auch, alles an meinem Körper zittert, dabei ist mir nicht kalt. Ich habe einfach nur verdammte Angst vor Krankenhäusern.

Ich war erst einmal in einem, um meiner Oma beim Sterben zuzusehen. Sie hatte Krebs und die Ärzte haben ihr nur wenige Monate gegeben. Sie hat es noch zwei weitere Jahre geschafft, aber diese Jahre waren alles andere als schön für sie. Die Tumore haben sie von innen aufgefressen und sie war viel zu alt, als dass ihr Körper die Chemotherapie gut verkraftet hätte.

Ich habe über die zwei Jahre zugesehen, wie das Krankenhaus nicht nur ihren Körper kaputtgemacht hat, sondern auch ihren Geist. Sie war vorher so eine lebensfrohe, starke Persönlichkeit. Doch sobald sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wurde sie nur schwächer und dünner und trauriger.

Zwei Jahre habe ich zugesehen, bis meine Tante eines Morgens angerufen hat. Es war vier Uhr, die Sonne nicht einmal aufgegangen und obwohl sie nichts gesagt hat, wussten wir alle, was passiert war.

An diesem Tag mussten wir nicht mehr ins Krankenhaus gehen, denn das Bett war leer und meine Oma fort.

Krankenhäuser sind Orte zum Sterben. Kranke Menschen gehen dahin, wenn ein normaler Arzt ihnen nicht mehr helfen kann, und ich habe nicht das Gefühl, dass gesunde Menschen aus Krankenhäusern herauskommen. Nur Tote.

Bob prüft meinen Puls, sein Gesicht sieht etwas besorgt aus.

„Entschuldigung", sage ich zwischen klappernden Zähnen, „ich rede immer so viel, wenn ich aufgeregt bin."

Er lächelt mir aufmunternd zu, tätschelt meinen Unterarm und für einen Moment wünsche ich mir, dass Bob mein Vater ist. Dass er mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles gut ist, weil Eltern doch dafür da sind.

Der Krankenwagen hält und Bob und sein Kollege rollen mich auf der Trage durch den Notaufnahme-Eingang ins Krankenhaus. Sie melden mich an der Rezeption an, schieben mich in einem separaten Flur an die Wand und der Kollege verschwindet bereits.

Doch Bob bleibt noch, hockt sich zu mir hin und drückt meine Hand.

„Wir müssen weiter, aber du schaffst das. Die kümmern sich hier um dich. Alles halb so wild, versprochen."

Ich versuche zu lächeln, obwohl ich am liebsten weinen will.

„Danke."

Bob winkt zum Abschied, bis ich ihn nicht mehr sehen kann. Dann bin ich allein.

Ich sehe auf mein Handy, das ich immer noch verkrampft in der rechten Hand halte. Vier verpasste Anrufe und zwölf Nachrichten, eine wütender als die andere. Ich umklammere mein Handy, schlucke die aufkommenden Tränen runter und wähle Tomates Nummer.

„Katie! Was war los? Warum antwortest du nicht auf meine Nachrichten?"

„Tut mir leid."

„Was soll der Scheiß?"

„Ich, ich wurde vom Auto angefahren und das Handy ist mir aus der Hand gefallen."

„Verdammt Katie, wieso rufst du erst jetzt an? Es kann doch nicht so schwer sein, Bescheid zu geben! Ich hab' mir Sorgen gemacht."

„Ja, ich weiß. Sorry, das Handy ist ein paar Meter weiter weg von mir gelandet und ich hab's erst später gefunden." Ich höre, wie Tomate tief durchatmet.

„Schon okay. Geht's dir denn sonst gut?"

„Ja, ja, nur mein Bein tut etwas weh, aber ist bestimmt nichts ernstes."

„Okay. Dann kommst du nachher wie geplant?"

Ich stocke einen Moment, sehe auf mein aufgeschnittenes Hosenbein und meinen Fuß. Bob hat das Blut weggemacht, langsam bildet sich schon eine Blutkruste. Der Fuß ist doppelt so dick wie der andere, an einigen Stellen blau angelaufen und ich glaube, dass ein Nagel fehlt. Schön ist anders.

„Weiß ich noch nicht, kommt drauf an, was die Ärzte sagen. Ich muss noch geröntgt werden und bisher liege ich nur in einem Krankenbett auf dem Flur."

„Oh okay. Soll ich vorbeikommen?" Das erste Mal in über einem Jahr will ich mich nicht in seine sonst so tröstenden Arme werfen. Ich will allein sein.

„Nein, ich bin bestimmt eh nicht lange hier und mein Vater kommt auch gleich. Ich melde mich nachher nochmal, okay?"

„Alles klar."

Ich lege auf und bemerke, wie ich es langsam leid bin, ihm Rechenschaft ablegen zu müssen. Ich wurde vom Auto angefahren, verdammt! Kann er nicht ein wenig fürsorglicher sein als sich darüber zu beschweren, dass ich ihn nicht vorher angerufen habe? Ist das zu viel verlangt?


Meine Wunschtrauprinzessin,

bitte vertrau mir...

Du fehlst mir...

Ich will bei dir sein, habe aber Angst, dass ich damit einen Fehler machen könnte, dich aufzusuchen, wenn du noch für dich sein willst...

Ich vermisse dich.

Und wenn nicht die Umarmungen, dann die Nähe.

Lass mich dir nochmal zeigen, wie schön es mit uns ist und wie viel Rücksicht, Beachtung und Bewunderung du verdienst.

Lass mich deine Zweifel nehmen und dir zeigen, wofür wir auf dieser Welt sind.

Lass mich dir zeigen, dass ich noch der Alte bin mit neuer Kraft, um meinen Versprechungen nachzukommen.

Ich weiß, dass es Zeit braucht, bis alle Zweifel verschwunden sind und du mir wieder vollkommen vertrauen kannst, aber das schaffen wir – wir gemeinsam.

In Liebe, Bigfoot


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