Kapitel 9

"Na, dir scheint es ja gut genug zu gehen", zischte Sasuke und verstärkte seinen Griff um Sakuras Hals.

Sie konnte froh sein, dass die Kommode nicht sehr breit war, die hölzerne Kante trieb sich nämlich schmerzhaft in ihren unteren Rücken. Dann noch das Brennen in ihrem Hals, der Druck auf ihre Luftröhre und der dumpfe Kopfschmerz, den der unsanfte Aufprall auf der Wand verursacht hatte — theoretisch ging es Sakura in diesem Moment nicht gut. Sie hatte Schmerzen, doch die waren weder von der Stichverletzung, noch hatten sie irgendetwas mit dem Gift zu tun, dass sie sich gespritzt hatte.

Sakura rang sich also ein freches Lächeln ab, das durch die Hand um ihren Hals und die Mordlust in Sasukes Augen etwas weniger selbstsicher ausfiel, als sie geplant hatte. "Mir geht es absolut blendend", presste sie hervor.

Seine Hand griff noch etwas fester zu und mit einem Ruck war Sakura nicht mehr gegen die Wand gepresst, sondern versuchte keuchend das Gleichgewicht zu behalten. Sie war ihm nahe. Nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, während er ihr mit einem Handgriff das Genick hätte brechen können.

Ihr Leben lag wortwörtlich in seinen Händen, und Sasuke war niemand, dem man mit etwas so wertvollem vertrauen sollte.

Trotzdem konnte Sakura es sich nicht nehmen lassen, seine Augen, seinen Mund, jeden Zentimeter seines Gesichts zu betrachten.

Natürlich hatte sie schon einige Blicke auf seinen Kiefer, sein Kinn, seine Wangen geworfen. Wie sie in seine wohlgeformte Nase übergingen, die pinken Lippen, die darunter zu einer hässlichen Fratze verzogen waren.

Da war ein Feuer in seinen neuen Augen, das ihm früher gefehlt hatte. Sakura war schon einmal aufgefallen, dass man es ihm ansehen konnte — seine Rache. Doch Feuer bedeutete auch Zerstörung. Die Ringe unter seinen Augen waren dunkel und traten deutlich hervor, so schade um seine sonst so makellose Haut. Sakura wollte am liebsten ihre Hand ausstecken und sie über seine Stirn streichen, um die Falten zu glätten, die sich dort abzeichneten.

Die ganzen Sorgen und der Stress hatten ihm einiges abverlangt, innerlich und äußerlich.

Sie selbst hatte sicher auch nicht zu seiner Entspannung beigetragen, doch sein niemals endender Durst nach Rache war das eigentliche Monster, dass ihm den Schlaf zu rauben schien.

Als er sie nun vor sich hielt und ihr Gesicht immer weiter an seines hob, bis Sakura auf den Zehenspitzen vor ihm tänzelte, war es ein ständiger Kampf in ihrem Kopf. Wie viel sollte sie zulassen, bevor sie sich selbst zur Hilfe kam? Wie viel wollte sie preisgeben? Sie würde ihn ohne weiteres von ihrem Hals wegkriegen, ein Handgriff und er würde sie loslassen, doch wie würde das ihren Plan begünstigen? Er sollte von Anfang an glauben, sie wäre keine wirkliche Gefahr, sollte sie an sich heranlassen — das tat er zwar im Moment auch, aber nicht so wie Sakura es gern gehabt hätte — und sie am besten in das Herz von Akatsuki führen.

Das Problem war nur, dass es kein Akatsuki mehr gab, dass sie infiltrieren und zerschlagen konnte. Sakura wusste allerdings, dass die übrig gebliebenen Verbrecher doch etwas planen mussten, sonst hätten sie nicht alles auf sich genommen, um die Bijūs gefangen zu nehmen. Und gerade weil sie solch eine Mühe auf sich genommen hatten, wusste Sakura, dass sie Kakashi, Tsunade und die anderen Anführer der Dörfer warnen musste.

Es blieb also dabei, dass sie erst einmal aushalten musste, was auszuhalten war und Sasuke an das schwache, erbärmliche Mädchen erinnern musste, dass ihm damals hinterhergelaufen kam.

Sie hatte auch damals schon gewusst, dass sie ihn niemals aufhalten könnte, doch der naive Versuch, ihn davon zu überzeugen, sie mitzunehmen, könnte ihr heute Türen öffnen, die sie damals Spaltbreiten geöffnet hatte.

"Warum hast du dann nicht die Tür geöffnet wie angedroht?" Wenn er doch nur wüsste. Das war genau das, was Sakura gerade tat. Sie öffnete sich Türen von denen er gar nicht wusste, dass sie existieren.

Doch nur, weil Sakura ihre Stärke nicht gleich ausspielen wollte, machte sie das nicht automatisch schlauer.

"Ich wollte die schöne Wandfarbe nicht vernichten, also hab ich lieber die Finger von der Tür gelassen", gab sie schnippisch zurück und hätte sich am liebsten selbst eine verpasst. Aber nein, sie musste so tun als würde sie zu ihren Worten stehen, sonst würde er das
als Schwäche erkennen.

"Ich hab doch gesagt, den Sarkasmus kannst du dir sparen." Sasuke drückte noch einmal fest zu. Ein unangenehmes Würgen ging durch Sakuras ganzen Körper, dann ließ er von ihr ab.

Sie ging fast in die Knie als sie endlich wieder vernünftig Luft bekam. Im ersten Moment zog ein stechender Schmerz in ihre Lunge, da sie sich zum ersten Mal wieder zur Gänze entfalten konnte.

Die Kommode war das einzige, was Sakura vor dem sicheren Sturz auf den harten Steinboden bewahrte. Sie krallte sich in die hölzerne Oberfläche und sah hoch zu Sasuke, der sich von ihr weggedreht hatte und auf den Boden starrte.

Manchmal wünschte Sakura sich wirklich, sie könnte Gedanken lesen.

"Dein Gesang war überall zu hören", sagte er irgendwann, seine Stimme brach zum Ende hin.

Sakura richtete sich wieder auf. Ihre Augen waren auf ihn und ihn allein gerichtet, während er alles ansah, nur nicht sie. Sasuke Uchiha war ein Feigling und Sakura musste ihn nicht heute ansehen, um das zu wissen. "Das war der Plan", erwiderte sie mit fester Stimme. Sie klang zwar noch etwas angeschlagen durch den Angriff auf ihren Hals, aber ihre Worte waren klar und deutlich.

"Ich hatte das Lied über den Bärenkönig fast vergessen, weißt du?"

"Es war mein Lieblingslied."

"Meins auch." Sasuke hob den Blick und sah Sakura in die Augen. Plötzlich hatte sie doch einen Kloß im Hals. "Deswegen wollte ich auch nicht mehr daran erinnert werden."

Im einen Augenblick war er noch drei Schritte von ihr entfernt, im nächsten zog Sasuke ein Kunai und hielt nur Millimeter von Sakuras Herzen in der Bewegung inne. Sie zog scharf die Luft ein und sah mit weit aufgerissenen Augen direkt in seine dunkle, verrottende Seele.

"Tu's doch endlich", zischte sie mit klopfendem Herzen. Sie hätte ihn beinahe einen Feigling genannt, überlegte es sich im letzten Moment aber doch anders. Es brachte nichts ihn zu beleidigen, es würde ihn nur begrenzt treffen. Im Kern würde sich nichts ändern.

Seine Hand fiel wieder zur Seite und mit ihr das Messer. Sakuras Atem stockte, als sie das Grinsen auf seinen Lippen sah. Er schnaubte. Seine dunklen Augen musterten jeden Zentimeter von ihrem angespannten Gesicht.

Es war fast wie in einem Delirium, wie seine linke Hand zuckte, als hielt er sich innerlich zurück. Dann hob er sie aber doch und ließ seine kalte Haut ihre heiße Wange streifen. Sakura hielt den Atem an, während Sasuke seine Fingerknöchel über ihre Stirn, ihre Schläfe und ihre Wange gleiten ließ.

Da war etwas wahnsinniges, etwas absolut angsteinflößendes an seinem gehobenen Mundwinkel.

Er wusste genau, was er tun musste, um auch Sakura um den Verstand zu bringen. Sasuke war ihr so nah, dass sie seinen rauchigen Geruch in der Nase hatte — ein Überbleibsel von seiner ständigen Verwendung des Chidori. Und Sakura wollte sich ihm hingeben. Wollte sich fallen lassen, die Augen schließen und sich gegen seine kalten Finger lehnen, die mit ihrer Haarsträhne spielte.

Doch der Tod stand immer noch mit ihnen im Raum, erst hatte er in der Ecke über sie gewacht, nun war er näher gekommen. Er stand genau zwischen ihnen, in diesen zehn Zentimetern, die seinen Körper von ihrem trennten.

"Ich kann nicht", flüsterte Sasuke schließlich und ließ seine Hand von ihrem Gesicht ab. Sakura hatte schon fast vergessen, was sie gesagt hatte, doch plötzlich war sie sich dem Kunai in seiner anderen Hand wieder schmerzlich bewusst. "Deswegen bist du noch hier. Ich kann erst mein volles Potenzial erwecken, wenn du tot bist. Aber wegen irgendwelchem sentimentalen Schwachsinn kann ich es einfach nicht."

"Ist das deine Rache an Konoha? Team 7 zu zerstören?" Da war nichts mehr von der Festigkeit von vorhin in ihrer Stimme. Es war mehr ein heiseres Flüstern als alles andere.

Sasuke entfuhr ein sanftes Seufzen. Er hob die Hand mit dem Kunai und drehte es so rum, dass es auf Sakuras Gesicht zeigte. Ihr wurde zum Erbrechen übel. In Konoha nahm man seinen Wahnsinn nicht im geringsten ernst genug. Sie traute ihm alles zu.

Die kalte Metallspitze berührte Sakuras Schläfe noch sanfter als seine Knöchel vorhin. Sakura versuchte von ihm abzurücken, versuchte sich weiter nach hinten zu drücken, um dem Kunai auszuweichen, doch es hatte keinen Sinn. Die Kommode drückte sich jetzt schon schmerzhaft in ihrem Rücken. Es gab kein Entkommen.

Er sah dem Messer mit grausamen Interesse dabei zu, wie es ihre weiche Haut streifte. Als sie zusammenzuckte schlich sich der Schatten eines Lächelns auf sein Gesicht. Schließlich benutzte Sasuke das Kunai, um ihr eine Strähne hinters Ohr zu stecken und trat dann einen Schritt zurück. "Team 7 ist schon zerstört. Jetzt muss ich nur noch die lästigen Splitter herausziehen und zerschlagen", drohte er. Die Nachricht war klar.

"Sperrst du mich deswegen weg? Um jegliche emotionale Verbindungen zu kappen?"

"Hör auf, mich zu psychoanalysieren."

"Schwierig, wenn du wie ein offenes Buch für mich bist." Und da war sie wieder, ihre unverbesserliche große Klappe. Wieso musste sie auch noch zusätzlich ständig diesen schnippischen Unterton in der Stimme haben? Das machte alles nur noch schlimmer. Sasuke mochte es anscheinend gar nicht, wenn man ihm widersprach.

Er sah sie einen Moment ausdruckslos an, dann hatte er anscheinend seine Gedanken genug gesammelt, um etwas auf ihren Kommentar zu erwidern.

"Vielleicht sollte ich Karin dich doch töten lassen." Oh nein, so leicht würde Sakura ihn nicht aus dieser Lage entlassen. Er hatte ihr heute eine Menge über sich preis gegeben, das er niemals gesagt hätte, wenn da nicht irgendeine Verbindung zwischen ihnen existieren würde.

Und genau diese Verbindung würde Sakura sich zu ihrem ultimativen Vorteil machen. Sie hatte Menschen schon immer gut lesen können, auch ohne, dass Sasuke ihr freiwillig so viel erzählte.

Diesmal war es an ihr, einen Schritt auf ihn zuzugehen, ihn in die Ecke zu treiben, sodass er ihr nicht mehr entkommen konnte.

Sasuke blieb an Ort und Stelle, während Sakura ihren Kopf in den Nacken legte und ihm aus der Nähe in die Augen sah. Sie musste die Oberhand zurückgewinnen.

"Es wäre aber nicht das Gleiche", sagte sie mit sanfter Stimme. "Es wäre nicht dieselbe Befriedigung, kein Schlussstrich. Du musst es schon selbst machen, Sasuke. Da gibt es keinen einfachen Weg hinaus."

Sie berührten sich nicht und doch spürten sie den Körper des anderen als wären sie miteinander verschlungen. Es war der Tod allein, der diese paar Zentimeter zwischen ihnen ausfüllte. Er ließ einen kalten Schauer über Sakuras Rücken jagen und ließ Sasuke zusammenzucken.

"Ich wünschte wirklich, du wärst in der Gasse gestorben", sagte er schließlich.

Nun war es an Sakura, ein Grinsen zu unterdrücken. "Das glaube ich dir sogar", gab sie zurück.

Die beiden sahen sich noch ein paar Sekunden wortlos in die Augen. Seine waren dunkel und tief, kalt wie der grausamste Wintertag und genauso wunderschön.

Dann neigte er schlagartig seinen Kopf nach unten und blieb so abrupt vor Sakuras Mund stehen, dass sie sich den gleichen Atemzug teilten.

"Deine Augen sind so viel schöner, wenn sie vor Angst weit aufgerissen sind", flüsterte er gegen ihre Lippen und drehte sich dann zur Tür.

Mit ein paar wenigen Schritten war er aus dem Raum und hatte Sakura fassungslos, bewegungslos, atemlos zurückgelassen.

Hatte er das bekommen, was er gesucht hatte? Hatte er ein Spiel gewonnen von dem Sakura gar nicht wusste, dass sie es gespielt hatten? Und was sollte sie nun allein in diesem kargen, einsamen Raum tun, wenn er sie gerade beinahe um den Verstand gebracht hatte?

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