Traumfänger: Teil VIII
„Wir müssen nur noch elf Minuten und 45 Sekunden überleben, Miss Featherstone", sagte der Doktor mit leicht belustigter Stimme. „Auf Drei. Eins... Zwei... Drei!" Der Doktor und Nina mussten noch elf Minuten und 42 Sekunden in der Wunschkammer ausharren, als sie von Schwärze umhüllt wurden, eine Armee von erlahmenden Menschen hinter sich ließen und gezwungen waren sich einem langen Fall hinzugeben.
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Als Nina die Augen öffnete, war sie sich nicht sicher, ob sie tatsächlich offen waren. Doch dem war so. Unter sich spürte sie einen festen Boden und die Luft war unauffällig normal; weder zu warm noch zu kalt, weder zu feucht noch zu trocken. Und dennoch konnte sie absolut nichts erkennen. Nichts als Schwärze traf auf ihre Netzhaut. Verwirrt blickte sie sich um und konnte zumindest mit Erleichterung feststellten, dass der Doktor noch bei ihr war und sie ihn sehen konnte. Sie befanden sich nicht in Dunkelheit, denn ihr Reisebegleiter war problemlos zu erkennen, es wirkte einfach so, als wären Boden, Wände und Decke so pechschwarz, dass nichts davon auszumachen war.
„Doktor, wo sind wir?", fragte sie nach in der Hoffnung, er könne eine beruhigende Antwort geben. Aus irgendeinem Grund jagte ihr diese Schwärze mehrere Schauer über den Rücken. Wer wusste, ob etwas in der Dunkelheit lauerte. Oder war es die Todesangst, die Unterbewusstsein hervorrief?
Er richtete sich allmählich auf und half seiner Begleiterin auf die Beine. Dabei schaute er sich um. „Ich hab' keine Ahnung", gab er offen zu ganz zu Ninas Bewunderung. Sowieso schien er den langen Fall schwerer wegzustecken als sie: Seine Augen waren nicht komplett geöffnet und es schien ihm schwerzufallen etwas zu fokussieren. Nicht so, dass es etwas zu fokussieren gäbe, aber trotzdem, der Doktor war eindeutig groggy.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?", fragte Nina besorgt nach. „Noch elfeinhalb Minuten, dann sind wir hier draußen. Mit etwas Glück müssen wir solange nur noch ausharren und nicht mehr vor irgendetwas wegrennen."
„Alles gut", erwiderte er und fasste sich an den Kopf. „Ich hab' nur etwas Kopfschmerzen. Dieses verdammte Serum...!" Er drehte seinen Kopf leicht weg und kniff die Augen zusammen. Dann blinzelte er mehrmals heftig.
Ninas Bild verdoppelte sich vor seinen Augen. Was war nur los mit ihm? Sollte das Serum tatsächlich so heftige Reaktionen auslösen können? Plötzlich zog sich ein scharfer Schmerz durch seinen Schädel und er wandte sich weg und hielt sich den Kopf. Mehrmals blinzelte er heftig, um sein Bild wieder zu verschärfen, doch es brachte nichts.
„Das sieht nicht nach ‚etwas Kopfschmerzen' aus, Doktor", sprach seine Begleiterin zu ihm. Er meinte nicht nur Besorgnis, sondern auch Vorwurf herauszuhören, allerdings nahm er ihre Stimme nur am Rande war. Der Schmerz wanderte weiter, breitete sich in seinem gesamten Körper aus. „Doktor!" Es war nur noch ein Hallen, das er wahrnahm. Wieder kniff er seine Augen zu, da ihm von Ninas verschwimmenden Bild nur übel wurde.
„Doktor...!"
Abermals öffnete er die Augen, doch geschah dies nur sehr mühevoll. Das war nicht Nina gewesen, die seinen Namen gesagt hatte. Auch die Frau, die vor ihm stand, war nicht Nina. Sie hatte zwar ihre Größe, doch ihre Haut und Haare waren dunkler. Mit einem Mal verschwand der ganze Schmerz, der den Doktor geplagt hatte. Im Gegenteil, er meinte körperlich gar nichts mehr zu fühlen, als wäre er unter Drogen, was er technisch gesehen auch war. „Martha?", hauchte er fassungslos.
„Doktor." Wieder sagte sie seinen Namen. Sie stand einfach da, lächelte nicht, weinte nicht, schaute ihm nur direkt in die Augen.
„Mach das nicht", bat der Time Lord mit ruhiger Stimme, obwohl er doch sehr betroffen wirkte. „Tu mir das nicht an. Schau mich nicht so an, Martha." Die Frau stand weiterhin nur da, ohne einen Ton zu sagen oder einen Muskel zu regen.
„Doktor?" Nina war verwirrt. „Wer ist Martha? Ich bin nicht Martha. Ich heiße Nina, Nina Featherstone. Erinnern Sie sich? Sie haben sogar meinen Namen gekannt, ehe ich mich Ihnen vorgestellt habe!" Der Doktor stand vor ihr mit einem seltsam glasigen Blick und schaute sie an ohne sie richtig zu sehen. Gerade hatte er sie mit Martha angesprochen und allem Anschein nach war er einem Nervenzusammenbruch nahe.
„Oh, Martha Jones, es tut mir so leid", meinte er auf einmal. Bildete Nina sich das nur ein oder wurden seine Augen feucht? „Ich habe Sie nie verletzen wollen. Ich wünschte Sie hätten nie Gefühle für mich entwickelt, die ich nicht erwidern kann..."
„... dann hätten Sie nicht gehen müssen", endete der Doktor. Er musste schlucken. Seine Kehle war verräterisch trocken geworden, seine Augen dafür umso nasser. „Ich wäre so gerne mit ihnen weitergereist. Es tut mir leid!" Sie starrte ihn nur an.
Schuldgefühle stiegen ihn ihm auf und sorgten dafür, dass sein Selbsthass wieder an die Oberfläche geholt wurde. Wieso musste er nur alle verletzen, die ihm lieb waren?!
„Ist Martha eine Ihrer früheren Begleiter gewesen?", fragte Nina nach. „Was ist los mit Ihnen, Sie werden sonst nie so sentimental! Das ist das Serum, oder? Das muss es ja..." Der Doktor stand nur vor ihr und redete von vergangenen Zeiten.
„Doktor...?" Ihre Stimme wurde wie auch ihre Körper plötzlich schwächer. In ihrem Kopf pochte es immer heftiger und es fiel ihr schwer sich zu konzentrieren. Als ob es etwas helfen würde, klopfte sie sich mehrmals gegen die Stirn. Natürlich brachte das nichts. „Mann, Doktor", murmelte Nina benommen. „Ich brauche Sie, verdammt..."
Der Doktor konnte diesem ausdruckslosen Blick nicht länger standhalten. Er sah zu viel Vorwurf darin. Er kniff die Augen zusammen und bat zu sich: „Es tut mir so, so leid. Bitte..."
„Doktor."
Wieder eine andere Stimme. Erschrocken öffnete er die Augen. Keine Martha mehr, dafür blondes Haar und helle Haut. „Nein...", wisperte er. „Rose..."
Abermals waren da dieser starre Blick und der stumme Vorwurf. „Bitte nicht, Rose", flehte der Doktor verzweifelt. „Tu mir das nicht an. Du weißt nicht, wie sehr ich mich schon dafür gestraft habe..."
„Ach, und wer ist jetzt Rose?" Allmählich wurde Nina wütend und die Kopfschmerzen unterstützen das nicht gerade. „Ich weiß ja, dass Sie einige Begleiter hatten, aber kann es sein, dass es sich dabei hauptsächlich um Frauen gehandelt hat? Sehr toll. Ich bin also eine von vielen, verstehe." Ihre Wut trieb ihr Tränen in die Augen.
„Ich wollte nie, dass du mich verlässt", wehklagte der Doktor. „Du weißt, dass ich noch so viel länger mit dir reisen wollte. So lange, wie nur irgend möglich. Es ist alles meine Schuld. Wir hätten so einfach zusammenbleiben können."
Schlagartig änderte sich Ninas Haltung. „Okay, wow..." Sie spürte auf einmal einen starken Schmerz in der Brust, der dafür sorgte, dass tatsächlich eine Träne ihre Wange herunterkullerte. „Das hat jetzt getroffen."
Ihre Kopfschmerzen klangen ab und sie fühlte sich immer benommener. Aber auch immer sorgloser. Ihre Wahrnehmung verschlechterte sich, doch ihr machte das nichts aus. Im Gegenteil, aus irgendeinem Grund befreite sie das sogar.
Der Doktor blinzelte nur kurz und ganz plötzlich war Rose Tylers Bild verschwunden. Der ganze Schmerz und die Schuldgefühle, der sich in ihm aufgestaut hatten, als er seine früheren Begleiterinnen gesehen hatte, verschwanden genauso schnell, wie sie erschienen waren. „Was...?", machte er verwirrt. Vor ihm befand sich Nina mit glasigem Blick und einem leichten Lächeln auf den Lippen. „Nina, hatte ich gerade Halluzinationen oder haben Sie auch..."
„Psssst", machte sie gespielt vorwurfsvoll. „Sie stören die Musik." Mit diesen Worten begann sie sich leicht hin und her zu wiegen.
„Welche Musik?", fragte er verwundert. „Da ist keine..."
„Pssst!" Abermals gab sie ihm zu bekennen, dass er ruhig sein sollte. „Sie ist so wunderschön! Und dann noch dieser Schnee..." Sie hielt eine Hand ausgestreckt und blickte nach oben, als wolle sie eine Schneeflocke fangen.
„Nina..."
Es war verzaubernd wie schimmernde Lichter herabrieselten als wären sie Schneeflocken. Sobald sie den Boden berührten, leuchteten sie noch einmal kurz auf und dann verblassten sie. Dazu spielte diese schöne Musik. Sie kam Nina seltsam bekannt vor. Die junge Frau sah, dass der Doktor ihr etwas mit besorgtem Blick mitteilen wollte, doch sie konzentrierte sich voll und ganz auf die Musik und den Schnee. Woher kannte sie diese Melodie?
Und dann fiel es ihr wieder ein. Ihre Augen glänzten durch ihr breites Strahlen, als sie dem Doktor mitteilte: „Das ist die Musik von meinem allerersten Solotanz!" Ohne auf eine Reaktion zu warten, begann sie zu tanzen. Es war fünf Jahre her, dass sie diese Choreographie auf der Bühne aufgeführt hatte, und trotzdem konnte sie sich noch an das meiste erinnern. Damals war dieser Tanz eines ihrer schönsten Erlebnisse in ihrem Leben gewesen.
Während sie so tanzte im Lichterschnee, bemerkte sie gar nicht, dass sie den Doktor nicht mehr sehen konnte. Tatsächlich hatte sie sogar ein leichtes Déjà-vu.
„Nina? Nina?!" Seine Begleiterin hatte irgendetwas von einem Solotanz erzählt und dann war sie einfach davongesprungen. Der Doktor drehte sich mehrmals um sich selbst, doch nichts als Schwärze. Auch hatte er keine Ahnung, von was für einer Musik sie geredet hatte, geschweige denn welchen Schnee sie gemeint hatte. Was jetzt? Ihnen blieben noch nicht ganz vier Minuten.
„Doktor...", wisperte jemand. plötzlich. Blitzschnell drehte er sich um, doch da war niemand. „Doktor...", flüsterte jemand anderes aus einer anderen Richtung. Wieder wandte er sich um: „Wer ist da?"
Das Wispern wurde immer mehrstimmiger und somit auch lauter.
„Doktor..."
Er konnte keine Stimme identifizieren. Immer wieder drehte er sich in der Hoffnung, jemanden oder etwas zu erkennen, doch vergebens.
„Wir sind hier."
Die Stimmen waren hinter ihm. Ein letztes Mal wirbelte er herum, dann stockte er. Ihm fehlten die Worte. Vor ihm standen Millionen, nein, Milliarden von Männer, Frauen und Kindern. Und sie alle trugen signifikante rot-goldene Roben.
Vor ihm stand die Bevölkerung Gallifreys.
Nina brauchte einige Sekunden, bis sie bemerkte, dass die Musik nicht mehr spielte und kein Schnee mehr fiel. „Huch?", machte sie überrascht. „Was ist denn passiert?" Um sie herum war nichts als Dunkelheit. „Doktor?"
Ihr Hirn wurde allmählich klarer. Die Sorglosigkeit verschwand und ihre Ängste und Kopfschmerzen kehrten zurück. Was war gerade losgewesen? Weswegen hatte sie sich so benommen? Und warum war sie alleine? „Doktor, wo sind Sie?"
Sie erhielt keine Antwort. Stattdessen hörte sie ein anderes Geräusch. Es klang so... als würde ein Auto fahren. Nur ein wenig musste sie ihren Kopf drehen, um zu erkennen, dass dort tatsächlich ein Auto war. Einige Schritte ging sie näher. Es schien sich tatsächlich zu bewegen, da sich die Räder drehten und es ab und zu leicht auf und ab ruckelte, so, als würde es über eine Unebenheit fahren. Dennoch rührte sich das ganze Fahrzeug kein Stück von der Stelle.
Was Nina aber erschreckte, waren die Leute, die in dem Auto saßen. Sie sah von schräg-vorne auf das Gefährt und hatte somit perfekten Einblick durch die Windschutz- und Fahrerschreibe. „Mum?", hauchte sie. „Dad?"
„Noch mehr schlechtes Gewissen, wie?", meinte der Doktor gereizt zur Gallifrey-Menge. „Als ob ich davon nicht schon genug hätte...!"
Im Gegensatz zu Martha und Rose vorhin, blickten die Time Lords Ladys und die Kinder zwar ausdruckslos, aber sie waren keineswegs ruhig. Alle redeten sie durcheinander, sagten etwas anderes, sodass der Doktor nur einzelne Fetzen heraushören konnte.
„Warum...?"
„... in Stich gelassen..."
„... egoistisch..."
„Genozid."
Der Doktor wich zurück: „Nein... Nein! Hört auf! Ich wollte das Universum retten!" Sie hörten nicht auf, sie begannen langsam zu laufen, den Doktor einzukreisen, sodass er nicht mehr entkommen konnte.
„Hört auf!" Sie hörten nicht auf.
„Nein! Bitte...!" Immer wieder drehte er sich um die eigene Achse, um jedem ins Gesicht blicken zu können. Er wollte jedem klarmachen, dass es ihm wirklich aus tiefsten Herzen leidtat. Dass er jeden Tag für seine Sünden mit Einsamkeit büßte.
Nina rührte sich kein Stück. Sie sah ihre Eltern scherzend im Auto sitzen, alles war in bester Ordnung, und sie wusste, was passieren würde. Auf keinen Fall wollte sie das mit ansehen, aber sie konnte sich nicht abwenden oder die Augen schließen. „Bitte nicht...", hauchte sie.
Als hätte etwas auf diese zwei kleinen Wörtchen gewartet, gab es einen gewaltigen Krach. Nina zuckte heftig zusammen. Das ganze Auto wurde von etwas Unsichtbaren eingedellt und die Mitfahrer auf ihren Sitzen hin und her geschleudert. Die Windschutzscheibe bekam sogar Risse. Das alles dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde, aber es reichte aus, dass das Auto ein Totalschaden und die zwei leblosen Körper tatsächlich leblos waren.
„Nein!", schrie Nina verzweifelt. „Mum! Dad!" Sie begann heftig zu zittern und zu schluchzen und Tränen rannen über ihr Gesicht. Am liebsten wäre sie zu den Überbleibseln des Fahrzeugs gerannt, doch sie konnte sich immer noch nicht bewegen. All die Jahre der Verarbeitung und es hatte nichts gebracht. Zwei der ihr liebsten Menschen waren soeben vor ihren Augen gestorben. Illusion hin oder her, das war viel zu real, um es mit der kalten Schulter anzuschauen. Sie hatte das Gefühl jemand hätte ihr in den Magen geschlagen. Schon zum dritten Mal heute musste sie gegen den Brechreiz ankämpfen. Gleichzeitig musste sie auch mit ihrer Lunge um Luft kämpfen. Es war, als wolle ihr Körper keine mehr aufnehmen.
Dann war plötzlich alles so wie vorher. Das Auto fuhr, ihre Eltern redeten und lachten. Erschrocken hielt Nina inne, bis sie begriff, was geschah. „Nein", flehte sie. „Nein, bitte nicht noch einmal. Nicht..." Doch sie konnte nichts daran ändern, dass es wieder passierte. Der Krach, die Wucht und anschließende Stille. Abermals schrie Nina auf.
Während sie sich immer und immer wieder mit ansehen musste, wie ihre Eltern bei einem Autounfall starben, konnten ihre Beine sie irgendwann nicht mehr tragen. Sie brach zusammen und heulte und schluchzte und bebte am ganzen Körper. Sie lag seitlich auf dem Boden, immer noch dem Unfall zugewandt. Ihre Tränen flossen nun von einem Auge über den Nasenrücken zum anderen und dann über die Schläfe. Es war alles so unerträglich, dass sie begann zu schreien. Hauptsache, dieses schreckliche Geräusch des Aufpralls wurde übertönt.
In ihren Ohren wurde ihr eigenes Schreien immer lauter und grässlicher und markerschütternder, bis sie verstand, dass dieser Schrei nicht mehr von ihr kam. Es kreischte entsetzlich in ihren Hörorganen, sodass sie ihre Hände auf ihre Ohren presste, aber es brachte nichts. Es war in ihrem Kopf. Das war der verzweifeltste und grausamste Schrei, den Nina in ihrem ganzen Leben gehört hatte. Es schien nichts Menschliches zu sein. Eigentlich konnte sie es absolut gar nichts zuordnen, es war dermaßen abartig. Der Schrei hielt immer noch an, als sich ihr Umfeld aufhellte und sie sich in einem schneeweißen Raum wiederfand. Die Wunschkammer! Es war vorüber. Aber warum hörte sie immer noch diesen Schrei?
Jemand rüttelte an ihr. Allmählich und dann immer schneller klang das Kreischen ab, sodass Nina nur noch sich selbst Schreien und Heulen hörte. „Nina! Nina, alles in Ordnung! Es ist vorbei." Sie kannte diese Stimme. Sie hörte auf zu schreien, doch die Tränen und das Schluchzen ging weiter. Sie hatte ihren Körper nicht mehr im Griff. „Es ist alles gut", sprach der Doktor wieder. Ihr Blickfeld war so verschwommen, dass sie ihn nicht erkennen konnte. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen", meinte er sanft. Sie spürte, wie er ihren Oberkörper nahm und sie aufrichtete. Nina wollte ihm helfen, doch sie war zu schwach. Momentan konnte sie gar nichts mehr zustande bringen, außer Schluchzen und Weinen. Immerhin klang sogar das langsam ab.
„Es ist alles gut", wiederholte der Doktor immer wieder. „Wir haben es geschafft. Wir haben drei Stunden in dieser Wunschkammer überlebt! Aber sind wir mal ehrlich, wenn es jemand schafft, dann wir." Nina beruhigte sich wieder. Sie begann gleichmäßiger und ruhiger zu atmen. Auch ihre Wahrnehmung wurde wieder besser. Der Doktor kniete vor ihr und blickte sie besorgt lächelnd an. Ihr war aufgefallen, dass seine Stimme zwar fröhlich klang, aber sich auch etwas Dunkles daruntergemischt hatte.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass auch ihr Herz wieder einigermaßen normal schlug, wischte sie über ihr nasses Gesicht. „Es tut mir leid", sprach sie matt, „dass ich Sie überredet habe in den Gedächtnispalast zu gehen. Und dass Sie meinen Nervenzusammenbruch eben mit ansehen mussten. Das war wirklich..."
„Ich will nichts davon hören", fiel ihr der Doktor ernst ins Wort. „Es ist nicht Ihre Schuld und auch nicht meine." Plötzlich legte sich ein Schatten über sein Gesicht. „Schuld hat dieser Professor." Mit keinem Wort hatte der Doktor eine Drohung ausgesprochen, doch sein Blick und Ton waren so finster, dass sogar Nina sich etwas fürchtete. Sie wusste jetzt, was dieser Unterton in seiner Stimme war, nämlich Wut. „Können Sie aufstehen?", fragte er nach. Als Antwort tat sie es, wenn auch unbeholfen. Der Doktor stützte sie, als sie die Wunschkammer verließen.
Im Warteraum schloss er den Tresor mit den Wertsachen auf, während Nina sich hinsetzte. Sie fühlte sich erschöpft und schniefte noch immer etwas. Die beiden sprachen kein Wort. Er reichte Nina ihr Handy und warf sich dann seinen Mantel über die Schultern.
Etwas sehr, sehr Schweres lag in der Luft und würde nicht so schnell verschwinden. Es war mehr als nur Trauer, Schock oder Bedrücktheit. Eine unbeschreibliche Last lag auf ihren Herzen.
Als sie den Wunschraum verließen, hasteten gleich mehrere Aliens auf die beiden zu. Die junge Frau war noch zu groggy, um alles aufzunehmen, aber sie erkannte F-Red-D und Kheylala. Dennoch wollte sie jetzt nicht reden und trat vorsichtig einen halben Schritt hinter ihren Begleiter. Den Kopf hielt sie gesenkt, da sie nicht wollte, dass noch jemand ihr verheultes Gesicht sah. „Doktor! So heißen Sie doch, nicht wahr?", sprach ein alter, sehr haariger Alien mit grün-schwarzer Haut und einem Anzug, der aus der Menge hervortrat. „Mein Name ist Professor Sintus, ich bin der Gründer dieser Einrichtung. Es ist mir eine Ehre, Ihnen und Ihrer Begleiterin meine herzlichsten Glückwünsche..."
„Ist das Ihr Ernst?", unterbrach der Doktor ihn aufgebracht. „Nach allem, was wir durchgemacht haben wegen Ihnen und Ihrer Einrichtung, wollen Sie uns Glückwünsche aussprechen? Und für was, frage ich mich. Dafür, dass wir als Erste nach drei Stunden in einem Stück rausgekommen sind? Oder dass wir tatsächlich die Ersten Überlebenden sind?"
Der Professor räusperte sich kurz. Augenblicklich schlug seine Stimme von herzlich zu sachlich. „Doktor, ich weiß Sie sind ein kluger Mann..."
„Das weiß ich auch."
„... Ich frage mich nur, ob sie Wissenschaft verstehen. Manchmal muss man für sie, für einen besseren Zweck, einige... Kollateralschäden in Kauf nehmen." Sein Auftreten vermittelte Überzeugung. Es würde nicht leicht sein, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden.
„Sie nennen Leben ‚Kollateralschäden'?" Der Time Lord wurde immer wütender, er spuckte schon beim Sprechen. „Sie können froh sein, wenn ich nur die Schattenproklamation informiere! Aber glauben Sie mir, Professor..." Seine Verachtung wurde mit jedem Wort deutlicher. „Einige Lebensform wissen, wie ich sein kann. Sie wissen, dass ich manchmal nicht wegrenne, weil ich Angst habe, sondern weil ich die Güte besitze ihnen die Chance zu geben, von mir abzulassen. Hoffen Sie, dass ich Ihnen diese Möglichkeit ebenfalls gewähre. Die Hölle, die meine Begleiterin und ich durchmachen mussten, ist harmlos im Vergleich zu dem, was sie erleben könnten..."
An diesem Punkt stoppte er. Nicht, weil er alles gesagt hatte, was er zu sagen hatte, sondern weil Nina stumm seine Hand genommen hatte. Er hatte sich in Rage geredet. Nina war er immer furchteinflößender erschienen, sie hatte tatsächlich Angst bekommen. Angst, dass er sich verlor... dass er seine Worte wahr machen würde. Denn eins wusste sie sicher: Er hatte keine leeren Drohungen gesprochen; wenn er wollte, konnte er grausam sein. Sie hoffte, dass sie das nie erleben müsste. Sie hoffte, dass sie ihn jedes Mal beruhige könnte, so wie jetzt.
Der Doktor und Nina liefen schweigend nebeneinander durch die Mall. Sie befanden sich auf dem Rückweg zur Tardis. Immer noch war Alles bunt und lebte und erfreute sich am Leben, aber im Gegensatz zu vor ein paar Stunden, konnten sich die zwei Reisenden nicht daran erfreuen. Es war, als würde eine Blase sie vom Rest abschirmen. Ninas Körper fühlte sich bleischwer an. Beide waren sie in ihren Gedanken versunken, wussten, dass irgendjemand das Schweigen brechen musste.
Es war Nina, die es mit matter Stimme tat: „Haben Sie am Ende... auch dieses Kreischen gehört?" Sie bekam eine Gänsehaut bei dem bloßen Gedanken daran. Der Doktor nickte mit finsteren Blick. „Oh ja, und das ist noch nicht alles. Ich weiß nicht, wie es Ihnen erging, aber dieses Schreien hat nicht mit der Wirkung des Serums aufgehört..."
„Mir ging es genauso", bestätigte sie.
„Das heißt, das war etwas, das nicht von der Wunschkammer projiziert worden ist. Deswegen habe ich den Puddingmann gefragt, was das verursacht hat, als wir auf die Abgeordneten der Schattenproklamation gewartet haben. Er hat nicht gewusst, wovon ich gesprochen habe. Niemand hat das. Keiner hat das gehört, nur wir." Nina war erstaunt und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war zu müde, um sich darüber jetzt den Kopf zu zerbrechen. Abermals verfielen sie in Schweigen.
Dieses Mal brach es der Doktor, nicht minder müde und ernst: „Haben Sie vor mir irgendwann zu erzählen, bei wessen Beerdigung Sie das Trauerkleid getragen haben, das wir in der Wunschkammer gesehen haben?" Die junge Frau blieb vorerst stumm. Sie hatte geahnt, dass dieses Thema früher oder später angeschnitten werden würde. Ehe sie etwas erwidern konnte, nahm ihr der Doktor die Worte aus dem Mund: „Ich werde Ihnen im Nachhinein von diesen ganzen Klamotten meinerseits erzählen und inwiefern sie mich wiederspiegeln." Er blickte sie an, auch wenn sie es nicht sah, da ihre Augen zu Boden gerichtet waren. „Versprochen."
Es dauerte einige weitere Momente, bevor Nina den Blick weiterhin zum Boden gerichtet antwortete: „Es war die Beerdigung meiner Eltern. Vor vier Jahren gerieten sie in einen Autounfall. Sie sind sofort gestorben. Mein Bruder und ich sind zuhause gewesen und haben nichts gewusst. Erst, als die Polizei angerufen hat..." Sie stoppte und holte tief Luft. „Wir waren beide noch minderjährig, sechzehn und siebzehn, deswegen hat meine Tante seitdem mehr oder weniger auf uns aufgepasst. Aber sie ist ein Zugvogel. Sie hat es nicht ausgehalten, lange an einem Ort festzusitzen. Sobald mein Bruder achtzehn wurde und wir somit beide volljährig waren, ist sie weggezogen."
„Das tut mir wirklich leid." Der Doktor hatte alles geduldig mit angehört. „Die Anrufe und Textnachrichten, die Sie heute so fleißig ignoriert haben... stammen also von Ihrem Bruder?" Es war mehr eine Frage als eine Feststellung.
„Ich weiß, ich sollte ihn anrufen. Aber..." Sie umklammerte ihr Handy in der Hosentasche. „Es fühlt sich so an, als hätte ich ihn zurückgelassen, als ich mit Ihnen mit bin." Sie knabberte auf ihrer Unterlippe. „Irgendwo wollte ich das sogar... Ich wollte alles, das mich an dieses verdammt graue Leben bindet, hinter mir lassen..."
„Wollen Sie zu ihm zurück?", versuchte der Doktor ihre Gewissenbisse zu deuten.
„Irgendwann mal, sicher." Unbewusst zuckte sie mit den Schultern. „Mit einer Zeitmaschine wird er mich nicht lange vermissen. Nur... Ich habe ihn so lange nicht angerufen... Wie soll ich ihm das erklären?" Sie stellte die Frage sich, nicht dem Doktor, deswegen ließ er sie überlegen. Sie holte ihr Handy heraus und starrte auf ihr Display. „Die Wahrheit... werde ich ihm nicht sagen. Sonst kommt er noch auf den dummen Gedanken, dass er mitmachen könnte. Ich will nicht, dass er so etwas mitmachen muss, wie wir heute. Nein, niemals!" Leicht schüttelte sie den Kopf bei diesem Gedanken. Es war schon schlimm genug für sie und, ganz ehrlich, ihr war schon wieder nach Weinen zumute. Was sie nicht dem Doktor erzählte, war, dass ihr Bruder momentan nicht das einzige war, das sie belastete. In der Wunschkammer hatte der Time Lord geglaubt zwei seiner früheren Begleiterinnen getroffen zu haben und sie hatte gehört, wie er mit ihnen geredet hatte. Dass ihm andere Menschen so an seinen Herzen lagen, höchstwahrscheinlich mehr als sie, stimmte sie traurig. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie ein bloßer Platzhalter, ein Spielzeug, weiter nichts.
Traurig lächelte der Doktor als Zeichen der Zustimmung bezüglich ihres Bruders. Ohne sie anzusehen, nahm er ihre Hand. Sie erwiderte den Druck und hatte eine Entscheidung gefasst: Was der Doktor in ihr sah, war etwas, worüber sie heute nicht nachdenken würde. Sie drückte ein paar Tasten und hielt sich anschließend das Handy ans Ohr.
Die beiden gingen Hand in Hand und für ihr Leben geprägt Richtung Ausgang und wurden Eins mit der Masse von Lebensformen in der Mall, während Nina zu ihrem Bruder sprach: „Hey, Luke. Ich bin's..."
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