Traumfänger: Teil VII

           

Die beiden bremsten nur leicht ab, bevor sie sich jeweils gegen eine Seite der Tür stemmten und diese aufdrückten.


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Sie purzelten und stolperten nicht in die alte Turnhalle, wie Nina es erwartet hätte, sondern auf eine Wiese. Doch bevor sie ihre neue Umgebung inspizierten, wandten sie sich hastig um, bereit weiter von dem schrecklichen Tyrannosaurus Rex davonzulaufen. Aber er war verschwunden.

Um sie herum befand sich nur eine scheinbar endlose Wiese. Jedoch wirkte sie bei näherer Betrachtung nicht so friedlich wie gedacht. Das Gras war perfekt: Jeder Halm hatte die gleiche Länge, die gleiche Farbe; kein Stück Erde war dichter oder spärlicher bewachsen als ein anderes und das Grün war unnatürlich grell. Auch der strahlendblaue Himmel war... einfach zu blau. Zu blau und ohne Wolken oder Sonne. Das einzige, das nicht zu diesem Schema passte, war die Tatsache, dass sie sich am Hang eines Berges zu befinden schienen. Zu ihrer rechten ging die Erde nach oben, der Kamm war zu erkennen. Nach links ging es weiter nach unten, eine kleine Anhöhe verhinderte die komplette Sicht nach unten. Diese unnatürliche Perfektion löste in Nina Unbehagen aus. Jetzt, da sie wieder ruhiger war, wurde ihr wieder bewusst, wie stark ihre Kopfschmerzen waren. Sie wusste, dass sie erst vorbei sein würden, bis die drei Stunden komplett abgelaufen waren. Bis dahin mussten sie noch genau 32 Minuten überleben.

„Sehen Sie mal dahinten", fiel dem Doktor auf und blickte in die Ferne. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und auf einige Punkte fixiert. Nina erkannte sie auch. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln liefen beide darauf zu. Ein paar Mal mussten sie auf- und ablaufen, da der Hang selbst hügelig war. Dabei verloren sie die Punkte auch ab und zu aus den Augen, doch sie wurden letztendlich schneller größer als es sonst der Fall war.

„Das sind Menschen", stellte Nina überrascht fest, sobald sie angekommen waren. Vor ihnen erstreckte sich ein Feld voller Menschen. Alle hatten sie einen ähnlichen Abstand zueinander, ungefähr siebeinhalb Yards, und sie schienen nicht miteinander zu interagieren. Sie standen nur herum. „Oder menschenähnliche Wesen", ergänzte der Doktor reserviert. Während sich die junge Frau noch einige Schritte auf die Menschen zubewegte, blieb der Time Lord stehen. „Sie... bewegen sich gar nicht", stellte Nina fest. Die Menschen standen nicht nur da, sie schienen wie versteinert. Mitten in einer Armbewegung hatten sie gestoppt; als hätte man einen Film pausiert.

Auf einmal lief Nina eine Gänsehaut den Rücken herunter. Sie wusste nicht, wieso, aber Beklommenheit und Entsetzen machten sich in ihr breit. „Was ist mit ihnen los?" Ihr Blick hing gebannt auf den Menschen, auch wenn sie ihn eigentlich abwenden wollte. Diese erstarrten Menschen machten ihr Angst und doch war sie von ihnen angezogen. Die Stimme des Doktors war bedrückt, als er antwortete: „Das ist es, was eine Rongaa-Schlange hinterlässt. Ihr Gift lähmt jegliche Form von Lebewesen und lässt sie allmählich erstarren. Ein langsamer und qualvoller Tod. Es tut nicht weh, aber man muss mit ansehen, wie der eigene Körper nicht mehr gehorcht und das Unausweichliche eintritt. Es ist, als würde man lebendig begraben werden. Kennen Sie diesen Lähmungszauber aus Harry Potter?"

„Ja?", erwiderte Nina beiläufig. Sie näherte sich einem jungen Mann, der einen Arm hilfesuchend ausgestreckt hatte.

„Genau so ist das. Nur anders."

Nina hob die Hand. „Tun Sie das nicht!", rief der Doktor energisch, doch da hatten ihre Fingerspitzen bereits den Unterarm berührt. Schnell zuckte sie zurück. Ein Kribbeln ging von ihren Fingern aus und zog sich durch ihren ganzen Körper. Es erinnerte sie an die Zahnarztbesuche, an denen ihr halber Mund betäubt wurde, um Löcher schmerzfrei zu verschließen. Sie rieb sich die Hand, um dort wieder ein Gefühl zu bekommen, das tat sie allerdings nur nebenbei. Sowieso gelangte das unangenehme Kribbeln nur an den Rand ihres Bewusstseins.

Erschrocken starrte sie in das Gesicht des Mannes. Es hatte sich ihr bei dieser winzigen Berührung blitzschnell zugewandt. Seine braunen Augen bohrten sich in sie und schien ihre komplette Seele zu durchdringen. Jedoch war er nicht der einzige, nein... Soweit Nina das beurteilen konnte, hatten alle erstarrten Menschen sich ihr zugewandt. Ihre Angst wuchs.

Der Doktor nahm sie an den Schultern und schob sie zwei Schritte von dem jungen Mann weg: „Das ist das Tückische am Rongaa-Gift: Fasst man einen Vergifteten zu lange an, wird man selbst vergiftet, egal in welchem Stadium man sich befindet. Fast wie ein Virus. Die Inkubationszeit beträgt nur einige Sekunden. An sich eine sehr clevere Art zu töten. Die Rongaa-Schlange muss nur einen vergiften und sie reißt mindestens ein Dutzend andere ebenfalls in den Tod. Jetzt kommt der Nachteil: Eigentlich sind die Rongaa-Schlangen sehr friedliche Wesen. Wenn sie jemanden vergiften, war das versehentlich."

Nina erwiderte erst nichts. Sie hielt immer noch ihre Arme vor ihrer Brust, eine Hand rieb wie in Trance die andere. Ihr Blick blieb am jungen Mann haften, der sie so durchdringend anstarrte. „Mir passiert aber nichts, oder?", murmelte sie schließlich.

„Oh nein!", machte der Doktor scheinbar gut gelaunt. „Das war kaum eine Berührung! Sie haben vermutlich ein kurzes Betäubungsgefühl gespürt, aber mehr geschieht auch nicht, vertrauen Sie mir." Sie nickte: „Und... warum schauen mich alle an?"

Die gute Stimmung des Doktors verschwand: „Sie sind noch nicht komplett erstarrt." Sie merkte, dass er der eigentlichen Frage auswich, doch sie wollte nicht weiter nachbohren. Diese unerklärliche Angst schüchterte sie ein und die Kopfschmerzen machten es nicht besser.

Dass sie durch das Feld der erstarrten Menschen laufen würden, war beiden klar. So setzten sie sich in Bewegung. Erst dann nahm der Doktor seine Hände wieder von Ninas Schultern, dennoch blieb er in ihrer Nähe.

Während sie liefen, bewegten sich die Köpfe der Menschen. Mit ihren Blicken folgten sie dem Pärchen. Wenn man es genauer nahm, folgten sie Nina. Sie fühlte sich berechtigterweise beobachtet. Von überall gab es ein Paar Augen, das ihre Seele offenbarte. Die Gesichter aller Menschen waren ausdruckslos, starr, aber nicht tot. Im Gegenteil, die junge Frau hatte noch nie so viel Leben in menschlichen Gesichtern erkannt. „Sie rufen nach Hilfe", wurde Nina auf einmal klar. „Sie sind nicht real, Nina", erwiderte der Doktor ruhig. Er lief direkt hinter ihr, sodass sie die Wärme spüren konnte, die von seinem Körper ausging. „Und wenn sie es wären, könnten wir ihnen keine Hilfe geben." Sie wusste, dass er Recht hatte.

Unbewusst lief sie schneller. Hastiger schaute sie sich um, blickte von einem Gesicht ins andere. Männer, Frauen, Junge, Alte... Die hügelige Wiese mit den erstarrenden Menschen schien endlos zu sein und weit und breit war keine Tür oder sonst etwas, das daraufhin wies, sie in ein neues Szenario zu versetzen. Zu Ninas Angst mischte sich Panik und sie wusste immer noch nicht, warum.

„Alles in Ordnung, Nina?", fragte der Doktor nach, der jetzt auch gemerkt hatte, dass etwas die junge Frau beunruhigte. Sie antwortete nicht, sondern begann zu joggen. „Nina!", rief der Doktor nun lauter und hastete ihr hinterher.

Immer wieder drehte sie sich im Kreis, wollte diesen bohrenden Blicken entfliehen, aber es funktionierte nicht. Die junge Frau traute sich nicht zu rennen, sie wollte nicht gegen jemanden stoßen, wollte nicht nochmal dieses Kribbeln spüren, was sie so hilflos machen würde. Hilflosigkeit! War es das, was sie beunruhigte? Sie blieb zwischen fünf oder sechs Leuten stehen, blickte verschreckt in alle möglichen Richtungen. Von überall bohrten sich die Blicke wie Schwerter in sie. Es gab kein Entkommen. Trotz ihrer Panik entwich ihr kein Laut. Nicht einmal Tränen flossen.

„Nina!"

Ein leiser Schreckenslaut entwich ihr, als der Doktor sie packte und zu sich drehte. Ein weiteres Augenpaar, das sie energisch anblickte, aber es war anders. Es war wärmer. Nicht nur Augen, sondern Teil eines ganzen Gesichts. „Was passiert mit mir?", heulte Nina. Okay, das mit den nicht vorhandenen Tränen hatte sich erledigt. „Sie haben Angst, nicht wahr? Panik", stellte der Doktor fest. Es war keine Frage. „Aber warum?", wollte sie wissen und wischte sich die Tränen weg. „Ihr Unterbewusstsein weiß, was gerade passiert und reagiert natürlich darauf, nämlich mit Panik. Es weiß, dass das, was gerade geschieht, furchteinflößend ist und geändert werden muss."

„Und was ist das?", schluchzte sie, auch wenn ihre Stimme wieder fester klang.

„Sie sterben." Er holte Luft. „Wir beide tun das. Deswegen verspüren sie Todesangst."

Nina hielt die Luft an und blickte ihm direkt in die Augen. „Wieso haben Sie keine Angst?"

„Das habe ich", erwiderte er ernst. „Lange habe ich mich schon nicht mehr so sehr gefürchtet wie jetzt."

Ausnahmslos jeder Bildschirm, der irgendwelche Werte anzeigte, leuchtete Rot. Drei der vier Angestellten tippten wild auf Tatstaturen herum und versuchten immer noch das Anima-Serum zu stabilisieren. Der Wululu dagegen hatte aufgegeben. Gebannt ließ er seine schwarzen Fasern über seinen Überwachungsbildschirm wandern. Auf die Werte achtete er nur ab und zu.

„Faszinierend", murmelte Professor Sintus. Er und F-Red-D hatten sich kein Stück gerührt. „Wirklich faszinierend. Nach zwei Stunden und 46 Minuten greift das Serum das Gehirn an. Warum hat mich diesbezüglich keiner informiert?"

„Das liegt daran, dass es bis jetzt noch nicht vorgekommen ist", erwiderte der Quoll angespannt. „Keiner ist bis jetzt so gut durch die Wunschkammer gekommen wie diese beiden. Es ist eine Funktion des Serums, die wir noch nicht kannten. Offenbar tritt sie nur ein, wenn der Besucher am Leben oder bei Bewusstsein ist."

„Werden sie das überstehen?", fragte er Professor die vier, die an den Bildschirmen saßen.

„Das steht in den Sternen, Professor", antwortete der Alien, der ganz links saß. Der Wululu zog seine Sehorgane wieder ein und lehnte sich zurück. „Wir können nichts tun", ergänzte er aufgeräumt. „Sie haben noch 14 Minuten, dann sind sie draußen."

Der jungen Frau war klar, was das bedeutete. Sie starben und konnte nichts dagegen tun, außer zusehen, wie das Unausweichliche eintrat. „Fühlt es sich so an lebendig begraben zu werden?"

Auf einmal lächelte der Doktor. „Na na, sonst sind wir doch nicht so pessimistisch! Wir mögen gerade dabei sein zu sterben, aber tot sind wir noch lange nicht!" Nina blinzelte ihn noch einige Sekunden verdattert an, dann wischte sie sich die letzten Tränen weg. „Sie haben recht. Es tut mir leid, ich bin eigentlich echt keine Heulsuse, aber meine Tränendrüsen..."

„Machen Sie sich darum keine Gedanken, Nina", wimmelte er gut gelaunt ab. „Jeder geht anders mit Stress um. Manche bekommen Wutanfälle, andere Kopfschmerzen und Sie weinen nun einmal. Und jetzt kommen Sie, wir haben es bald geschafft."

Sie wandten sich um, wollten ihren Weg fortsetzen, doch machten sofort wieder Halt. „Äh, Doktor?", meinte Nina misstrauisch. „Haben Sie nicht gesagt, dieses Schlangengift... lähmt Lebewesen?"

„Jap", erwiderte der Doktor mit einer Stimme, die verriet, dass er wusste, was als nächstes kam.

„Warum haben sich die Menschen dann bewegt?"

Alle Erstarrten, die diese regelmäßigen Abstände eingehalten hatten, hatten nun ihre Position verändert. Es sah so aus, als hätten sie sich auf den Doktor und Nina zubewegt und wären dann wieder mitten in ihrer Position eingefroren. Immer noch starrten sie das Pärchen an. „Machen Sie mal kurz die Augen zu", bat der Doktor sie angespannt. Sie war verwirrt, aber gehorchte. „Und jetzt wieder auf", meinte er einen Moment später.

Nina wich erschrocken zurück. Die Menschen waren nähergekommen, streckten ihre Hände nach den beiden aus, aber waren wieder wie erstarrt. Die junge Frau machte eine 360°-Drehung. Von überall kamen die Menschen auf sie zu, aber sie bewegten sich nicht. „Ah, das tut mir leid", murmelte der Doktor leise. „Das kommt von mir. Unschöne Geschichte und eigentlich nicht ganz akkurat. Das Rongaa-Gift versteinert. Das Serum schien sich aber zu denken, wenn es hier schon um Versteinerung geht, dann knüpfen wir mal eine unschöne Assoziation." Tatsächlich schien er sich richtig zu ärgern.

„Was meinen Sie?", fragte Nina nach. „Es gibt Wesen", erklärte er schnell, „die sich nur bewegen können, wenn sie nicht gesehen werden. Schaut man sie an, verwandeln sie sich in Stein. An sich ganz interessant, aber diese Wesen wollen einen umbringen. Das macht die ganze Sache etwas..."

„... gruselig", beendete Nina den Satz, während ihr ein Schauer über den Rücken lief. „Ganz genau", bestätigte der Doktor und nickte. „Jetzt aber... sollten wir laufen!" Das ließ sich die junge Frau nicht zweimal sagen. Zusammen sprinteten sie los.

Im Rennen stieß Nina einmal versehentlich mit dem Ellenbogen an eine erstarrte Person. Die Berührung war nur sachte, aber sie reichte aus, um abermals dieses unheimliche Kribbeln auszulösen. Aus dem Augenwinkel bemerkte Nina auf einmal etwas. „Die bewegen sich!" In der Tat bewegten sich die Menschen langsam auf sie zu. Sie liefen in Zeitlupe, aber dennoch kamen sie unaufhaltsam näher. Unweigerlich musst die junge Frau an Zombies denken. „Ich dachte, sie versteinern, wenn man sie anschaut."

„Nicht ganz akkurat, habe ich doch gesagt", erwiderte der Doktor. Beide bewegten sich automatisch nach links, da sie sich immer noch am Hang befanden. Wenn man wegrannte, tat man dies gewöhnlich nicht einen Berg hinauf, sondern eher abwärts. Sie mussten vielen Menschen ausweichen, was zum Glück nur gelang, da sich diese so langsam fortbewegten.

Dann aber kamen der Doktor und Nina plötzlich zum Stillstand. Die Neigung hatte ein Ende, sie konnten nicht weiter bergab laufen. Sie befanden sich am tiefsten Punkt in diesem Tal. Hinter ihnen kamen Zombie-Menschen allmählich aber sicher auf sie zu, die sie zu einer der ihren verwandeln würden, und vor ihnen... Vor ihnen erstreckte sich ein großes, schwarzes Loch. Das perfekt grüne Gras endete plötzlich in absoluter Dunkelheit. Alle Instinkte Ninas schrien, dass sie nicht springen sollte, aber etwas anderes war stärker. Sie musste springen. Immer näher kamen die Menschen, das wusste sie ohne sich umzublicken, und vor ihr befand sich etwas Angsteinflößendes und zugleich Anziehendes. Diese Furcht aber war anders als zuvor. Es war die Ungewissheit, die sie auslöste. Ninas Herz klopfte nicht schneller, aber stärker. Unsicher verlagerte sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, während sie immer weiter ins Nichts blickte.

Der Doktor und sie teilten sich den Gedanken: Sie hatten nur diese eine Möglichkeit. Er bemerkte, wie sie zappelig wurde, und nahm ihre Hand. Daraufhin atmete sie einmal tief ein und wieder aus. Sie musste das nicht alleine durchstehen. Es war jemand bei ihr, der weitaus erfahrener war in solchen Dingen, der sie beschützen konnte. Wärme durchströmte sie bei diesem Gedanken, die die Furcht überdeckte. Nun fühlte sie sich nur noch aufgeregt, beinahe so, als würde sie vom Fünf-Meter-Brett im Schwimmbad springen.

„Wir müssen nur noch elf Minuten und 45 Sekunden überleben, Miss Featherstone", sagte der Doktor mit leicht belustigter Stimme. „Auf Drei. Eins... Zwei... Drei!" Der Doktor und Nina mussten noch elf Minuten und 42 Sekunden in der Wunschkammer ausharren, als sie von Schwärze umhüllt wurden, eine Armee von erlahmenden Menschen hinter sich ließen und gezwungen waren sich einem langen Fall hinzugeben.

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