Traumfänger: Teil VI

„Exakt", stimmte der Doktor zu. Seine beruhigende Stimme war gewichen und nur noch Ernst blieb zurück. „Die Schwäche des Gedächtnispalasts. Der einzige Fehler. Das Anima-Serum kann schöne Erinnerungen oder Träume nicht von schrecklichen unterscheiden." Ein finsterer Schatten legte sich über seine Augen, als er in Ninas Gesicht blickte und ihre unausgesprochene Frage beantwortete: „Das heißt, dass wir für die nächsten 78 Minuten und 42 Sekunden nicht nur unseren schönsten Erinnerungen entgegentreten, sondern auch unseren schlimmsten Albträumen."


~~~~~~~


Wildes Chaos herrschte im Raum, in dem der Doktor und Nina überwacht wurden. Alle Anzeigen, die das Anima-Serum betrafen, blinkten rot auf und ließen die vier Angestellten im Überwachungsraum herumwuseln. Man hörte viel Fluchen in unterschiedlichen Sprachen, doch niemand benötigte eine Übersetzung. In dem ganzen Durcheinander ließ sich Professor Sintus seufzend auf einem Stuhl nieder. „Hat es denn überhaupt einen Sinn so eine Hektik zu veranstalten?", fragte er eher rhetorisch F-Red-D, der neben dem Professor als Einziger ruhig blieb und einfach auf die zahlreichen Bildschirme starrte.

„Nein", war die schlichte Antwort. „Die Werte sind die gleichen wie bei jedem anderen Besucher zuvor. Keine Chance auf Stabilität." Abermals seufzte der Professor. „Jedoch", fügte der Quoll hinzu, „ist es bemerkenswert wie lange das Anima-Serum tatsächlich funktioniert hat. Länger als jemals zuvor." Er wandte sich an seinen Vorgesetzten. „Wenn wir so weitermachen, haben wir es bald das perfektioniert."

Professor Sintus nickte zustimmend. „Das alles geschieht im Namen der Wissenschaft. Und wer weiß, vielleicht können wir das den beiden sogar erzählen. Sie werden die Umstände verstehen und verzeihen können."

„Vorausgesetzt sie überleben die nächste Stunde", meinte F-Red-D.

„Beziehungsweise verlassen die Wunschkammer in einem Stück."

„Ganz recht, Professor."

„Woher wissen Sie das?", wollte Nina wissen. „Gut, ich verstehe, dass wir hier nicht ausschließlich unsere schönsten Erinnerungen oder Träume wiedererleben, aber wie können Sie sich so sicher sein, dass das eine Fehlfunktion des Anima-Serums ist?"

Der Doktor zuckte kurz mit seinem Kopf. „Nun ja, nicht direkt das Serum selbst, da habe ich mich etwas unglücklich ausgedrückt, ich meinte eher ein Fehler dieser ganzen Einrichtung. Und ich weiß es nicht sicher, es ist nur naheliegend."

„Inwiefern?"

„Wissen Sie noch, als wir hier angekommen sind? Jeder wirkte sehr hektisch. Unser Pudding-Freund hat gemeint, dass es ‚einige Komplikationen mit einem Besucher' gäbe." Der Doktor unterstrich seine Aussagen mit Handgesten. „Dann noch unser Zustand. Bis auf unseren inneren Countdown haben wir jedes Zeitgefühl verloren. Der Kopf wirkt angenehm leer, man fühlt sich befreit. Gut, man könnte sagen, dass ist fördernd für das persönliche Wohlbefinden und das vollkommene Eintauchen in die Illusion, doch mir hat das eher Sorgen bereitet. Und warum bekommen wir Kopfschmerzen? Ich habe zumindest welche und Sie sicherlich auch." Nina nickte kurz. „Sehen Sie? Dann noch all die unschönen Dinge, die wir gesehen haben..."

Da zögerte er kurz. Nina nutzte die Pause des Redeflusses: „Das ist dann sozusagen wie eine Droge, oder? Erst fühlt man sich wirklich gut und dann setzen die Nebenwirkungen ein."

Der Doktor nickte zustimmend. „So könnte man es formulieren. Die Nebenwirkungen wären dann hierbei unsere schlimmsten Ängste."

„War's das jetzt also endgültig mit unserem Trip durch schöne Erinnerungen?"

„Nicht unbedingt", wandte der Doktor zu Ninas Überraschung ein. „Schöne Erinnerungen sind sehr eng mit schlechten verbunden, alleine schon dadurch, dass sie irgendwann einmal enden. Ich vermute auch, dass das Anima-Serum an diesem Punkt scheitert. Es kann starke Emotionen erkennen und zusammen mit der Sphäre diese wiederspiegeln, doch ob es sich jetzt um rein positive oder negative Gefühle handelt, weiß es nicht. Jedoch denke ich, dass uns eine harte Stunde bevorsteht."

„Weil...?", hakte die junge Frau weiter nach. „Weil das Serum einer Droge ähnelt, wie Sie gesagt haben", erklärte der Doktor, während er sich umblickte. „Nachdem es seine Wirkung getan hat, kommen nur noch die Nebeneffekte. Es hat quasi seine Konzentration verloren."

„Er ist gut", musste F-Red-D beeindruckt zugeben und blickte auf einen der Bildschirme, die den Doktor zeigten. „Damit handelt es sich um die ersten Besucher, die die Situation begriffen haben."

„Vielleicht schaffen sie es ja!", meinte der vogelscheuchenartige Wululu hoffnungsvoll. Er und die anderen Angestellten hatten sich wieder einigermaßen zur Ruhe gesetzt, schließlich blieb ihnen nun nichts mehr anderes übrig als abzuwarten.

„Nicht so vorlaut, sowas weiß man nie vorher", wies F-Red-D ihn zurecht, woraufhin der Alien verstummte.

„Dennoch", warf Professor Sintus immer noch auf seinem Stuhl sitzend ein, „haben sie durchaus das Potential dazu." Nun sagte auch F-Red-D nichts mehr.

„Okay", meinte Nina und atmete tief ein und wieder aus. Kopfschmerzen förderten nicht gerade das Denkvermögen. „Warum holt man dann uns nicht hier einfach raus?" Sie hob ihre Stimme an. „Hallo? Sie können mich doch hören, nicht? Können Sie uns hier rausholen?"

„Nina", meinte der Doktor ernst. „Das geht nicht so leicht. Das ist nicht so einfach wie aus einem Albtraum aufzuwachen, das hier ist realer. Sie wissen doch, was F-Red-D uns vorhin gesagt hat: Alles, was scheinbar mit unserem Körper in unserer Halluzination passiert, geschieht auch in echt mit unserem Körper. Wir sitzen nicht ruhig in der Wunschkammer, wir stehen genauso da, wie wir es jetzt auch tun. Nur weil das Serum nicht mehr so wirkt, wie es sollte, bedeutet das nicht, dass diese Regel außer Kraft gesetzt ist."

Die junge Frau kam nicht ganz hinterher: „Und das bedeutet?"

„Na ja, nehmen wir mal an, dass sich die Wände weiterhin auf uns zu bewegen, sodass wir zerquetscht werden, was bei der momentanen Geschwindigkeit in etwa einer Minute der Fall ist..."

„Moment, was?!", unterbrach Nina ihn und schaute sich um. Der Doktor hatte recht, die Wände kamen immer näher. Momentan bildeten sie einen quadratischen Raum von etwa Zehn-mal-Zehn Fuß. Panisch weiteten sich ihre Augen, wobei ihre Stimme einige Tonlagen höher rutschte: „Seit wann ist das so?!" Instinktiv bewegte sie sich weiter ins Zentrum.

„Drei Minuten?", schätzte der Doktor und wirkte um Einiges gefasster. „Ich dachte, Sie haben das bemerkt?" Mit großen Augen blickte er sie an.

„Nein!", keifte sie entsetzt zurück.

„Und ich habe mich schon gewundert, warum Sie so ruhig bleiben..."

Die junge Frau hatte ganz andere Sorgen. Lautlos aber sicher schien der Tod in Form von kaltem, grauem Beton näher zu rücken. „Sie haben vorhin nicht fertig geredet. Was wollten Sie sagen, was passiert, wenn die Wände uns theoretisch... zerquetschen?" Auf einmal hatte sie einen Kloß im Hals.

Er holte tief Luft und schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an wohlwissend, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde: „Wir werden zerquetscht." Und wie ihr die Antwort nicht gefiel: „In Wirklichkeit? Obwohl da nichts ist?!" Der Doktor konnte nur seine Worte von vorhin wiederholen: „Was hier mit unserem Körper passiert, geschieht mit diesem auch in der Realität."

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!", stieß Nina am Ende ihrer Nerven aus. Tränen der Wut und der Verzweiflung sammelten sich in ihren Augen. „Ich sterbe durch etwas, was gar nicht existiert!"

„Glauben Sie mir, das gefällt mir genauso wenig", schloss sich der Doktor ihr seufzend an. „Es tut mir leid, dass ich Sie da mit hineingezogen habe, das habe ich nicht gewollt..." Missmutig blickte er auf die näherkommenden Wände. „Insgeheim hoffe ich ja auf etwas Glück. Einmal dachte ich, ich würde in einem Keller in Cardiff im 18. Jahrhundert verenden, das war ähnlich unspektakulär, doch dann..."

„Doktor", fiel Nina ihm lächelnd ins Wort, da die Wände sie schon gezwungen hatten, sich näher aneinander zu drängen. „Danke, dass Sie mich mitgenommen haben." Als der Time Lord sah, dass sie das ehrlich meinte und die Zeit mit ihm nicht bereute, musste auch er unwillkürlich grinsen.

Plötzlich kamen die Wände zum Stehen. Sie bildeten ein perfektes Quadrat von nicht ganz Fünf-mal-Fünf Fuß, in der Mitte befanden sich Nina und der Doktor. Die Lampe über ihnen flackerte nicht mehr; sie leuchtete schwach, aber konstant. Die kalte Ausstrahlung hatte sich nicht verändert. „Oh, da haben wir ja unser Bisschen Glück", meinte der Doktor erfreut. Nina atmete erleichtert aus, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Wände auch wirklich stillstanden: „Ganz ehrlich, wie kann jemand so etwas als Touristenattraktion anbieten?"

„Ja", murmelte der Doktor. „Das ist die Frage, die ich nicht beantworten kann: Was ist die Absicht dahinter?" Den Kopf hin- und herwiegend dachte er nach: „Ist das ein Experiment? So in der Art ‚Wie lange kann jemand in seiner realgewordenen Fantasie überleben'? Das würde immerhin erklären, warum wir immer noch hier sind. Oder ist das ein nicht ganz gelungener Versuch eine Attraktion auf die Beine zu stellen?"

„Wieso brechen sie dann nicht einfach ab?", wollte Nina wissen. „Die haben doch inzwischen mitbekommen, dass das hier nicht mehr so ist, wie es sein sollte. Ganz abgesehen davon, dass sie jedes Wort hören."

„Was glauben Sie denn?", fragte der Doktor sie und forderte sie so dazu auf, selber zu denken.

Es dauerte nicht lange, bis es ihr dämmerte: „Sie können es nicht." Der Doktor nickte. Nina missfiel das Ganze immer mehr. Selbst wenn die Beweggründe schlichtweg harmlos waren, konnte man nicht einfach eine fehlerhafte Einrichtung zugänglich machen und so das Leben anderer aufs Spiel setzen.

Ihr fiel noch etwas ein: „Alles, was jetzt hier mit unserem Körper passiert, geschieht auch in Echt?" Der Doktor zog skeptisch die Augenbrauen zusammen: „Genau. Worauf wollen Sie hinaus?" Nina raffte ihre Ärmel wieder hoch und hielt ihm ihre Unterarme hin: „Vorhin ist meine Haut geschmolzen, aber jetzt ist sie wieder normal. Wie kann das sein?"

Die Position seiner Augenbrauen veränderte sich nicht, während er ihre Arme anblickte. „Weil das eine Halluzination war." Das verstand die junge Frau nicht. Sie ließ ihre Arme sinken, sodass der Doktor ich nun in die Augen schaute. „Hier ist doch alles eine Halluzination."

Er winkte ab: „In gewisser Weise ist es dennoch real. Aber was mit Ihren Armen geschehen ist... Das war reine Halluzination. Vermutlich ein weiterer Fehler des Serums." Anhand ihres Blickes bemerkte er, dass sie immer noch nicht verstand. „Ich habe nichts gesehen, Nina", erklärte er ihr. „Mit ihren Armen war die ganze Zeit über alles in Ordnung. Die Wunschkammer ist für uns beide ausgerichtet. Wenn nur einer etwas sieht, ist das kein Produkt der Sphäre, nur des Serums hätte ich gesagt."

„Ich... hab mir das eingebildet?" Verwundert blickte sie auf ihre Unterarme. „Oh, wow..." Noch nie hatte sich etwas für sie so real angefühlt beziehungsweise ausgesehen. Sie schaute wieder auf. „Aber das heißt ja, dass etwas tatsächlich nicht tödlich ist, wenn nur einer von uns beiden es sieht, richtig?"

Langsam wiegte der Doktor den Kopf hin und her, was in ein Nicken überging: „So kann man es auch formulieren, ja. Oh, ein Fahrstuhl!" Letzteres rief er aus, da auf einmal mit einem Pling mehrere Knöpfe an einer der Wände aufleuchteten. Die Anordnung und der schmale Längsspalt an der anliegenden Wand, von dem sich die beiden nicht sicher waren, ob er die ganze Zeit schon da war, ließen darauf schließen, dass sie sich in einem Fahrstuhl befanden. „In welches Stockwerk wollen Sie, Miss Featherstone?"

Nina ging nicht auf das scherzhaft gemeinte Rollenspiel ein und beugte sich nach vorne, um sehen zu können, was auf den Knöpfen stand. Sie runzelte die Stirn und murmelte verachtend: „Wie makaber!" Auf allen dreizehn Knöpfen stand ‚666' geschrieben.

„Was denn, Nina?", warf der Doktor gespielt empört ein. „Glauben Sie etwa nicht an den Teufel?" Sie richtete sich wieder auf. Ihr Stirnrunzeln war nicht verschwunden: „Und Sie schon?" Er zuckte mit dem Kopf zur Seite und blickte in die rechte obere Ecke. „Na ja...", machte er nur.

Auf einmal ruckelte es leicht. Der Fahrstuhl schien sich nach unten zu bewegen, obwohl niemand etwas ausgewählt hatte. Das Blinken der Knöpfe ließ den Anschein erwecken, dass jemand alle gleichzeitig gedrückt hätte. „Oh je, was jetzt wohl geschieht?" Trotz angesichts ihrer Lage wollte die heitere Stimmung des Doktors einfach nicht verschwinden.

Nina konnte nichts darauf erwidern. Der Fahrstuhl hielt so abrupt, dass beide das Gleichgewicht verloren. Nina stieß sich dabei den Kopf an der metallenen Wand. „Ah!" Sie hielt sich die schmerzende Stelle. „Das wird ja immer sanfter hier."

„Höre ich da etwas Sarkasmus?", ächzte der Doktor, der sich wieder aufrappelte und ihr anschließend aufhalf. „Ach, was?", meinte sie nur noch ironischer, doch ihre genervte Stimmung war nur von kurzer Weile. Der Doktor stand mit dem Rücken zur Fahrstuhltür, deswegen konnte er es nicht sehen. Nina allerdings hatte einen guten Blick auf das Blut, dass durch die Ritze der geschlossenen Türen quoll. Ihr entwich ein leiser Schreckensschrei, der den Doktor dazu veranlasste sich umzudrehen. Automatisch wichen beide zurück.

Tatsächlich lief dort roter, dickflüssiger Lebenssaft in den Fahrstuhl hinein. Und dies war nicht die einzige Stelle; aus allen möglichen Öffnungen, und waren sie auch noch so klein, tröpfelte Blut hinein: Aus dem Armaturenbrett mit den nun nicht mehr blinkenden Knöpfen, aus allen Kanten, sogar von der Lampe. Es dauerte nicht lange, bis die Schuhe der beiden bedeckt waren.

„Okay, vergessen Sie, was ich vorhin gesagt habe", meinte Nina nur. „Das ist makaber." Dieses Mal war ihr Ton frei von jedem Sarkasmus. Im Gegenteil, der jungen Frau wurde schlecht. Mit jeder Sekunde floss das Blut schneller. Sogar der Doktor hatte genug davon gute Miene zum bösen Spiel zu tun: „Wir sollten versuchen hierherauszukommen oder wir ersticken."

„Und wie?" Daraufhin schwieg der Doktor. Jedoch lag das nicht daran, dass er keine Antwort wusste, das konnte Nina an seinem Gesicht erkennen. Er dachte nach. „Sie haben eine Idee?"

Die Antwort kam nur zögerlich. „Eine Idee, ja. Allerdings... weiß ich nicht, ob sie uns retten oder töten wird." Daraufhin musste auch Nina erstmal grübeln: „Na ja... Wenn wir nichts machen, sind wir sicherlich erledigt." Das Blut ging beiden schon bis zu den Knien und ein unverwechselbarer, metallischer Geruch stieg in ihre Nasen. „Irgendetwas muss doch passieren... oder nicht?" Als der Doktor nicht antwortete, hakte sie nach: „Was ist denn Ihre Idee?"

Abermals blieb er stumm, sein Blick aber wandte sich der Fahrstuhltür zu. Nina dämmerte es: „Das ist doch nicht Ihr Ernst!" Sie war nicht erpicht darauf, noch mehr Blut in diesen kleinen Raum zu lassen. Vielleicht aber befand sich auch wieder etwas anderes dahinter? Schlimmste Albträume hatte der Doktor gesagt... Die junge Frau wollte sich gar nicht ausmachen, was die Wunschkammer noch alles produzieren konnte. Mit einem Mal war Nina Türen gegenüber sehr misstrauisch.

„Hey, Sie haben gerade gesagt, dass etwas gemacht werden muss, sonst ersticken wir hier", verteidigte der Doktor sich sofort. „Und da haben Sie recht! Wollen Sie hier sicher sterben oder zumindest versuchen zu überleben?" Ernst schaute er direkt in ihre Augen. „Sie müssen mir nicht gleich eine Predigt halten", grummelte Nina ergeben. „Ich wäre nur für eine Lösung, bei der wir nicht unbedingt von Blut überschüttet werden. Aber das Risiko müssen wir wohl in Kauf nehmen."

„Kommen Sie, helfen Sie mir", forderte der Doktor sie auf. Beide wateten zur Tür. Nina stand das Blut bereits zur Hüfte. Alleine schon der Gedanke daran ließ sie übel werden und dann noch der Geruch... Tatsächlich musste sie sich einen Brechreiz unterdrücken. Der Doktor und Nina griffen beide an die Fahrstuhltürritze, je einer auf einer Seite, und machten sich bereit. Das herausquellende Blut strömte über ihre Finger. „Auf drei!", entschied der Doktor. „Eins... zwei... drei!"

Beide zogen kräftig. Nina hatte noch nie eine Fahrstuhltür aufgestemmt und es funktionierte leichter als sie gedacht hätte. Sobald sie merkte, dass die Tür nachgab, kniff sie ihre Augen zusammen und erwartete einen Blutschwall, vielleicht auch ein nervenzerreißendes Geräusch oder ein Gestank, der ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber des Brechreizes niederstreckte.

Nichts dergleichen geschah. Feuchte Wärme traf auf ihre Haut und Geräusche vieler Lebewesen drangen an ihre Ohren; Zirpen, Zischen, Klackern, Klicken... Vermischt wurde das Ganze mit einem Geruch von Natur. „Na, sieh mal einer an." Die Worte des Doktors brachten Nina schließlich dazu, ihre Augen zu öffnen. Das erste, was sie wahrnahm, war die Farbe Grün. Es umgab die beiden komplett und Nina hatte automatisch das Wort ‚Wald'. Jedoch war es anders als gewöhnlich: Bäume mit kräftigen Stämmen erstreckten sich vor ihnen so hoch in den Himmel, dass sie die Baumkronen nicht ausmachen konnten. Des Weiteren hingen dicke Lianen von den niedrigeren Ästen herab. Große Blätter sorgten dafür, dass das Sonnenlicht kaum zu ihnen auf den Boden durchdrang. Beeindruckend allerdings war, dass es hier ganz viele verschiedene Pflanzen gab. Nina kannte nur Wälder, in denen die Bäume nur von ein oder zwei Arten stammten, hier aber gab es große, kleine, schlanke, kräftige, schmale und weitverzweigte Bäume. Auch die vielen Geräusche waren zwar hörbar, doch man konnte keinen einzigen der Verursacher ausmachen; sie waren entweder zu klein oder zu weit weg.

Nicht Wald, Regenwald. „Oh", machte Nina überrascht. Ihre ganze Anspannung fiel ab und wurde durch Faszination ersetzt. „Das ist wunderschön!" Dennoch war sie vorsichtig, sie wagte es nicht den von Wurzeln und Blättern bedeckten Boden zu betreten.

„Der Regenwald", seufzte der Doktor glücklich und schlenderte ohne Umschweife einige Schritte voraus. „Einer der schönsten Orte der Erde! Obwohl er nicht einmal zehn Prozent der Erdoberfläche bedeckt, leben dort mindestens 50 Prozent aller irdischen Tier- und Pflanzenarten." Nun traute sich auch Nina einige Schritte vorzuwagen: „Das glaube ich Ihnen aufs Wort." Es hatte fast schon etwas Magisches zu wissen, wie Vieles hier lebte und atmete, aber nichts davon wirklich sehen zu können.

„Kein Albtraum dieses Mal?", fragte die junge Frau zögerlich nach und hatte Angst, dass sie soeben den Teufel an die Wand gemalt hatte, auch wenn ihre Begeisterung die Vorsicht mit jeder verstreichenden Sekunde verdrängte. „Das kann man nie wissen", erwiderte der Doktor ehrlich, „aber man sollte sich so wenig wie möglich von Risiken einschränken lassen. Himmel, andernfalls wäre das Leben doch langweilig." Nina blickte zu ihm und sah, dass er sie breit angrinste. Sie lächelte zurück, als sie sich in Erinnerung rief, wer der Doktor eigentlich war. Würde er tatsächlich nichts wagen, sobald es irgendeine Art von Gefahr gäbe, hätte er einen ganz anderen Lebensstil. Also entschlossen sie sich, den Regenwald zu erkunden.

Als die beiden noch 37 Minuten und drei Sekunden in der Wunschkammer ausharren mussten, hatten sie immer noch kein einziges Tier entdeckt. Nina aber sah auf einmal etwas anderes. „Ist... da hinten ein Gebäude?" Im Dickicht war es schwierig auszumachen, doch tatsächlich schien sich in einigen Yards Entfernung etwas zu befinden, das aus Beton bestand. Bei den vielen Sträuchern und Wurzeln dauerte es etwas und Ächzen und Keuchen ließ sich auch nicht vermeiden, doch letztendlich gelangten sie zu einer großen Lichtung. „Das ist eine Schule!", stellte der Doktor überrascht fest, während sie nun ihre Schritte verlangsamten, aber nicht stoppten.

„Meine Schule!", ergänzte Nina mit großen Augen. Verwunderung war darin zu erkennen. „Wieso steht meine Grundschule mitten im Regenwald?" Als hätte es nur auf diese Frage gewartet, war plötzlich ein dumpfer aber lauter Schlag zu hören. Zusätzlich bebte die Erde leicht. Überrascht drehte sich der Doktor um. „Was war...?" Er wurde unterbrochen, als ein weiterer solcher Schlag zu hören war; dieses Mal bebte die Erde heftiger.

Nina regte sich kein Stück mehr, sie hatte einfach die Augen geschlossen. Voller Angst wisperte sie: „Doktor... Dieses Szenario kommt von mir... Nicht nur die Schule, alles hier..." Das war kein Schlagen... Das war ein näherkommendes Stapfen! Dem Doktor schien ein Licht aufzugehen: „Sie wollen mir doch wohl nicht sagen, dass..." Abermals konnte er nicht aussprechen, denn dicke Äste wurden abgebrochen und Opfer der Schwerkraft. Nun drehte auch Nina sich mit einem Blick voller Schrecken um.

Beide sahen deutlich, wie ein Tyrannosaurus Rex zwischen den vielen Sträuchern und Bäumen vor ihnen auf die Lichtung trat. Deutlich sah man, dass dies ein Vorgänger von heutigen Reptilien war: Hornschuppige Haut, gelb-grünliche Augen mit länglichen Pupillen und ein Schwanz. Die Krallen und langen, spitzen Zähne kennzeichneten ihn als Raubtier. Dies alles plus seine Größe machten die Existenz der lächerlich kleinen Ärmchen mehr als nur wett.

Nina schluckte schwer. „Wenn nur einer von uns etwas wahrnimmt, handelt es sich dabei tatsächlich um eine reine Halluzination, richtig?", vergewisserte sie sich und ließ die nun stillstehende Urechse nicht aus den Augen

„Ja", entgegnete der Doktor ruhig. Auch er beobachtete den Dinosaurier genau.

„Bitte sagen Sie mir, dass sie keinen..."

„Doch", kam in genau der gleichen Tonlage zurück.

Nina stieß einen frustrierten Laut aus. „Und was jetzt?" Der Doktor schien sichtlich entspannter zu werden: „Wir ziehen uns zurück. Langsam und bedächtig, versteht sich. Wir sollten uns einfach möglichst ruhig verhalten; ihn nicht provozieren, verstehen Sie?"

„Hm", gab die junge Frau nur zurück, doch sie setzte vorsichtig einen Fuß hinter den anderen und entfernte sich so leicht vom Tyrannosaurus. „Von ihnen stammt das also?", griff der Doktor das Thema auf, der wie Nina langsam rückwärtslief. „Deswegen schon wieder der Mangel zum Detail. Der Regenwald weist Pflanzen auf, die in der Kreidezeit so noch nicht existiert haben."

„Ach, tatsächlich? Das bestätigt also meine Aussage? Nicht die englische Grundschule hinter uns? Nein? Okay, von mir aus."

„Ein Albtraum nehme ich an?", machte der Doktor munter im Plauderton weiter, auch wenn er seine Stimme gedämpft hielt. „Und was für einer!", murmelte Nina. „Jurassic Park ist gerade frisch rausgekommen und meine Eltern haben gedacht, es wäre doch eine gute Idee mit uns einen Dinosaurierfilm anzugucken. In der darauffolgenden Nacht habe ich nicht so gut geschlafen..."

„Das sehe ich. Offenbar wurden Sie auf Ihrem Schulgelände von einem der gefürchtetsten Dinosaurier verfolgt." Mit gerunzelter Stirn nickte der Doktor zu dem Tyrannosaurus vor ihnen. Dieser schien langsam ungeduldig zu werden, denn er peitschte mit seinem Schwanz hin und her. „Der erste Jurassic Park Film? 1993... Wie alt waren sie da? Sechs?"

Eine Antwort blieb aus. Der Dino hatte lange genug gewartet. Oder er hatte bemerkt, dass sich etwas vor ihm bewegte. Jedenfalls entfloh ein tiefes, lautes Brüllen seiner Kehle. Nina schnappte automatisch erschrocken nach Luft.

Als hätte das Reptil darauf gewartet, quasi einen Anreiz gesucht, machte er einen Schritt nach vorne, wobei die Erde erzitterte. „Schade", gab der Doktor nur von sich. Er und seine Begleiterin blinzelten sich kurz an, dann nahmen sie die Beine in die Hand und rannten um ihr Leben.

Hinter sich vernahmen die beiden ein weiteres Brüllen. Danach begann auch der Dinosaurier zu rennen. Nina fluchte und heulte zugleich, während sie sich fragte, ob ein Mensch tatsächlich von einem Tyrannosaurus Rex wegrennen und dabei überleben konnte. Niemals hätte sie gedacht, dass sie nochmal mit dem schlimmsten Albtraum aus ihrer Kindheit konfrontiert werden würde. Aber wenn sie Glück haben sollte, würde der furchterregendste Teil vielleicht ausbleiben...

„In die Schule", rief der Doktor ihr zu. „Dort kann er sich nicht so gut bewegen und wir uns verstecken." Nina nickte um Zeichen, dass sie verstanden hatte. Sie steuerten das Gebäude an. Unter ihren Füßen ging der weiche Regenwaldboden in harten Straßenbeton über. Ihr Verfolger holte auf. Die junge Frau hatte den Eindruck den warmen Atem des Reptils im Nacken zu spüren und beschloss sich nicht umzudrehen. „Es gibt einen zweiten Eingang", informierte sie den Doktor, „auf der anderen Seite. Dort passt er schlechter durch und wir können ihn vielleicht abhängen."

„Abhängen?!"

„Na ja, scharfe Kurven machen oder so?"

Nun war es der Doktor der bestätigend nickte. Nina ignorierte ihr Herz, dass mehr aus Todesangst als aus körperlicher Anstrengung wild raste, und rief: „Jetzt nach rechts!" Sie machten eine scharfe Rechtskurve. Der Dinosaurier schien das nicht so schnell zu kapieren und stolperte noch einige Schritte geradeaus. Nina und der Doktor hatten wieder Abstand zwischen sich und deren Jäger gewonnen. Sie rannten jetzt an der Längsseite des Gebäudes entlang, am Haupteingang vorbei. Ihrer Wahrnehmung zu urteilen, nahm der Tyrannosaurus wieder die Verfolgung auf.

Nina aber stellte etwas anderes fest. „Oh nein", stieß sie aus und sah zu, wie der Abstand zwischen ihr und dem Doktor immer größer wurde. „Doktor!" Panik übernahm ihre Stimme. Der Dinosaurier holte auf, würde sie fressen. Sie musste unbedingt hier weg! Konnte sie aber kaum. Nur sehr langsam. „Nina, was ist los?" Strauchelnd kam der Time Lord zum Stehen, als er bemerkte, dass seine Begleiterin nicht mehr bei ihm war.

„Meine Beine!" Nina kam kaum noch vom Fleck. Je mehr sie sich anstrengte, desto mehr weigerte sich ihr Körper. Sie lief, als wären ihre Schnürsenkel miteinander verknotet (was nicht der Fall war, ihre Stiefel hatten nur je einen Reißverschluss an der Seite) oder als wäre ihre Hose runtergelassen und sie versuche damit zu rennen. Es ging einfach nicht voran. Ihr war bewusst, dass ihr ein tödliches Urreptil im Nacken saß, dass es mit jedem bebenden Stapfen näherkam, dass es sie tatsächlich fressen wollte, und trotzdem schien sich ihr Körper zu weigern ihr zur Flucht zu verhelfen. Es war zu viel für die junge Frau, die Verzweiflung trieb ihr Tränen in die Augen. Das war es, was diesen Albtraum damals erst so schlimm gemacht hatte: Sie war vor Angst so gut wie gelähmt gewesen und das hatte schließlich dazu geführt, dass... Aber jetzt war es anders. Jetzt war sie fünfzehn Jahre älter, erwachsen und es war kein Traum. Es war eine wahre Illusion. Dieses Mal würde sie nicht wieder mit klopfenden Herzen und tränenüberströmt aufwachen, sondern tatsächlich... Nein.

Dieses Mal... war sie vor allem nicht allein. Der Doktor griff ihre Hand und zog sie mit sich. Die junge Frau stolperte kurz und war überrascht. Sie hatte seine Anwesenheit vergessen, doch er war da und rettete sie. Sobald er sie berührte, war es, als wäre der Bann gelöst, und sie konnte sich wieder normal bewegen. Der Time Lord hatte gerade noch rechtzeitig gehandelt. Der Dinosaurier schnappte mit seinem kräftigen Kiefer genau da zu, wo ein Herzschlag zuvor Nina verbissen mit ihrem Körper gekämpft hatte. Bei dem Gedanken, was ihr hätte passieren können, schluckte sie schwer.

„Das ist jetzt der falsche Zeitpunkt, um ein Päuschen einzulegen, meinen Sie nicht auch?", meinte der Doktor im Rennen. „Eine gute halbe Stunde noch, dann können wir uns ausruhen." Er keuchte und auch wenn seine Aussagen von scherzender Natur waren, so waren es sein Ton und Gesicht nicht. Nina wusste, dass er wütend auf Professor Sintus und die Leute vom Gedächtnispalast war.

Die junge Frau wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rief: „Da lang!" Mit dem ausgestreckten Arm deutete sie nach rechts. Das dreistöckige Gebäude machte einen Knick in diese Richtung. An diesem Ende befand sich noch ein kleinerer, einstöckiger Kasten und genau dort war eine Doppeltür eingelassen, kleiner als der Haupteingang. Aufgrund des Winkels konnte man sie erst richtig erkennen, wenn man sich in der Nähe des Knicks befand und nach rechts blickte. „Noch eine Tür." Man könnte schon meinen der Doktor seufzte. „Mal schauen, wo sie uns dieses Mal hinführt."

„Hoffentlich weg von ihm", entgegnete Nina japsend und wies mit einer misslungenen Kopfbewegung auf ihren brüllenden, tödlichen Verfolger hin. Sie war froh, dass der Doktor sie an der Hand hatte, ihr ging allmählich tatsächlich die Puste aus. Andernfalls wäre sie vermutlich schon zurückgefallen.

Die beiden bremsten nur leicht ab, bevor sie sich jeweils gegen eine Seite der Tür stemmten und diese aufdrückten.

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So.
Jetzt muss ich was loswerden, was ich eigentlich letzte Woche schon machen können. Hab aber nicht drangedacht.
Ich glaube nicht, dass ich euch erzählt habe, dass ich zurzeit für einige Monate in London wohne und dort als Au Pair arbeite, oder?
Jedenfalls habe ich hier letzte Woche Mittwoch (06.12.2017) jemanden getroffen.

Jap, ihr seht richtig. Nein, das ist nicht gephotoshoppt. Ja, unglücklicherweise sehe ich etwas dick aus auf dem Foto. Und richtig, ich hab keinen gescheiten Satz zustande gebracht.
Aber ich habe Peter Capaldi getroffen und das kann ich mit ins Grab nehmen.

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