Traumfänger: Teil III




Ihre lockere Stimmung erstarb. „Meine Güte...", hauchte sie und überflog schnell die restlichen Blätter. „Das gibt's doch nicht! Diese Komplexität...! Wem gehört so ein Gehirn?" Sie war an der letzten Seite angekommen. Dort stand am Ende extra etwas hingeschrieben, was zu keiner Frage gehörte: Da staunen Sie, was? Daneben war ein Smiley hingemalt worden.


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Endlich öffnete sich die Tür und Nina und der Doktor erhoben sich erwartungsvoll von ihren Stühlen. Der Alien, der hereinkam, ging Nina bis zu den Schultern und war weiblich. Sie sah aus wie eine Albino-Dame, nur dass sich über ihrer ganzen Haut ein schwarzes Ornament-Muster zog. Nina hatte keine Ahnung, ob das ein Tattoo war oder so nun mal die Haut dieser Art aussah. Auf ihrem Namensschild stand, dass sie Kheylala hieß.

Sie trug ein Tablett bei sich, auf dem sie zwei durchsichtige, hübsch verzierte Amphoren balancierte. In beiden befand sich Flüssigkeit, die eine war lila, die andere tiefblau. „Ihr Anima-Serum. Verzeihen Sie, dass es so lange gedauert hat, aber wir sind sehr genau", sprach sie und verneigte sich leicht, wobei sie auf einen neben den Amphoren liegenden Zettel schielte. „Das Blaue ist für den Doktor, Nina bekommt das Lilafarbene." Sie stellte das Tablett auf den kleinen Tisch ab. „Bevor Sie die Wunschkammer betreten, sollten Sie alles, was die Funkwellen zwischen dem Serum und der Sphäre der Wunschkammer stören könnte, so weit es möglich ist, ablegen. An sich betrifft das alle Geräte, die Wellen jeglicher Art ausstrahlen und empfangen."

Der Doktor zögerte ungehalten. „Gibt es eine Möglichkeit, die Sachen irgendwo sicher aufzubewahren?" Nina tastete reflexartig ihre Hosentasche, als wolle sie überprüfen, ob ihr Handy noch da war, was natürlich der Fall war.

„Selbstverständlich", antwortete Kheylala mit professioneller Höflichkeit. Sie trat an einen bestimmten Teil der Wand und tippte einmal sanft darauf. Wie von Geisterhand zeichnete sich auf einmal ein Umriss ab. Ein Rechteck mit abgerundeten Ecken. Mit einem leisen Klack sprang eine Seite des Rechtecks sachte von der Wand ab. Es war eine kleine Tür. „Das ist Ihr individueller Tresor", erklärte Kheylala. „Durch einen Augenscan sind Sie der einzige, der Zugriff auf diesen Tresor hat. Sobald Sie soweit sind, können Sie das Serum einnehmen. Haben Sie das getan, betreten Sie die Wunschkammer."

Sie wollte gehen, doch Nina hatte noch eine Frage. „Wird es wehtun?" Kheylala blinzelte erst etwas erstaunt, dann aber lächelte sie. „Keineswegs." Dann verließ sie das Wartezimmer.

Kurz darauf hatten Nina ihr Handy (da es ihr der Doktor angewiesen hatte) und der Doktor gleich seinen ganzen Mantel in den Tresor gepackt. (Er habe so viele Signal störende Dinge in seinen Taschen, so dass es sich nicht lohnen würde, alles einzeln auszupacken.) Schließlich hatte der Doktor den Tresor noch auf sein Auge eingestellt und die beiden waren so weit.

„Schöne Farbe", bemerkte Nina und blickte von oben in die Amphore hinein. „Ja...", stimmte ihr der Doktor gedankenverloren zu. Er hielt sein Serum gegen das Licht und prüfte es mit konzentriertem Blick. Dann zuckte er einfach mit den Schultern und lächelte. „Prost!"

Sie ließ ihre Amphore gegen seine klirren. Gleichzeitig kippten sie sich das Serum in den Rachen. Nina nahm die Flüssigkeit als angenehm kühl, fast schon wohltuend, wahr. Die Blicke der beiden kreuzten sich. Abwartend blinzelte er mehrmals. Schließlich stellte er einfach die Amphore zurück auf das Tablett und schritt zur Tür. „Bereit, Miss Featherstone?"

Sie tat es ihm nach, bis sie neben ihm stand und sie sich angrinsten. „Aber hallo!"

„Eine Reise zu unseren schönsten Erlebnissen." Trotz der Skepsis, die der Doktor vorhin gehabt hatte, konnte sie sehen, wie aufgeregt er war.

Beide drückten gespannt je eine Türhälfte auf. Was sie sahen, war jedoch nichts Besonderes. Sie betraten den großen, weißen Raum. Die Tür fiel hinter ihnen wieder zu. „So sieht die Wunschkammer von innen aus?" Nina runzelte die Stirn.

„Vermutlich dauert es noch etwas, bis das Serum wirkt. Ein paar Sekunden vielleicht." Der Doktor schob seine Hände in die Hosentaschen.

Sie kniff die Augen zusammen und massierte sich den Nasenrücken. „Das tut ja schon fast weh..." Es war so hell und strahlend weiß, dass man nur schwer erkennen konnte, wo der Boden aufhörte und wo die Wände begannen. Fast, als würden sich die beiden in einer weißen Leere bewegen. Sie entschied sich dazu, die Augen geschlossen zu halten, das war einfach angenehmer. Hinzu kam die angenehme Kühle, die sie vorhin beim Schlucken des Serums gespürt hatte, dieses Mal bereitete sie sich langsam in ihrem Kopf aus. Es beruhigte sie, schaffte ihr sozusagen einen klaren Kopf.

„Äh, Nina?" Die Stimme des Doktors wirkte überrascht. „Ich glaube, Sie können die Augen wieder aufmachen." Vorsichtig tat Nina dies. Schnell bemerkte sie, dass das schmerzende Weiß verschwunden war. Stattdessen war es dunkel. Sie öffnete ihre Augen komplett und blickte sich um. Die beiden schienen sich in einem nur spärlich beleuchteten Gang zu befinden. Die Wände waren grau und kahl. Weiter war nichts zu erkennen, bis auf die Lichtquelle am Ende des Flures. Nina drehte sich in die andere Richtung. Dieser Teil des Flurs endete in purer Dunkelheit.

Aus irgendeinem Grund klopfte ihr Herz schneller als sonst. Befanden sie sich tatsächlich noch in diesem weißen Raum? Hatte das Serum mit der Sphäre interagiert? So fühlte es sich nämlich überhaupt nicht an. Eher würde sie glauben, dass sie teleportiert worden waren, allerdings wusste sie es diesbezüglich bereits besser. Vorsichtig berührte sie die kahle Wand. Es erstaunte sie, dass sie dieses vertraute, raue Etwas an ihren Fingerspitzen fühlte, das man nun einmal von Wänden kannte. Es fühlte sich so echt an. Aber dem war nicht so. Sie waren in der strahlend weißen Wunschkammer und wurden von irgendeiner Kamera von ein paar Aliens beobachtet.

Der Doktor war ebenfalls ruhig. Gingen ihm auch solche Sachen durch den Kopf? Jedenfalls lag eine gewisse Anspannung in der Luft. Eine Mischung von Vorsicht und Bewunderung. „Kommen Sie", forderte er sie auf und ging, ohne auf eine Antwort zu warten, auf die Lichtquelle zu. Nina folgte ihm. Bald schon erkannten sie, dass es sich um eine Art Eingang handelte; ein Türrahmen ohne Tür. Das Licht dahinter strahlte so hell, dass man rein gar nichts ausmachen konnte. Nina spürte deutlich die Kühle in ihrem Kopf. Sie war froh, dass sie da war. Es beruhigte sie.

Gemeinsam verließen sie den Gang und traten durch einen kleinen Torbogen. Sie waren gezwungen, die Augen zuzukneifen. Das Licht war gleißend. Jedoch dauerte es nicht lange, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. „Ach, du meine...!", hauchte Nina. Ihr Mund klappte auf. „Wow", meinte der Doktor leise neben ihr. „Das ist... beeindruckend!" Diese Worte waren totale Untertreibung. Es war der absolute Wahnsinn. Jeglicher Gedanke, dass das Schauspiel vor ihnen künstlich war, war spätestens dann ausgelöscht, als eine sanfte Brise durch die Haare der beiden wirbelte.

Vor ihnen erstreckte sich der blaue Himmel. Oben, unten, links, rechts. Nichts weiter als Leere. Sie befanden sich in der Luft. Einige Cirruswolken zogen sich durch den Himmel, aber nicht nur das: Lauter Inseln schwebten in der Luft. Größere, kleinere, manche hatten Vegetation, andere wiederum gar nicht. Es gab sogar Inseln, die eigentlich nur schwebende Felsbrocken waren und als Verbindungsweg zur nächsten Insel dienen konnten, aber an sich gab es keine Struktur in der Verteilung der schwebenden Erde und Steine. Alles schien ein wenig in einer ganz, ganz langsamen Geschwindigkeit zu treiben.

Nina hielt sich mit beiden Händen am Rand des Torbogens fest und lehnte sich vorsichtig nach vorne, um um die Ecke lugen zu können. Sie stutzte. Noch mehr Inseln im Himmel, aber keine Spur vom Gang, durch den sie gerade gelaufen waren. Es schien so, als würde der Torbogen, wie alles andere auch, bloß im Himmel schweben. Nina lehnte sich wieder zurück und blickte in den Gang hinunter, der wieder in die Dunkelheit führen würde. Ein Gang mit Wänden, der eindeutig da war. „Krass...!", hauchte sie und lehnte sich wieder nach draußen, wo es den Gang einfach nicht mehr gab.

„Hm?" Der Doktor tat es ihr nach. „Oh!", folgte sogleich, er schien positiv überrascht. „Ein Wahrnehmungsfilter? Vielleicht auch mit Chamäleon-Tinktur übergossen. Vielleicht sogar von innen größer als von außen. Man weiß ja nie, ob..."

„Stopp!", unterbrach Nina ihn geistesabwesend, aber bestimmend. Ihr Blick hing immer noch an der Szenerie. „Keine wissenschaftlichen Erklärungen. Was Sie auch sagen, es stimmt sowieso nicht, oder? Eigentlich ist es nicht da und deswegen müssen wir uns auch keinen Kopf weiter drum machen. Einfach nur genießen, okay?"

Der Doktor machte den Mund auf, wollte schon widersprechen, doch dann zog ein mit Moos bewachsener Felsbrocken an seinem Gesicht vorbei. Er konnte erkennen, dass Blumen darauf wuchsen. „In Ordnung", willigte er schließlich murmelnd ein. Er konnte nicht leugnen, hin und weg zu sein. Er war ein Mann, der schon Vieles gesehen hatte, und doch konnte er sich immer wieder für Neues begeistern. In einem war er sich sicher: „Das hier sehe ich zum ersten Mal. Ist das vielleicht ein Traum von Ihnen?"

„Vielleicht", erwiderte Nina ruhig. „Vermutlich, oder?" Eine Weile betrachteten die beiden das Schauspiel, das sich vor ihnen erstreckte. Diese Unendlichkeit, in der ganze Inseln auf eine stumme und langsame, aber doch stetige Wanderschaft begaben. Dann auf einmal, als ein größerer Felsbrocken etwa einen Yard unter ihnen hinwegschwebte, hielt der Doktor Nina eine Hand hin. „Miss Featherstone?", fragte er auf eine höfliche, fröhliche Art.

Sie ergriff sie freudig, ohne weiter nachzufragen. Gleichzeitig gingen sie in die Knie, um Schwung zu holen, und drückten sich ab. Es dauerte nicht lange, bis sie auf dem Felsbrocken landeten, doch in diesem Bruchteil von einer Sekunde, in dem Nina die Luft an sich vorbeiziehen spürte und sah, wie Inseln in einem Himmel schwebten, der in jede Richtung kein Ende zu haben schien, strömte das Adrenalin durch ihren Körper. Auf dem Felsbrocken gelandet grinste sie breit, was den Doktor zu erfreuen schien, denn er hatte einen ähnlichen Gesichtsausdruck. Ganz leicht hatte der schwebende Stein unter ihrem Gewicht nachgegeben. Nun balancierte er sich wieder aus.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, sprangen der Doktor und Nina gleichzeitig los, als hätten sie sich stumm abgesprochen. Sie hüpften von einem Felsen zum nächsten. Meistens waren sie nicht groß genug für zwei Personen, sodass sie sich zwar in die gleiche Richtung bewegten, allerdings verschiedene Wege benutzen mussten. So ließen sie den mysteriösen Gang hinter sich, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken. Sie sprachen auch nicht viel miteinander, dafür lachten sie viel und hatten vor allem einen unheimlichen Spaß. Sie stellten fest, dass die Felsbrocken je nach Größe unterschiedlich viel nachgaben: Je kleiner der Stein, desto mehr sank er ab, bevor er sich wieder ausbalancieren konnte. Inseln waren dafür sehr stabil.

Auch wenn Nina und der Doktor anfangs noch sehr unsicher waren und immer etwas Angst hatten, abzurutschen und herunter ins endlose Nichts (oder den nächsten Felsbrocken) zu stürzen, verflog das mit der Zeit. Schon bald hatten sie beide vergessen, dass es sich hier um eine künstliche Umgebung handelte.

Sie waren in eine Art Wettrennen übergegangen, ohne dass es jemand angekündigt hatte. Die zwei versuchten schneller als der andere bei der nächsten Insel anzukommen. Letztendlich gewann der Doktor, schließlich hatte er auch längere Beine und eine geübtere Ausdauer. Spaß hatte es trotzdem gemacht.

Schwer keuchend und mit einem breiten Grinsen im Gesicht ließen sie sich nebeneinander ins sanfte, grüne Gras fallen. Es war eine vergleichsweise sehr große Insel, auf der sie sich befanden. Man konnte nicht bis ans gegenüberliegende Ende blicken. Beide spürten ein Glücksgefühl, dass sie sorgenfrei werden ließ. Es war nichts zu hören außer ihr Keuchen und der Wind, der ab und zu durchs Gras raschelte. Sie hatten jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange war es her, dass sie den dunklen Gang verlassen und diese wunderbare Szenerie von schwebenden Inseln und Felsen gesehen hatten? Zehn Minuten? Dreißig? Oder doch schon zwei Stunden? Nina konnte es bei bestem Willen nicht sagen. Aber das war ihr auch egal. Eine Weile betrachtete sie noch wie ganz langsam die kleinen Wölkchen vorbeizogen, da auch diese Insel sich fortbewegte, dann schloss sie die Augen. Sonnenstrahlen kitzelten wohltuend ihr Gesicht; das Gras war weich; die Geräusche des Windes beruhigten sie...

„Zwei Stunden, 27 Minuten und 55 Sekunden." Die Stimme des Doktors ließ Nina erschrocken zusammenzucken. Sie war eingenickt. Es war so ruhig gewesen und nun hatte er die Stille durchbrochen. „Huh?", konnte Nina, immer noch etwas benommen, nur von sich geben. Sie gähnte und blinzelte anschließend mehrmals. Der Doktor hatte sich aufgesetzt und blickte in den Himmel voller Inseln und Felsen. Nina brauchte einige Momente, um festzustellen, dass es dunkel war.

„Huch, wie lange habe ich denn geschlafen?", merkte sie überrascht auf. Auch sie setzte sich hin, stützte sich jedoch noch mit ihren Händen, die sie hinter sich platzierte, ab. „Nun ja, allzu lange kann es nicht gewesen sein", antwortete er. Irgendwie war seine fröhliche Stimmung von vorhin verflogen. Er wirkte nachdenklich. „Wie kommen Sie darauf?", fragte Nina nach.

„F-Red-D hat gesagt, dass wir drei Stunden in der Wunschkammer haben. Danach verliert das Anima-Serum seine Wirkung." Nina war verwirrt, doch dann fiel ihr ein, wo sie sich eigentlich befanden. Es war der Wahnsinn, wie realistisch das alles herüberkam. Beiläufig fuhr sie mit einer Hand durchs Gras. Es kitzelte ihre Handfläche. „Und nun stellen Sie sich die Frage, wie viel Zeit wir noch übrig haben", forderte er sie auf.

„Zwei Stunden, 27 Minuten und zwei Sekunden", erwiderte Nina wie aus der Pistole geschossen, ohne darüber nachzudenken. Im nächsten Moment war sie verdutzt von sich selber. „Woher weiß ich das?" Der Doktor zuckte mit den Schultern. „Vermutlich ist das im Serum mitinbegriffen: Ein automatischer Countdown."

„Moment! Das heißt, wir sind erst seit knapp einer halben Stunde hier?" Jetzt war Nina richtig verwirrt. Auch wenn ihr Zeitgefühl flöten gegangen war, hätte sie wetten können, dass mindestens eineinhalb Stunden vergangen waren. Alleine die Veränderung der Tageszeit sprach dafür.

„Offensichtlich", murmelte er. Immer noch hatte der Doktor diesen nachdenklichen, fast schon verdrießlichen Blick. Seine Hände spielten unruhig miteinander. „Alles in Ordnung?", erkundigte sie sich, als ihr es auffiel. „Nicht ganz", erwiderte er ehrlich. „Nicht nur Sie sind eingeschlafen. Ich bin es auch. Ich bin eingeschlafen und habe das Gefühl für die Zeit verloren." Nina verstand. Ein Time Lord, der fast nie schlief und dann auch noch die Zeit nicht richtig einschätzen konnte... „Geht es Ihnen nicht gut?", fragte sie weiter nach. „Doch, doch", wimmelte er schnell ab. „Es gefällt mir nur nicht ganz." Kurz wurde es still.

Dann aber sprang der Doktor plötzlich auf die Beine. „Wie dem auch sei. Uns bleiben noch etwas weniger als zweieinhalb Stunden und wir wollen sie doch nicht mit dummen Rumsitzen verschwenden, oder? Wer weiß, was für Erinnerungen und Träumen noch so in unseren Köpfen schlummern!" Er half ihr auf. Seine Lebensenergie schien wieder zurückzukehren. Nina war trotzdem noch nicht ganz überzeugt. „Sicher, dass alles okay ist?"

„Natürlich", antwortete er enthusiastisch. „Und sollte irgendetwas passieren, dürfte das ja auch keine weiteren Probleme darstellen, schließlich werden wir die ganze Zeit überwacht." Er grinste breit. „Stimmt", fiel Nina wieder ein. „Das habe ich schon wieder fast vergessen."

„Nun ja, irgendwo ist das ja auch der Zweck des Gedächtnispalastes, oder? Die Realität nur mal für ein paar Stunden zu vergessen und in seinen kühnsten Träumen leben." Mit einer Handbewegung gewährte er ihr den Vortritt, weg vom Himmel mit dem fliegenden Gestein zur Mitte der großen Insel. Es ging auf einen Wald zu, der mit Sicherheit vorher noch nicht da gewesen war.

Was Nina durch ihren Vortritt nicht mehr sehen konnte, war, wie der Doktor sich noch einmal umblickte. Sein Blick hatte jede Fröhlichkeit verloren. Eher wirkte er scharfsinnig suchend. Fast schon strahlten seine Augen eine Warnung aus, vielleicht sogar eine Drohung? Doch dann folgte er seiner Begleiterin, ohne weiter zu zögern.

Auf einem Bildschirm sah man, wie Nina und der Doktor durch die strahlendweiße Wunschkammer liefen. Aber es war seltsam: Es sah so aus, als würden sie ganz normal gehen und sich fortbewegen, doch sie taten es nicht. Als würden sie auf einem Fließband auf der Stelle laufen. Das merkten die beiden natürlich nicht, aber es war nun einmal so. Die Sphäre in der Wunschkammer war so ausgerichtet, dass sie unendlich schien, obwohl sie endlich war.

Einige Fasern, die an schwarze Schnüre erinnerten, bewegten sich über die Bildschirmfläche, dann zogen sie sich zurück und formten Augen, die zu einem bestimmten Alien gehörten. Er sah aus wie eine mit schwarzen Stroh überquellende Vogelscheuche. Diese Rasse sah, indem sie ihre Fasern über das Zielobjekt ausspannten. „Denkt ihr, er weiß es?", fragte der Wululu, so nannte man die Vogelscheuchenaliens. Seine erstaunlich piepsige Stimme war ängstlich. Neben ihm befanden sich noch drei weitere Aliens verschiedener Arten, die allesamt einen Bildschirm vor sich hatten, der Nina und den Doktor zeigten, nur von anderen Winkeln. Abgesehen von den Überwachungsbildschirmen gab es nochmal neun weitere, die komplizierte Diagramme, Messwerte und Graphiken zeigten. Diese Bildschirme stellten die Gehirnaktivitäten und deren Reaktion mit der Sphäre der beiden Besucher dar.

Hinter den vieren, die allesamt gleichzeitig noch wild auf einer Tatstatur tippten und für die Überwachung zuständig waren, stand F-Red-D. „Nein, das kann er gar nicht", erwiderte der lilafarbene, teigartige Quoll. Trotz seiner Worte wirkte er nicht ganz überzeugt. „Woher denn auch? Und selbst wenn er etwas wüsste, hätte er niemals die Wunschkammer betreten. Hätte seine Freundin ihn nicht bedrängt, wäre er da sowieso nicht rein."

„Nun ja", meldete sich ein dritter, weiterer Alien, der ebenfalls vor einem Bildschirm saß. Der Blick seines einzelnen Auges wanderte nach oben zu den Bildschirmen mit den Statistiken. „Alle Werte sind momentan im Normalbereich und ein Sechstel der Zeit ist bereits um."

„Wir müssen einfa-..." F-Red-D wurde unterbrochen, da jemand den Überwachungsraum betrat. Jeder wandte sein Körperteil, an dem sich die Sehorgane befanden zur Tür, woraufhin sich allesamt stramm aufrichteten. „Professor Sintus", grüßte F-Red-D demütig.

Ein humanoider Alien betrat den Raum. Auch wenn von der Körperbehaarung übermenschlich viel vorhanden war, konnte man Teile der faltigen, grün-schwarzen Haut erkennen. Des Weiteren trug er etwas, das tatsächlich wie ein schwarzer Anzug von der Erde aussah. Trotz seiner alienhaften Erscheinung erkannte man, dass dieser Mann alt war. Durch seine gebückte Körperhaltung reduzierte er seine Größe auf etwa ein Viertel und er benötigte eine Gehhilfe aus silbernen Metall. Haare und Bart waren schlohweiß und mindestens zwei Meter lang; die Augenbrauen waren so buschig, dass man nicht nur die Augen, sondern auch die Nase nahezu gar nicht erkennen konnte.

„Setzen Sie sich", sprach der Erfinder des Gedächtnispalasts mit kratziger und doch aufgeweckter Stimme zu den Analytikern, was sie sogleich auch taten. F-Red-D blieb stehen. Gezielt schlurfte der Professor zu den Bildschirmen. Man sah seine Augen nicht, doch man merkte, wie sein scharfer Blick auf dem Doktor verweilte. „Ist er das?"

F-Red-D trat neben ihn. Die anderen tippten und arbeiteten schon wieder weiter. „Ganz genau. Seine Begleiterin ist dort zu sehen." Er verwies mit seinem teigigen Arm auf den nächstlegenden Bildschirmen. Man sah weiterhin nur, wie die beiden zu laufen schienen, ohne dass sie es taten. Ab und zu drehte sich Nina zum Doktor um und sprach strahlend mit ihm, woraufhin er etwas mit freudigen Ausdruck erwiderte. Sie wirkten fröhlich und unschuldig, doch im Überwachungsraum lag eine gewisse Spannung. „Zwei ganz neue Lebensformen... Zwei ganz neue Gehirne", setzte F-Red-D noch hinzu, wohlwissend, dass der Professor bereits davon in Kenntnis gesetzt worden war.

Professor Sintus' Kopf huschte nur ganz kurz zu Nina, ehe seine Augen wieder am braunhaarigen Mann klebten. Der Doktor schien ihn in den Bann zu ziehen. „Ein ganz erstaunliches Exemplar", murmelte er mehr zu sich. „Man könnte meinen einmalig." Plötzlich wandte er sich vom Bildschirm ab und F-Red-D zu. „Was meinen Sie? Ich hörte, er war misstrauisch."

„Richtig", bestätigte F-Red-D. „Aber das ist normal. Einige Lebensformen werden misstrauisch, wenn sie hören, dass eine Verbindung zum Gehirn hergestellt werden soll."

„Das ist die Frage", warf Professor Sintus ein. „Was ist er für eine Lebensform? Wir haben bis jetzt bei jedem Besucher die Lebensform bestimmen können. Doch was ist er? Er scheint praktisch nicht zu existieren!"

F-Red-D zögerte. „Da gibt es noch etwas, Professor. Er hatte einen Gutschein von 100% Nachlass bei sich. Angeblich wäre er von uns, aber wir stellen solche Gutscheine nicht aus."

„Ist das so?", erwiderte der Professor überrascht. Sein Blick wanderte wieder zum Bildschirm. „Sorgt dafür, dass nichts passiert. Es wäre ein Jammer, eine solche Person durch die Lappen gehen zu lassen. Insbesondere, wenn sie nicht zahlen will."

„Keine Sorge!" Nun wirkte F-Red-D zuversichtlicher. „Alle Werte sind im Normalbereich und die beiden sind seit bereits 37 Minuten in der Wunschkammer."

„Das sagt nichts." Die Stimme des Professors war ganz ruhig, umso mehr schnitten seine Worte ein. „Das wissen Sie doch, F-Red-D. Normalwerte sagen rein gar nichts." Ein Hauch von Trauer, aber auch Ärgernis war in der Stimme zu hören. F-Red-D verstummte. Professor Sintus' Blick ruhte immer noch auf dem Bildschirm. Der Doktor fasste sich in diesem kleinen Rechteck an sein Ohr, während Nina aufgeregt auf etwas zeigte, das gar nicht existierte.

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