Süße Versuchung: Teil VIII

Während Nina also sich in dieser Menschenmenge orientieren und Fragen und der Polizei ausweichen musste, stellte sie plötzlich fest, dass der Doktor nicht mehr bei ihr war. Hatte sie vorhin an der Ecke nicht noch die blaue Telefonzelle von heute Morgen gesehen? Jetzt war da jedenfalls keine mehr. Und der Doktor war auch spurlos verschwunden.

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Zum Glück hatte kaum einer mitbekommen, dass Nina ebenfalls aus dem Gebäude in der Baustelle gekommen war. Dadurch hatte sie in Ruhe verschwinden können. Sie hatte zum Café gemusst, in dem ihr Abenteuer mit dem Doktor begonnen hatte, schließlich war ihre Handtasche noch dort gewesen.

Sie war sicher von den Café-Angestellten verstaut worden. Der Besitzer hatte sie wiedererkannt und war abermals sehr freundlich gewesen. Er und Nina hatten sogar einen kleinen Plausch geführt. Der Ältere befürchtete durch die Explosion Tinnitus zu bekommen. Es war viel zu laut für seine alten Ohren gewesen, hatte er gesagt. Nina hatte ihm Mut zu gesprochen.

Nun schlenderte sie eben vom Café zu ihrem Auto, um nach Hause zu fahren. Sie checkte im Laufen ihr Handy. Vier verpasste Anrufe von ihrem Bruder, einer von Milly. Es erstaunte die junge Frau, dass ihre alte Klassenkameradin ihre Nummer hatte. Immerhin hatte sie sich vor zwei Jahren ein neues Handy besorgen müssen, als ihr altes in Cardiff kaputt gegangen war. Das war ja auch eine seltsame Geschichte gewesen... Na ja, wie dem auch sei. Die Nachricht von Millys Anruf klickte sie weg, dann wählte sie eine Nummer und legte ihr Handy an ihr Ohr. Sie redete nur wenige Minuten mit ihrem Bruder. Er hatte von den Explosionen in London gehört und wollte wissen, ob es seiner älteren Schwester gut ginge. Die Geiselnahme und die Forderung von Zucker hatte er als weniger sorgenvoll empfunden, er hatte das alles für einen schlechten Scherz gehalten, was ja dann letztendlich laut den Nachrichten auch der Fall gewesen war.

Ja, die Nachrichten... Nina hatte es schon in den Schaufenster der Läden gesehen, an denen sie vorbeigelaufen waren. Für sie war heute einer der spannendsten, unglaublichsten und lohnenswertesten Tage ihres Lebens gewesen und die Menschheit verleugnete es. Nachdem sie aufgelegt hatte, steckte sie ihr Handy zurück in die Tasche und ging mit gesenktem Kopf weiter. Sie hing ihren Gedanken nach, während die Schatten immer länger wurden und die untergehende Sonne die Stadt in ein orangenfarbenes licht tauchte. In ihrem Kopf brummte es und alles drehte sich nur um den Doktor.

Um ehrlich zu sein war Nina schon sauer auf ihn, dass er einfach so verschwunden war. Es war nicht fair. Ein Reisender, klar... Die hielten es nicht lange an einem Ort aus. Er hätte sich zumindest bedanken können.

Sie achtete nicht auf den Weg und stieß mit jemanden zusammen. „Verzeihung!", murmelte sie ohne aufzuschauen. Sie war es gewohnt, dass ihr so etwas passierte.

„Viel mit den Gedanken unterwegs, heh?" Verwundert blickte Nina hoch, nur um in braune Augen zu blicken, die das Grinsen im Gesicht wiederspiegelten. Es war wie in einem Märchen. Vor ihr stand der Doktor. Jetzt hatte er seinen Mantel wieder an.

„Sie sind ja noch da!", stieß sie überrascht aus. Damit hätte sie wirklich nicht gerechnet.

„Natürlich!", erwiderte er fast schon empört. Dann aber schien er einzusehen, dass ihre Aussage berechtigter war, als er erst angenommen hatte. „Ja gut, ich hätte sagen sollen, dass ich kurz verschwinden muss, tut mir leid. Aber ich musste zusehen, dass sich das hier verbreitet." Mit einer ausladenden Armbewegung deutete er auf die Bildschirme und andere Arten von Medien, die momentan immer noch bekannt gaben, dass die Zucker-Aktion ein Streich gewesen war.

„Wieso machen Sie das?", wollte Nina wissen. „Sollte die Welt nicht erfahren, was wirklich passiert ist?"

„Nein", war die strikte Antwort. „Die Menschen sind noch nicht bereit dafür. Früher oder später hätten sie das sowieso so dargestellt. Haben Sie das letztes Jahr mit dem Royal Hope Hospital mitbekommen?"

„Sie meinen die Geschichte, dass es angeblich auf dem Mond gewesen sein soll?" Nina lachte auf. „Tut mir ehrlich leid, ich bin ja eigentlich gewillt an außerirdisches Leben zu glauben, aber ein ganzes Krankenhaus auf dem Mond? Ich bitte Sie. Wie hätten die denn atmen sollen? Und warum war es auf dem Mond und dann ein paar Stunden später wieder in London? Also, das ist wirklich weit hergeholt."

Der Doktor erwiderte nichts, er schaute sie nur mit einem intensiven belehrenden Blick und hochgezogenen Augenbrauen an.

Ihre Mundwinkel sackten nach unten, als sie begriff. „Sie wollen mich veräppeln!"

Seine Miene änderte sich nicht: „Ich war dabei."

„Nein!", meinte sie nur laut. Das konnte sie jetzt nicht glauben.

Er nickte. „Oh doch!"

Abermals lachte sie auf, dieses Mal aber weil sie so erschlagen war. „Das gibt's nicht! Ein ganzes Krankenhaus?"

„Jap. Wir waren in einer Luftblase eingeschlossen. Ist 'ne lange Geschichte." Beiläufig winkte er ab.

Sie musterte sein Gesicht. „Sie haben viele Geschichten, die Sie erzählen können, nicht wahr?"

Er nickte nur, lächelnd.

Sie feixte mit leicht schief gelegtem Kopf. Der Mann war interessant. „Wer sind Sie?", fragte sie schließlich.

Da wandte er sich dem Gehen zu. „Kommen Sie mit", forderte er sie auf. „Ich will Ihnen etwas zeigen."

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Nach kurzer Zeit, in der Nina dreimal versuchte hatte Antworten auf ihre Frage zu bekommen, dafür allerdings nur ein selbstzufriedenes Grinsen geerntet hatte, standen die beiden in einer Seitengasse. Die junge Miss Featherstone blieb überrascht stehen. „Das ist die Telefonzelle von heute Morgen!"

„Jop!" Der Doktor lief auf sie zu, blieb direkt davor stehen und drehte sich dann um, damit er sich dagegen lehnen konnte. Die Hände steckten locker in den Hosentaschen und ein Mundwinkel war lässig höher gezogen als der andere. „Damit reise ich herum. Man nennt es ‚Tardis'", erklärte er. „Das ist kurz für Time And Relative Dimension In Space."

„Aber... Das ist einfach eine alte Telefonzelle", erwiderte Nina daraufhin und deutete auf die blaue Kiste.

Verärgert zog der Braunhaarige die Augenbrauen zusammen. „Haben Sie mir eigentlich gerade zugehört? Sind Sie nicht beeindruckt?"

„Ja, schon", wimmelte sie schnell ab. „Aber wenn das Ihr Raumschiff ist, wieso schaut es dann aus wie eine Polizeirufnotzelle? Das sieht alles andere als außerirdisch aus."

Ergeben seufzte der Mann. „Mit Mal zu Mal kritisieren sie mehr", murmelte er sich selber zu. Dann hob er die Stimme. „Meinen Sie nicht, dass so ein außerirdisch aussehendes Raumschiff in London nicht auffallen würde? Das ist die Tarnfunktion!"

„Aber solche Dinger gibt es nicht mehr."

„Na und? Fällt trotzdem nicht auf. Ich mag das Design." Beim letzten Satz grinste er und strich zärtlich über das Holz.

„Okay okay, schön und gut. Nichtsdestotrotz, ist das nicht ein bisschen eng? Oder instabil?" Nina zog die Augenbrauen hoch.

Eigentlich hatte sie erwartet, dass er wieder verärgert sein würde. Stattdessen grinste er. „Sehen Sie selbst." Er öffnete die rechte Tür, indem er drückte. Vorsichtig kam sie näher. Er hielt ihr auf. „Madame?"

Neugierig und nur etwas zögerlich betrat sie die blaue Box. Ihr Mund klappte auf. „Das ist... von innen viel größer als von draußen!" Und so war es auch. Es schien so, als wäre das hier der Kontrollraum. Alleine er war schon viel zu groß und zu hoch, als dass er in diese blaue Box passte, und dann schienen noch unzählige Gänge in andere Teile des Raumschiffes zu führen. In der Mitte des ovalförmigen Raumes befand sich das kreisförmige Schaltpult, das mittels einer grün leuchtenden Säule mit der Decke verbunden war. Einige gelb-braune, organisch aussehende Stützpfeiler waren auch da. Nina kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Sie drehte sich um, um endlich die Frage zu stellen, die sie die letzten Stunden nicht mehr losgelassen hatte, doch sie erschrak erst einmal ein wenig. Der Doktor stand direkt hinter ihr und blickte verträumt, fast schon liebevoll ins Innere seines Raumschiffes. Hastig tat sie einige Schritte zurück. „Was sind Sie?"

Seine Augen richteten sich von der Konsole zu ihr: „Ich bin ein Time Lord vom Planeten Gallifrey. Mit der Tardis reise ich durch Zeit und Raum. Auf jeden Planeten, auf jeden Stern in diesem Universum, zu jeder Zeit."

„Was?", entfuhr es ihr lauter als gewollt. „Das gibt's nicht. Das wäre... der Wahnsinn!"

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Das ist es auch!"

Sie konnte es nicht fassen. Ein Zeitreisender? Der Doktor war ein Zeitreisender! Time Lord... Bescheidener ging's ja wohl nicht, oder? Doch dann bremste sie ein Gedanke und sie runzelte mit skeptischen Blick die Stirn. „Wenn sie ein Alien sind, wieso schauen Sie dann wie ein Mensch aus?"

„Wieso schauen Sie wie ein Time Lord aus?", war seine Gegenfrage. Als sie nicht antwortete, grinste er überlegen.

Sie ließ von diesem Thema ab. „Der Doktor...", dachte sie laut nach. „‚... Freund und Helfer aller'..." So hatte er sich im Café bezeichnet. „Das machen Sie also? Reisen durch Raum und Zeit... und helfen?" Der Doktor wollte schon antworten, doch sie ließ ihn nicht. „Die Snailers haben gesagt, dass Sie Reiche entzweit und Zivilisationen zerstört hätten."

Sein Lächeln verschwand. „Das sind ihre Legenden. Sie übertreiben."

„Aber sie brauchen immer einen wahren Kern", erinnerte sie ihn. Sie bekam nur Schweigen als Reaktion zurück, deswegen fragte sie weiter: „Wieso haben die Ihnen ihr Beileid ausgedrückt?"

Er zögerte. Dieses Thema gefiel ihm nicht, das bemerkte jeder Blinde. Dennoch antwortete er: „Die Time Lords... Es gibt sie nicht mehr. Ich bin der Letzte."

Ihr Blick spiegelte Verwunderung und ehrliches Mitleid wieder. „Wieso?"

„Es gab einen Krieg, den Zeitkrieg, in dem die Time Lords gegen eine Rasse gekämpft haben. Gegen die brutalsten, grausamsten und kaltherzigsten Wesen im ganzen Universum."

„Sie haben als Einziger überlebt?"

Nicken.

Nina traf diese Reaktion. Eine einfache, alltägliche Bewegung konnte so eine schreckliche Botschaft übermitteln. Es musste einsam sein. Sehr einsam. Der letzte seiner Art und ihm standen Raum und Zeit zur Verfügung. „Aber...", bemerkte die junge Frau. „... müsste es Ihnen als Time Lord nicht möglich sein, die Auslöschung ihrer Art zu verhindern?"

Traurig lächelte er. „Es gibt Dinge im Universum, die geschehen, weil sie es müssen. Versucht man es zu ändern, bricht alles zusammen."

„Ist das nicht... einsam?", fragte sie vorsichtig. Sein Lächeln verschwand nicht; er nickte. „Das tut mir leid", kam es ehrlich von ihr.

„Danke."

Die Stimmung war bedrückt. Nina hatte nicht gewollt, dass es so kam.

Der Doktor schien es auch zu spüren. Schnell klatschte er in die Hände. „So, was jetzt?" Er streifte seinen Mantel von den Schultern und schmiss ihn im Laufen in eine Aushebung der Stützpfeiler, wo er liegen blieb. Der Braunhaarige rauschte an Nina vorbei und ging zum Schaltpult. Die Tardis und in der Mitte der fröhliche Doktor. Er lief um das Schaltpult herum, zog ein paar Hebel, drückte hier und da mal einen Knopf; er war in seinem Element. Von dort aus flog dieser Mann durch Raum und Zeit, von Planet zu Planet, von Stern zu Stern, von der griechischen Antike bis zum Untergang der Erde. Und da sprang er herum, wie ein Kleinkind, das kaum erwarten konnte, sein nächstes Spielzeug auszupacken. Nina war fast in Trance, als sie ihm zuschaute.

„Was haben die mit den tausenden Gesichtern gemeint?", fiel ihr plötzlich ein.

„Das ist kompliziert", wimmelte er ab, während er an seiner Zeitmaschine hantierte. „Erkläre ich ein andermal."

„Ein andermal?", wiederholte sie verdutzt. Hoffnung keimte in ihr auf. „Kommen Sie mich mal besuchen?"

„Besuchen?" Mitten in der Bewegung hielt er inne und schaute auf. Seine Augen wurden groß. „Wollen Sie etwa nicht mitkommen?"

Das riss sie aus den Socken. „Mit Ihnen mitkommen? Durch Raum und Zeit reisen?"

Er zuckte mit den Schultern und nickte dabei, wobei er sich wieder komplett aufrichtete und langsam auf sie zu lief. Der Doktor stand jetzt direkt vor ihr. „Sie müssen nicht, wenn Sie nicht wollen." Seine Stimme war ernster als zuvor.

Sie musste nervös auflachen. „Ich danke Ihnen für die letzten Stunden. Alles war so ätzend. Die Abwechslung hat richtig gut getan. Das war vermutlich der spannendste Tag meines Lebens. Aber meine Arbeit, mein Haus...!" Mitkommen? War das möglich? War das vernünftig?

„Jeder Tag könnte so ausschauen, wenn Sie wollen", machte er ihr klar und fasste sich an sein rechtes Ohr.

„Ist es immer so gefährlich?"

„Nein", antwortete er und schüttelte langsam den Kopf. Er grinste. „Es ist viel gefährlicher." Sie blickte nachdenklich ihm in die Augen.

Er schien zu bemerken, dass sie sein Angebot sehr reizte, denn er lächelte: „Miss Featherstone, wollen Sie mich begleiten?"

Sie schaute ihm in die Augen, überlegte... Und lächelte. Breit. „Liebend gern, Doktor."

Er grinste, auch breit. Seine Lebensfreude kehrte zurück. ‚Er ist einsam in diesem Universum', rief sich Nina in Erinnerung. ‚Natürlich braucht er Gesellschaft.' Außerdem hatte sie ihr Leben satt. Das war vermutlich das Beste, was ihr passieren konnte. Oder was überhaupt einem Menschen passieren konnte. In ihr machte sich ein warmes, sehr mächtiges Gefühl breit, das sie Strahlen ließ.

Der Doktor werkelte schon wieder an seinem Schaltpult herum. „Wo wollen Sie hin? Tiefes Mittelalter? Die nächste Eiszeit? Der fünfte Weltkrieg? Den dritten und den vierten lassen wir lieber sein..."

Nina lachte. „Keine Ahnung. Ich muss mich da erstmal dran gewöhnen."

„Keine Sorge!", rief er übereifrig. „Das geht schnell!" Er zog einen ziemlich großen Hebel und alles rumpelte.

„Huch!", stieß die junge Frau überrascht aus. Beide verloren das Gleichgewicht fielen zu Boden. „Keine Panik, das ist normal!", ächzte der Doktor vom Gitterboden aus.

Wieder musste die junge Miss Featherstone lachen. „Gibt es eigentlich noch irgendetwas, das ich über Sie wissen müsste?"

„Na ja", wusste der Doktor direkt etwas, während die beiden sich wieder aufrappelten, „ich besitze zwei Herzen."

„Zwei?! Reicht Ihnen eins etwa nicht?" Sie gluckste belustigt über ihren eigenen Witz.

Er grinste und freute sich auf die Zeit mit seiner neuen Begleiterin.

Hoffentlich würde es nicht wieder ein Beziehungsproblem aufgrund nicht erwiderter Gefühle geben. Doch im Inneren bedankte sich der Doktor bei Ninas Vorgängerin. Sie hatte seine Welt wieder bunter gemacht.

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