Süße Versuchung: Teil VI
Der Raum war nicht leer.
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„Autsch!", murmelte jemand Männliches.
„Tut mir leid!", murmelte Nina automatisch. Jetzt erst wurde ihr klar, in was für einer Situation sie sich zu befinden schien und war leicht verwirrt. Das hatte menschlich geklungen. Sie blickte auf. Das Zimmer war nicht stark beleuchtet, da es keine Fenster hatte und noch keine Lampen eingelassen worden waren, doch Snailers waren hier nicht drinnen. Es waren Menschen. Etwa zwei Dutzend.
Und doppelt so viele Augen waren es, die sie jetzt verwundert anstarrten. „Wer sind Sie?", fragte jemand.
„Äh...", war die erste nicht sehr geistreiche Antwort. „Ich heiße Nina." Vorstellen. Das war immer eine gute Idee. Sie stellte fest, dass es hier bloß drei Frauen gab, der Rest waren Männer. Das mussten die Arbeiter von der Baustelle sein. Nicht nur Bauarbeiter, vermutlich auch Verwalter... oder so... Je nachdem, was man so auf einer Baustelle brauchte.
Nina wollte sich gerade aufstellen, als sie wieder das saugende Geräusch vernahm. Es kam näher.
„Schnell!", zischte jemand rechts von ihr. „Setzen Sie sich hinter uns! Schneidersitz! Und Arme hinterm Rücken halten!" Immer noch nicht ganz auf der Höhe wandte sie ihren Kopf in diese Richtung. „Jetzt machen Sie schon!"
Plötzlich drangen die Worte zu ihr in den Kopf und sie tat wie geheißen. Während sie sich in Position begab, ließ sie ihren Blick durch den Raum huschen und erkannte denjenigen wieder, der in den Fernsehen gesprochen hatte. Auch fiel ihr auf, dass allesamt gefesselt waren: Die Arme hinter dem Rücken und die Beine im Schneidersitz an den Knöcheln. War bestimmt nicht bequem, aber der Typ, der ihr angeordnet hatte, sich in die gleiche Pose zu begeben, hatte gut reagiert.
Nicht mal eine Sekunde, nachdem Nina zur Ruhe gekommen war, kam etwas in den Raum... was war das? Geschlurft? Nein, gekrochen. Schnecken krochen und das Ding war eine Schnecke. Kein Zweifel. Snailer. Wirklich kreativ war der Doktor damit ja nicht gewesen. Eine gigantische Nacktschnecke, die mehr breit als lang war. Nur das hintere Drittel des Körpers hatte Kontakt mit dem Boden, der Rest stand aufrecht. Ein Snailer besaß sogar zwei Ärmchen, die allerdings verglichen mit dem restlichen Körper viel zu dünn waren und zu weit unten saßen. Mannshoch waren die Körper, dann musste man aber noch die Augen, die etwa eineinhalb Fuß maßen, draufrechnen. Um jedes Auge befand sich eine durchsichtige Kugel, welche durch eine metallartige Kette verbunden waren. Nina musste instinktiv an Brillen denken. Außerdem hatte der Snailer Kleidung an. Keine Hose, aber ein Oberteil. Um genauer zu sein, einen weißen Laborkittel. In letzter Zeit haben sie große Sprünge in der Wissenschaft gemacht, hatte der Doktor gesagt. Das waren Wissenschaftler.
Der Snailer blickte sich um: „Ich habe Lärm vernommen." Nina war überrascht, dass er reden konnte. Sie fand nichts, was ein Mund sein könnte. Außerdem sprach er nicht im perfekten Englisch: Er zischte dabei irgendwie und immer wieder waren Plopp-Geräusche zu hören.
„Es ist nichts", erwiderte der Mann, über den Nina gestolpert war. „Ich wollte mich nur bequemer hinsetzen und bin dabei hingefallen."
Der Snailer reagierte nicht. Er schaute sich langsam um, blickte jeden einzelnen an. Ninas Herz raste. Die Hände waren hinter ihrem Rücken und die Beine von ihren Vordermännern weitgehend verdeckt, sodass er eigentlich nicht bemerken dürfte, dass sie gar nicht gefesselt war. Und doch hatte sie einfach Angst, dass sie entdeckt wurde.
Der Außerirdische blickte auch sie an.
Sie starrte zurück.
Sein Blick schweifte weiter. Er war durch und nickte: „Gut." Dann drehte er um und ging wieder. Ein riesiger Stein fiel ihr vom Herzen, doch in ihrem Hirn hatte sich etwas eingespeichert. Der Blick des Snailers... War er traurig? Bedauernd?
Einige Sekunden warteten die Menschen in diesem noch ab, dann fingen sie an Nina zu fragen, wer sie sei.
„Ich...", antwortete sie zögernd. Was sollte sie bitte sagen? „Ich... helfe... glaube ich. Jedenfalls habe ich einen... Der Doktor wird kommen und der kann helfen!" Sehr überzeugend klang das ja nicht.
„Ein Doktor?", wiederholte eine der Frauen. „Was soll uns denn ein Doktor bringen?"
Nina schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht ein Doktor, der Doktor."
„Ist das ein Deckname?", wollte jemand anderes wissen. „Ist er von der Polizei?"
„Ich..." Wieder zögerte sie. „Nein, ist er nicht. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wer er ist." Ihre Stimme wurde leiser gegen Ende. Was konnte sie denn schon anders sagen? Wäre sie jetzt eine der Gefangenen, würde sie sich selber alles andere als vertrauenswürdig sehen, geschweige denn beruhigt sein.
Die Leute fragten weiter, wieso sie das denn nicht wisse, wie sie hierhergekommen sei, ob man diesem Doktor vertrauen könne.
„Ja", antwortete sie plötzlich. „Man kann ihm vertrauen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wieso. Ich kann Ihnen keinen Beweis liefern, aber das ist momentan das einzige, was Sie machen können: Ihm vertrauen." Kurz stockte sie. „Das ist da einzige, das ich machen kann."
Die Menschen von der Baustelle schauten sie nur an.
„Okay", meinte sie plötzlich. Sie kam sich gerade richtig dämlich vor. „Vielleicht... ähm... krieg ich die Handschellen auf." Augenblicklich rutschte sie auf Knien zu ihrem Nebenmann und inspizierte die Handschellen am Rücken. „Da ist nichts zu machen", knurrte der. „Wir haben die ganze Zeit schon versucht, die aufzubekommen."
„Ach, so lange können Sie doch noch gar nicht hier sein", erwiderte sie murmelnd. Sie erkannte die Muster in den Handschellen; es waren dieselben, wie auf der quaderförmigen Bombe. Da allerdings ein Schlüsselloch oder Ähnliches zu finden schien eine Sache der Unmöglichkeit zu sein. Nina bekam eine Idee. Nachdenklich ließ sie ihren Blick zum Reagenzglas in ihrer Hand schweifen. Vielleicht half das ja nicht nur, um den Zuckerkomponenten aufzulösen, sondern auch, um im Allgemeinen Technologie der Snailers außer Gefecht zu setzen... Vielleicht war es aber auch ätzend. Sie wollte es nicht riskieren.
„Tut mir leid", seufzte sie und ließ von den Handschellen ab, „aber die krieg ich nicht auf."
„Sag ich doch", erwiderte der Mann, bei dem sie die Handschellen gerade untersucht hat. Okay, ihn mochte sie schon mal weniger.
„Haben Sie zufälligerweise mitbekommen, wie diese... Aliens, ähm... einen Behälter oder so etwas... abgelagert haben? Vielleicht auch abgestellt oder nur darüber geredet?", fragte sie schließlich in die Runde. Möglicherweise konnte sie sich die Suche ersparen.
Die erste Reaktion war Schweigen. Einige schüttelten die Köpfe.
Einer nickte. Er saß vorne, nahe bei der Tür. „Ja... Ich... Ich glaube schon. Die waren plötzlich da, sind aus dem Nichts erschienen." Erst jetzt fiel Nina auf, dass sie gar nicht gefragt hatte, wie die Snailers unbemerkt hergekommen waren. Sie befanden sich auf einer sehr großen Baustelle an der Themse mitten in London! Solche Schneckenwesen hätte irgendjemand doch bemerken müssen. Der Mann fuhr fort: „Als die mich als letztes reingebracht haben, waren da so vier oder fünf, die eine Kiste einfach so zum Vorscheinen gebracht haben. Die war auch plötzlich da. Sah so ähnlich aus, wie unsere Handschellen." Kurz hob er seine an, um die Worte zu unterstreichen. „Was haben die vor?" Er hatte Angst, das sah jeder. Aber wer nahm ihm das schon übel?
„Das haben Sie doch mit Sicherheit gehört", antwortete Nina und stellte sich langsam auf. „Die wollen Zucker."
„Ja, und wieso?"
Daraufhin sagte sie nichts, sondern stellte eine weitere Frage: „Wissen Sie noch, wo diese Kiste ist?"
Dem Mann schien es zu beunruhigen, dass sie seine Frage nicht beantwortete, dennoch meinte er: „An der Süd-Ost-Ecke der Baustelle."
„Ich danke Ihnen", erwiderte Nina. „Ich werde... versuchen, die Schlüssel für ihre Handschellen aufzutreiben." Dieser Satz kam ihr nicht leicht über die Lippen. Noch mehr Gefahr, in die sie sich begeben musste. Aber einfach so rausgehen wollte sie auch nicht.
Ein paar lächelten dankbar, einige hatten sie nicht mal angeschaut. Was sollte es.
Ein letztes Mal lächelte sie noch, dann verschwand sie.
Wow. Jetzt wieder raus. Aber immerhin wurde ihr die Suche erleichtert. Auf dem Weg zum Haupteingang begegnete Nina niemandem, dennoch war sie nicht weniger vorsichtig als vorher. Draußen schlich sie um das Gebäude herum und blieb stets geduckt, vor allem, wenn sie ein Fenster passierte. Das ein oder andere Mal hatte sie schwören können, dass jenseits dieser noch glaslosen Löcher ein ihr inzwischen bekanntes saugendes Geräusch vernahm. Keiner der Snailer war auf den Gedanken gekommen, den schleimigen Kopf hinauszustecken und nach unten zu gucken. Mit jedem weiteren Mal fühlte sich Nina mehr erleichtert.
Dann sah sie die Kiste. Sie hatte die Baustelle an der nord-westlichen Ecke betreten, also war das Zielobjekt an genau der anderen Seite. Das gesuchte Objekt dürfte ihr locker bis zur Schulter gehen und war würfelförmig. Die dunkle Farbe war die gleiche wie bei den Handschellen oder der Bombe. 55 Yards, mehr waren das nicht. Nina blickte sich um und schaute sogar nach oben. Nichts zu sehen. Na denn...!
Mit jedem Schritt, den sie rannte, wirbelte sie Staub auf. Auf einmal stellte sie sich vor, dass sie sich so schnell fortbewegte, dass man kaum sah, wie ihre Füße den Boden berührten. Sie musste grinsen. Das Adrenalin...! Bei ihrem Ziel angekommen klopfte ihre Herz laut, doch das Grinsen hielt an. Dieser Nervenkitzel hatte was.
Doch dann war der Kick auch schon wieder weg und die Angst umklammerte ihren Körper. „Okay...", murmelte sie sich selber zu und stieß Luft aus, um sich zu beruhigen. „Okay okay okay... Öffnung finden!" Genau, eine Öffnung finden! Das war jetzt die oberste Priorität. Sie probierte einfach das erste, was ihr in den Sinn kam aus: Kisten hatten ja normalerweise Deckel nicht? Also griff sie an den oberen Rand des Würfels und strengte ihre Muskeln an. Tatsächlich schien das zu funktionieren. Eine obere Platte bewegte sich nicht mal einen Zoll von ihr weg. Jetzt sah sie auch eine Rille, an der sie sich orientieren konnte. Glücklich über diesen kleinen Erfolg startete sie einen zweiten Versuch und drückte. Das Material war leichter als gedacht, sodass sie locker eine halbe Armlänge freilegen könnte. Aber sie wollte es nicht übertreiben, falls man sie doch von einem der oberen Stockwerke sehen sollte.
Vier Zoll reichten völlig, entschied sie und beließ dabei. Neugierig beugte sie sich nach vorne, um den außerirdischen Reaktionskomponenten betrachten zu können. Erstmal zuckte sie unbewusst zurück. Das stank fürchterlich! Irgendwie nach faulen Eiern und Essig. Diese Nase zuhaltend startete sie einen zweiten Versuch, die Substanz zu inspizieren. Sie war dickflüssiger als Wasser, aber immer noch nicht zähflüssig. Ihre Farbe war von einem schmutzigen Gelb. „Nun gut." Ihre Stimme quäkte dadurch, dass sie ihre Nasenlöcher verschlossen hielt. Einmal tief Luft holen und loslassen. So konnte sie das Reagenzglas besser öffnen. Dosieren? War das nötig. Sie schaute sich um. Es war kein weiterer Behälter zu sehen. „Prost", murmelte sie sich selbst zu und schüttete alles hinein.
Sofort fing die Flüssigkeit das Blubbern und Kochen an. Sollte das blubbern? Was, wenn der Doktor sich geirrt hatte und der entstehende Stoff doch giftig war? Erschrocken von diesem Gedanken verschloss sie die Kiste wieder. Dabei ließ sie versehentlich das Reagenzglas fallen.
Gerade wollte sie sich bücken und es wieder aufheben, da packte sie etwas in ihrem linken Unterarm von der Seite. Es fühlte sich glitschig und schleimig an.
„Was machst du hier?!", zischte eine wütende Stimme. Begleitet wurde das von leider Gottes bekannten Plopp -Geräuschen. Sie erstarrte und ihre Augen weiteten sich. Sie war entdeckt worden. Von den Snailers.
„Äh...", stotterte sie. Ausrede, Ausrede, Ausrede! Eine gute Ausrede und zwar schnell! „Ich hab..." Der Snailer übte Druck auf ihren Arm aus. Sie verstand und erhob sich. Ihren Körper traute sie sich nicht zu drehen, sodass sie den Alien nur als etwas in ihrem Augenwinkel wahrnahm. „Ich hab' mich befreien können... wollte fliehen...", log sie murmelnd.
„Sieh mich an." Die Worte klangen nicht unfreundlich. Es war fast schon eine Bitte. Nina rief sich in der Erinnerung, wie der Snailer im Zimmer der Gefangenen geschaut hatte... bedauernd. So klang auch diese Stimme.
Die junge Miss Featherstone drehte sich ihm zu. Augenblicklich zuckte sie innerlich zurück. Vom Nahen und in der Spätnachmittagssonne konnte sie viel mehr Details erkennen. Der Snailer hatte eine Art Rucksack auf seinem Rücken, der mit den Glaskugeln um seinen hochgelegenen Augen verbunden waren. Das war keine Brille, das sorgte dafür, dass diese Aliens hier atmen konnten. Seine Haut war glitschig und schleimig. Einen Mund konnte sie immer noch nicht erkennen. Es war schwer zu erklären, doch dieser Snailer wirkte jünger als der erste, den sie gesehen hatte.
„Du hast dich nicht befreien können", wusste er. „Menschen können nichts mit unserer Technologie anfangen. Komm mit! Ich bringe dich zum Chef." Er zog an ihrem Arm. Nicht bestimmend, nicht drängend. Vorsichtig. Sie war erstaunt und folgte. Er legte ihr Handschellen an, die er aus seinem weißen Laborkittel hervorholte. Nun ging er vor und führte sie an den Handschellen hinter sich her. Die Dinger saßen tatsächlich sehr fest...
War das überhaupt ein Er? Hatten sie Geschlechter? Und wenn ja, wie konnte man sie unterscheiden?
Der Snailer hinterließ eine Schleimspur auf dem Weg zum und im Gebäude. Nina hatte Angst – mal wieder – dennoch konnte sie nicht wiederstehen, ihren Wärter genauer zu betrachten. Wenn sie so darüber nachdachte, wirkte er dünner und etwas größer als der erste. Die Apparatur auf seinem Rücken wies einige Drähte und Knöpfe auf. Aber die junge Frau konnte nicht anders, als immer wieder auf seine nackten Stellen zu starren. Die, die sie so sehr an Schnecken erinnerten; Wesen von der Erde. Wieso sahen sie sich so ähnlich? Stammten die Snailers vielleicht von Schnecken ab? Waren Schnecken in Wirklichkeit Aliens?
„Hässlich, nicht wahr?", meinte ihr Wärter plötzlich mit nur einem einzigen Plopp als Begleitung und sie zuckte vor Überraschung zusammen. Sie hatte nicht gemerkt, dass er ein Auge zu ihr umgedreht hatte.
„Tut mir leid, ich wollte nicht...", begann sie hastig.
„Schon in Ordnung", unterbrach er sie. (Sie beschloss einfach mal, dass alle Snailers Er's waren.) „Wir finden euch auch hässlich." Vielleicht bildete sie es sich ein, doch Nina meinte Belustigung in der Stimme zu hören. Fast, als würde er glucksen.
Den Rest des Weges verbrachten sie schweigend. Sie liefen Treppen hoch. Mindestens sieben Stockwerke legten sie zurück. Nina starrte nur noch zu Boden. Die Angst bereitete sich wieder in ihr aus. Was würde mit ihr passieren? Würden die sie foltern? Töten? Nein, das glaubte sie nicht. Auf sie wirkten die Snailers gar nicht so bösartig, wie sie schienen. Sie hatten nie die Absicht jemanden zu verletzen, hatte der Doktor gesagt. Könnte doch sein, dass sie das immer noch nicht wollten, oder?
Dann kamen sie an.
Der Snailer hielt seine Gefangene noch hinter sich. Er gab Geräusche von sich; Ploppen, Schlurfen, Klicken und einige Silben. Er sprach in seiner Sprache. Nina verstand gar nichts.
Aber sie hörte, dass geantwortet wurde. Für sie hörte es sich genau gleich an, allerdings schien die Stimme tiefer zu sein. Mächtiger. Der Chef eben.
Auf einmal bewegte sich der Snailer zur Seite und gab Nina frei. Sie konnte den Raum erst jetzt richtig sehen. Er war groß, der größte eigentlich von allen, die sie bis jetzt gesehen hatte. Sollte das später wirklich mal ein Bürogebäude werden, würden hier wahrscheinlich irgendwelche Sitzungen oder Konferenzen gehalten werden. An der Ostseite gab es sogar große Fenster, sodass man auf die Themse blicken konnte. Das London Eye war gar nicht mal so weit weg, man musste nur den Fluss überqueren und dann vielleicht noch ein paar hundert Yards nach Norden laufen und schon war man da.
Doch das alles war irrelevant für Nina. Sie sah nur einen Raum mit knapp zehn Lebewesen, von denen gerade mal einer ein Mensch war. Sie. Sieben Snailers inklusive der, der sie hergebracht hatte, befanden sich hier und schienen gerade an irgendetwas zu arbeiten, womit sie bei ihrem Eintreffen gestoppt hatten. Sie waren mehr oder weniger unterschiedliche groß oder breit oder hatten sogar andersfarbige Haut. Aber alle trugen sie weiße Laborkittel und diese Rucksäcke mit den Kugeln um den Augen. Der ganze Raum erinnerte Nina an ein Labor, doch man merkte, dass es nicht menschlich war. Komische Gerätschaften lagen herum und seltsame Substanzen blubberten in den kuriosesten Behältern. Allerdings hatte Nina genau den gleichen Eindruck, wenn sie ein menschliches Labor betrat.
Der sogenannte ‚Chef' war leicht zu erkennen. Er befand sich in der Mitte und war eindeutig der dickste. Plötzlich hatte Nina ein Bild von Jabba der Hutte im Kopf und musste sich ein Grinsen verkneifen. Das war weitaus nicht der beste Zeitpunkt dafür!
„Guten Abend!", wurde sie vom Chef begrüßt. Abermals war es keineswegs unfreundlich.
„Hallo..." Sie hatte laut sprechen wollen, doch man hörte es kaum. Sie räusperte sich und wiederholte ihre Begrüßung, dieses Mal lauter.
„Kirritass hat mir erzählt, wo er dich gefunden hat", erklärte der Chef und deutete mit seinem dünnen Ärmchen zu dem Snailer, der Nina hierhergebracht hatte. „Ich bitte dich einfach zu erklären, was deine Absichten sind. Das würde eine Menge Zeit sparen. Du musst nicht einmal sagen, wer du bist, das ist unwichtig."
Der Tonfall der Snailers ermutigte Nina. Es gab ihr das Gefühl, dass sie tatsächlich nichts Böses wollen. Sie saß sowieso schon in der Patsche. „Jemand hat mich geschickt. Er... hat herausgefunden, dass ihr diejenigen wart, die die Nachricht im Fernsehen gesendet habt." Sie schaute ihm nicht in die Augen, nur dran vorbei. Sie versuchte eigentlich, den Kontakt zu halten, doch es fiel ihr schwerer als gedacht, mit jemanden zu reden, der nicht von der Erde kam.
„Was für ein Jemand?" Erstaunen. Immer noch nichts, was irgendwie brutal sein könnte.
„Er weiß viel über euch. Über uns. Aber ich habe keine Ahnung, wer er ist."
Daraufhin gab es erst einmal Schweigen. Ein Klicken durchbrach es. Erwidert wurde das von einem Ploppen. Sie redeten miteinander und Nina stand da und verstand nur Bahnhof.
Dann herrschte wieder kurzzeitig Stille.
Die junge Frau fasste sich ein Herz und schaute dem Chef in die Augen. „Bitte zündet die Bombe nicht!" Alle sieben Stielaugenpaare blickten sie an. Nina bekam eine Gänsehaut, redete aber weiter: „Es muss doch niemand sterben wegen Zucker! Können... wir da nicht nochmal darüber reden?" Es blieb weiterhin still. Unsicher blickte sie die einzelnen Snailers ein. „... Oder nicht?" Die Reaktion blieb aus. Stattdessen kommunizierten sie wieder miteinander, doch sie wandten den Blick nicht von ihr ab.
Einer kam näher und sie zuckte zusammen. Der Snailer aber kroch an ihre vorbei und holte etwas vom Tisch am anderen Ende des Raumes. Es sah aus wie ein bloßer Bildschirm. War das ein Dokument? Ein anderer holte ein fremdartiges Gerät und ging zum Fenster. Irgendetwas musste er aktiviert haben, denn einer der Kräne bewegte sich plötzlich. Nach knapp einer Minute sah Nina auch, was die Snailers vorhatten. Mit dem Kran hoben sie die Kiste an, in der sich der Reaktionskomponent des Zuckers befand. Die Kiste war noch ganz, aber wer wusste schon, was da nun drinnen war. Hoffentlich hatte der Doktor sich nicht geirrt. Ungefähr sechseinhalb Fuß unter der Kiste war etwas befestigt worden, das aussah wie ein Sack, dessen Material nicht menschlich wirkte. Der Sack war noch oben hin geöffnet und Nina konnte etwas Weißes erkennen. Da war der Zucker drinnen. Mindestens 150 Pfund. Oh je, das sah gar nicht gut aus. Wenn alles so klappte, wie es sollte, dürfte diese Konstellation ja keine Probleme machen... Dennoch wurde Nina nervös. Der Kran bewegte sich weiter und drehte sich vom Gebäude weg. Vermutlich wollten sie, dass die Explosion so effizient wie möglich war, das hieß, dass die ‚Bombe' möglichst dort hochgehen sollte, wo viel Platz war. Und über der Themse war also der ideale Ort für diese Aktion. Nina musste schlucken, als ihr das klar wurde.
Saugen und Schlurfen erfüllten den Raum, während die Snailers miteinander redeten und umherkrochen, um allerlei Dinge zu erledigen.
Nina schaute von einem Alien zum nächsten. Sie hatte keine Ahnung, was sie da besprachen. Panik überkam sie. Sie könnten gerade über ihre Exekution reden, ohne dass sie es bemerkte. Was hatte sie sich bitte bei dieser Aktion gedacht?!
Aber hey... Sie hatte Aliens kennengelernt. Wenn sie jetzt sterben sollte, dann am spannendsten Tag in ihrem sonst so grauem Leben.
„Aber aber...", wurden die Snailers auf einmal von einer Stimme unterbrochen. „So könnt ihr doch nicht über jemanden reden, den ihr gar nicht kennt." Nina drehte sich um und auch die schneckenartigen Aliens blickten zum einzigen Zugang im Raum. „Sie ist viel intelligenter als ihr denkt!"
Da stand der Doktor in seinem braunen Anzug und den weißen Converse und hatte seine Hände in die Hosentaschen gesteckt. Auf seinen Lippen lag ein lässiges Lächeln und eine Augenbraue war ganz leicht hochgezogen. Seinen Mantel hatte er sonst wo gelassen. Nina glaubte nicht, dass sie jemals schon so erleichtert gewesen war wie jetzt in diesem Moment.
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