Süße Versuchung: Teil III
Nina stand da und blickte ihm mit offenen Mund hinterher. Dann lachte sie leise auf. Für sie war heute ein ganz wunderbarer Tag.
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Das Café war leergeräumt worden. Die Gläser waren kaputt und einige Tische und Stühle zerbrochen oder lagen kreuz und quer. Die Polizei hatte hier zwar nichts gesperrt, dennoch kam niemand her. Wer sollte denn auch? Zwei Angestellte kehrten den Boden, einer räumte hinter der Theke auf. Vorsichtig betrat Nina das Café. Ein Mitarbeiter blickte auf und meinte dann zu ihr: „Entschuldigen Sie, Miss, aber wir haben... ähm... geschlossen... wie Sie vielleicht bemerken." Dadurch, dass der Blonde geredet hatte, schauten auch die anderen auf.
„Ja, das weiß ich", meinte sie. „Ich hab nur eine Frage."
Der, der gesprochen hatte, zuckte daraufhin nur mit den Schultern und kehrte weiter. „Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen", meinte der Mann hinter der Theke. Nina kam auf ihn zu, was allerdings länger dauerte als gewöhnlich, da sie sich durch einige Holztrümmer balancieren musste. Der Mann war schon älter, hatte angegraute Haare und einige Falten, und wirkte eigentlich ganz nett. Als sie aber näher kam, merkte sie, dass er ziemlich erschöpft war und fertig schien.
„Tut mir leid, was mit dem Café passiert ist", meinte sie ehrlich zu ihm.
„Ach, das ist halb so wild. Die Versicherung zahlt das, wir haben das schon mit der Polizei geklärt." Er lächelte, aber seine Augen leuchteten nicht. „Sie waren doch vorhin Gast, geht es Ihnen und Ihrem Freund gut?"
„Ja, es ist alles in Ordnung, danke."
„Also, sie hatten eine Frage?" Er war wirklich höflich. Nina tat es umso mehr leid, dass sein Café zerstört worden war.
„Äh, ja. Das mag jetzt komisch klingen, aber ist Ihnen in letzter Zeit Zucker abhandengekommen?" Sie fühlte sich etwas unwohl bei der Frage. Wer wollte bitte sowas wissen? Na ja... Der Doktor, nicht?
„Ja, das ist es", erwiderte der Ladenbesitzer erstaunt. „Vor einer Stunde hat Zach bemerkt, dass uns zwei Pfund Zucker fehlen. Das ist jetzt nicht so tragisch, aber zwei Pfund sind zwei Pfund."
Sie machte große Augen. „Ach, tatsächlich? Und sind keine Spuren da gewesen?" Auf einmal wurde sie richtig aufgeregt.
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Das hat uns auch ziemlich aufgeregt, aber das ist jetzt wohl unser kleinstes Problem."
„Ja...", murmelte Nina abwesend. Ihr Blick und ihre Gedanken schweiften ab. „Okay, ich danke Ihnen!" Sie begab sich auf den Weg zurück zur Tür. „Und viel Glück beim Wiederaufbau!"
„Keine Ursache", rief der Besitzer hinterher. Ihm war immer noch nicht ganz klar, warum sie das bitte gefragt hatte.
Nina hatte keine Lust zu rennen, wollte aber trotzdem so schnell wie möglich wieder zum Doktor kommen, deswegen joggte sie. Sie wollte ihm die Nachricht übermitteln. Sie wollte wissen, was er herausgefunden hatte. Sie wollte weiter mit ihm dieses Abenteuer erleben.
Beim Supermarkt angekommen blieb sie schlitternd vor den Schiebetüren stehen. Es hatte länger gedauert als gedacht. In der Straße, in der es die Explosion gegeben hatte, war so gut wie tote Hose, doch in den anderen ging das Leben ganz normal weiter, sodass Nina sich teilweise echt hatte durchkämpfen müssen. Die letzten Yards war sie dann doch gerannt, ohne dass sie es bemerkt hatte.
Das erste, was sie sah, war ein großer, schlaksiger Mann in braunem Mantel, den er sich auf dem Weg hierher wieder angezogen haben musste. „Sie hatten Recht!", keuchte sie. „Im Café ist Zucker geklaut worden. Zwei Pfund." Sie stützte ihre Hände auf die Knie ab, um etwas leichter zu Atem zu kommen.
Der Doktor drehte sich zu ihr um. „Nina! Wirklich? Das sind gute Nachrichten, sehr gute Nachrichten!"
„Wieso?"
„Das bestätigt meine Idee." Er grinste erfreut. Dann griff er in sein Jackett und zog seinen Schallschraubenzieher hervor. „Schauen Sie mal, jetzt ist er sauber." Er drückte den Knopf. Die Lampe leuchtete strahlend blau und das Geräusch war viel klarer zu hören als zuvor.
„Nina?" Die Angesprochene merkte erst jetzt, dass der Doktor bei den Kassen stand und offensichtlich mit der dort sitzenden Kassiererin geredet hatte.
„Ach ja", fiel dem Doktor wieder ein. „Nina, das ist Milly. Das steht zumindest auf dem Namensschildchen. Sie wollte mir gerade von den Zuckerproblemen hier erzählen."
Sie beachtete ihn nicht, sondern schaute an ihm vorbei zur Kassiererin. Die junge Frau war etwas beleibter, hatte blond gefärbte Haare, die zu einem buschigen Zopf zusammengebunden waren und trug pinken Lippenstift. Und sie kannte Nina. Und Nina kannte sie. „Milly!", meinte sie erstaunt und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.
„Ihr kennt euch?", wollte der Doktor mit einer hochgezogenen Augenbraue wissen, während er zwischen den beiden hin und herschaute.
„Ja, wir waren früher zusammen in einer Klasse", erklärte Nina.
„Ach, Süße, wir haben uns ja so lange nicht mehr gesehen! Wie geht's dir?", fragte sie mit ihrer hohen, affektierten Stimme. „Was machst du jetzt so?"
„Ich arbeite bei..."
Milly ließ sie gar nicht ausreden. „Mir jedenfalls stinkt der Job hier bis zum Himmel! Und weißt du was, der Chef hat gemeint, dass wenn ich weiterhin mangelnde Motivation zeige, lässt er mich feuern. Ich und mangelnde Motivation?"
„Kann ich mir gar nicht vorstellen", murmelte Nina sarkastisch.
„Ach, falls du's noch nicht wusstest: Sieh mal!" Milly hielt ihre Hand hoch. Von ihren dicken Fingern mit viel zu langen und bunten Fingernägeln glitzerte an einem etwas leicht. Ein Ring. „Jeff und ich sind verlobt!", quiekte sie vergnügt.
„Wow", entfuhr es Nina und versuchte nicht mal erfreut zu klingen. „Glückwunsch." Ihr war das gerade relativ egal.
„Ja! Wir waren damals erst zehn Monate zusammen und dann hat er mich einfach gefragt!" Sie war ganz aufgeregt. „Und, hast du zurzeit einen Freund?", machte sie weiter.
„Nein", antwortete Nina knapp.
„Ja, Entschuldigung", fuhr der Doktor dazwischen. Nina war ihm dafür so dankbar. Erleichtert atmete sie auf. „Aber noch mal wegen den Aufruhren in der Filiale", half der Mann Milly auf die Sprünge.
„Warten Sie. Sehen Sie nicht, dass ich mich gerade unterhalte?" Genervt verdrehte sie die Augen.
Der Doktor war baff.
„Unhöfliche Menschen gibt's... Also, wo war ich?", wandte sich Milly zurück an ihre ehemalige Schulkollegin.
„Ähm, Milly", unterbrach Nina sie. „Kannst du ihm seine Frage beantworten? Es ist wichtig."
„Du gehörst zu ihm?", wollte sie erstaunt wissen und zeigte ungeniert mit nacktem Finger auf den Doktor, den sie dann noch musterte, ohne auf eine Antwort zu warten. „Gut sieht er aus, das stimmt schon, aber kannst du dir nicht jemanden mit besserem Modegeschmack angeln?" Sie tat so, als wäre der Braunhaarige gar nicht da.
Er aber war empört. „Was stimmt mit meinen Klamotten nicht?!"
„Da fragen Sie noch? Converse zu 'nem Anzug? Nee, Süßer, das geht gar nicht." Mit hochgezogenen Augenbrauen wackelte sie mit ihrem Zeigefinger.
Sauer öffnete er den Mund, um zu widersprechen, doch Nina ließ ihn nicht. „Milly, bitte! Es ist wirklich, wirklich wichtig! Fehlt bei euch nun Zucker oder nicht?"
Die Kassiererin blinzelte verwundert. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie antwortete: „Ja. Vor gut zwanzig Minuten ist der Chef tobend umhergestürmt und wollte wissen, wer die letzte Ladung Zucker mitgehen lassen hat. Verdächtigt der doch tatsächlich mich, weil ich ein paar Pfund mehr auf den Hüften hab." Schmollend schob sie die Unterlippe nach vorne.
„Wie viel Zucker beinhaltet so eine Ladung?", fragte der Doktor nach.
„So um die 250 Pfund." Milly zuckte mit den Schultern. „Weiß es aber auch nicht so genau."
„250...?" Nina klappte der Mund auf. „Wie viel waren es im Café, haben Sie gesagt?", fragte der Größere nochmal nach. „Zwei", antwortete sie entsetzt. „Was wollen die mit so viel Zucker?"
„Na ja..." Der Doktor hatte seine Augenbrauen wieder leicht zusammengezogen. „Hoffen wir mal nicht das, was ich denke."
„Und was denken Sie?" Ein Hauch Angst war in ihrer Stimme zu hören. Der Doktor antwortete nicht, er richtete seinen Blick nur direkt in ihre Augen. Beruhigend war es nicht.
Milly hatte zwischen den beiden hin und her geschaut. „Ich hab zwar keine Ahnung, wovon Sie da sprechen", meinte sie zum Braunhaarigen, „aber falls Sie sich überlegen was Festes mit ihr zu haben, wünsche ich viel Glück." Die beiden wollten schon widersprechen, obwohl Nina zugeben musste, dass sie erstaunt war, dass Milly tatsächlich an jemand anderen zu denken schien. Doch die Blonde war noch nicht fertig: „Sie fantasiert sehr viel, müssen Sie wissen. Ist vielleicht gar nicht so schlecht, wenn sie jemanden hat, der die Geduld hat sie wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen." Sie nickte, um ihre Worte zu unterstreichen. Dann beugte sie sich vor und flüsterte so laut, dass es jeder im Umkreis von zwei Yards hören konnte: „Ich glaube sie ist ein bisschen..." Statt den Satz zu beenden, ließ sie den Finger neben ihrer Schläfe kreisen.
„Ich stehe direkt neben dir!", erinnerte Nina die Kassiererin entgeistert.
„Ja, aber es stimmt doch, das weißt du schließlich", war die stumpfe Begründung, während Milly sich wieder zurücklehnte.
Der Doktor aber lächelte die Sitzende an: „Oh, ich bin wahrscheinlich der letzte, der irgendjemanden auf den Boden der Tatsachen zurückführt. Nein, im Gegenteil. Jeder, mit dem ich schon einmal zu tun hatte, kann bezeugen, dass ich ihnen die Sterne gezeigt und sie bis an den Rand des Universums geführt habe." Er hatte langsamer gesprochen als sonst. Milly hing an seinen Lippen. Nachdrücklich setzte er noch hinterher: „So manch einer hat dabei beinahe den Verstand verloren." Er zog seine Augenbrauen hoch und grinste lässig... irgendwie verführerisch.
Nina musste sich ein Lachen unterdrücken. Milly sah so unglaublich dämlich aus, als wäre sie hypnotisiert. Sie hatte sogar nicht bemerkt, dass der Doktor hinter seinem Rücken mit dem Schallschraubenzieher auf Millys Tasche, die neben ihrem Stuhl lag, gezielt und diese bestrahlt hatte.
„Klingelt da nicht Ihr Handy?" Die Frage des Doktors richtete sich an Milly. „Na ja, wir müssen jedenfalls wieder."
Er berührte Nina an der Schulter und führte sie hinaus. „Ciao, Milly", verabschiedete die junge Frau sich noch halbherzig. Es kam keine Antwort zurück. Die beiden waren schon fast draußen, als sie plötzlich das Geräusch von reißendem Stoff hörten, gefolgt von einem lauten Fluchen. Nina wandte sich ein letztes Mal um und musste sich etwas verrenken, um über den Arm des Doktors schauen zu können, dessen Hand immer noch sanft auf ihrer Schulter ruhte. Sie musste lachen und versuchte es leise zu halten, aber ganz unterdrücken konnte sie es nicht mehr. Millys gesamter Tascheninhalt kullerte zu Boden und verteilte sich dort. Einige Einkäufer, die an anderen Kassen bezahlt hatten, da sie gesehen hatten, dass die Blonde mit jemanden geredet hatte, wichen verärgert aus. In der Tasche war ein fetter Riss zu erkennen. „Milly!", donnerte jemand und ein Mann mit einem riesigen Schnauzer kam angestapft. „Das war jetzt das letzte Mal!"
„Aber die Tasche war nagelneu! Ich weiß nicht, warum die einfach gerissen ist."
Nina schaute zum Doktor, der seinen Blick auf den Weg vor sich gerichtet hatte, aber ein Lachen nur schwer zurückhalten konnte. Sobald die beiden draußen und um die Ecke waren, nahm er den Arm von ihrer Schulter und beide lachten los.
„Ihr Gesicht am Ende...!"
„Und als dann noch der Chef gekommen ist...!"
„Ich glaube, die arbeitet da nicht mehr lange!"
Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, bedankte sich Nina bei ihm.
„Ach, das war doch nichts", grinste er, dann aber verzog er das Gesicht. „Nur werde ich sowas nie wieder sagen! Ein Freund von mir hat wohl abgefärbt, der bringt normalerweise solche Sprüche. Ich hab das gar nicht nötig."
„Ach, nicht?" Jetzt war es mal Nina, die eine Augenbraue hochzog.
„Was glauben Sie denn?", war seine Reaktion. „Ich hab ein Raumschiff. Eine Reise und... schon..." Er stoppte und schaute seine Gesprächspartnerin nach Worte suchend an.
„Ja?", provozierte sie ihn grinsend.
„Na ja, Sie wissen schon. Kommen Sie, wir müssen uns beeilen!" Er rannte zur Straße, hob einen Arm hoch und ließ ein Taxi rufen.
Auf einmal wurde Nina klar, dass er vielleicht tatsächlich ein Frauenheld war. Das, was sie bis jetzt von ihm mitbekommen hatte, passte irgendwie nicht zu diesem Bild, aber wenn sie mal so darüber nachdachte... wusste sie rein gar nichts über ihn. Er war kein Mensch (das meinte er zumindest), er besaß ein Raumschiff (das meinte er zumindest) und er half, wo er nur konnte (das meinte er zumindest). Nina war erstaunt, als sie feststellte, dass sie nur sicher wusste, dass seine zwei komischen Gerätschaften – der Schraubenzieher und das Papier – zu funktionieren schienen... aber wer war sich da schon sicher, ob da nicht auch ein Trick dahinter steckte. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Ihre Eltern hatten ihr früher immer eingebläut, dass sie nicht mit fremden Menschen mitgehen oder irgendetwas von ihnen annehmen sollte. Sie war kein unvernünftiger Mensch (meistens zumindest). Warum zur Hölle rannte sie dann mit diesem Wildfremden durch die Stadt, glaubte ihm alles, was er sagte, und tat das, worum er sie bat. Es war wieder diese Hoffnung, dass es noch so viel mehr auf dieser Welt gab, als alle zu glauben schienen. Vielleicht war das seine Taktik wie bei so vielen anderen auch: Junge, naive Frauen finden, die einem alles glaubten, wenn man etwas lächelte und aus sich selbst ein Mysterium machte, und dann mit ihnen anstellen, was man wollte. Wieso machte sie das?!
„Nina?", rief der Doktor vom Taxi aus zu. „Wo bleiben Sie denn? Keine Wurzeln schlagen, hier könnte es um Leben und Tod gehen!"
Nina, die einundzwanzigjährige Büroangestellte mit einem Teilzeitjob in einer Ballettschule, die sich einfach mehr vom Leben erhofft hatte, erwachte aus ihrer Trance. Sie guckte ihn an, wie er sie mit seinem auffordernden Blick anschaute, in dem dieser gewisse Glanz lag, und musste glucksen. Dann joggte sie zu ihm.
Sie hatte sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen lassen:
Ich habe das Adrenalin in mir gespürt.
Das hatte er gesagt, als sie wissen wollte, wie es sich angefühlt hatte, dieses riesige Schiff vom Himmel auf die Erde zurasen zu sehen.
Es hat mich so lebendig fühlen lassen.
Denn genau diese Sätze waren er.
Es ist das schönste Gefühl im Universum.
Der Grund, warum sie zu ihm ins Auto stieg.
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