Süße Versuchung: Teil II
Und dann explodierte das mehrstöckige Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
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Nina riss es zur Seite, während Glasscherben und Trümmer des anderen Gebäudes auf sie niederprasselten. In ihrem Ohr schrillte ein hohes Pfeifen. Nur verschwommen nahm sie etwas wahr. Jemand rüttelte an ihr. Der hohe Ton wollte nicht verschwinden. Das Bild klärte sich. Es war der Mann.
Der Doktor.
„Können Sie mich hören?", hörte sie seine Stimme nur sehr gedämpft, aber energisch. „Hey, Sie! Kommen Sie zu sich!"
Benommen blinzelte die junge Frau. Das Pfeifen klang ab. Mit der Hilfe des Doktors setzte sie sich auf. Sachte schüttelte sie den Kopf, was sie sofort bereute. „Wooh!", murmelte sie.
„Ganz ruhig", beruhigte der Braunhaarige sie. „Können Sie aufstehen?" Er hielt ihr eine Hand hin und zog sie auf ihre noch wackligen Beine.
Um sie herum waren alle Menschen in Panik verfallen. Die ganze Straße rannte oder kreischte.
„Was... Was war das?" Sie musste husten, da Staub in der Luft herumflog.
Zu ihrem Erstaunen lächelte der Doktor. „Das Zeichen für mich. Das Warten hat ein Ende!"
Nina machte große Augen. „Diese Art von Verletzen, also? Wer sind Sie?", hauchte die Frau.
„Der Doktor, wie schon gesagt. Ich helfe, wo ich nur kann."
Sie blickte ihn immer noch verdattert an. In ihr tobten die verschiedensten Gefühle. Misstrauen, Angst, Vorsicht, Skepsis, aber auch Neugier, Verwunderung, Wissensbegierde... und vor allem Abenteuerlust. Dieser Mann brachte Abenteuer mit sich, das spürte sie.
Tief atmete er durch seine Nase ein. „Wehe, es ist jemand verletzt, dann werde ich richtig sauer." Trotz seiner Worte, die leiser gesprochen und an niemanden bestimmten gerichtet waren, grinste er. „Doch das waren keine normalen Bombenleger."
„Nicht?", wiederholte sie verdutzt. „Wieso nicht?"
„Riechen Sie das nicht?" Wieder schnüffelte er in der Luft.
In der Straße herrschte immer noch Panik.
Nina schnupperte. „Karamell?", bemerkte sie verwundert.
Ein Nicken bestätigte ihre Vermutung. „Genau, Karamell! Das grenzt unsere Täter schon mal auf 67 Sonnensysteme ein. Theoretisch. Allerdings weiß ich, um wen es sich handelt. Hab sie schließlich quer durch das Universum verfolgt." Er wirkte anders, lebensfreudiger. Richtig aufgeweckt.
„Wie?!" Der letzte Teil brachte sie jetzt komplett aus dem Konzept.
„Wie hießen Sie gleich?", fragte er sie plötzlich aus dem Blauen heraus.
„Nina...", erwiderte diese. „Nina Featherstone."
„... Featherstone", murmelte er zeitgleich mit ihr.
Jetzt schaute sie erstaunt. „Woher kennen Sie meinen Namen?"
Er musterte sie eingehend. „Nina Featherstone... Jetzt, wo Sie's sagen... Sie kommen mir irgendwie bekannt vor... Kennen wir uns?"
„Nicht, dass ich wüsste", antwortete sie vorsichtig.
Er dachte weiter nach, schien aber schon eine Theorie zu haben. Plötzlich grinste er. „Nun, Miss Featherstone", rief er mit feierlicher Stimme. „Wollen Sie mir helfen?"
Misstrauen, Skepsis, Gefahr...
Ein Abenteuer.
Sie nickte grinsend.
So tat es auch der Doktor und auf einmal meinte sie ein leichtes Schimmern in seinen Seelenspiegeln zu erkennen. „Allons-y!"
Zu zweit rannten sie los.
Sie hatten nur die Straße überqueren müssen, um zu den Überresten des Gebäudes zu gelangen. Während immer noch Panik herrschte, stellte Nina fest, dass die Explosion gar nicht so groß gewesen war, wie zuerst angenommen. Wirklich beschädigt waren nur das Gebäude, von dem die Explosion ausgegangen war, und das Café, das aber auch nur an den Glasscheiben. Dennoch herrschte Chaos. Der Doktor trat zwischen den blank dastehenden Rahmen, der mal eine Tür beinhaltet hatte. Die Mauer links, rechts und drüber war zum größten Teil weggerissen. Dahinter lagen viele Trümmerhaufen. Es handelte sich um ein mehrstöckiges Gebäude, das nur noch ein Erdgeschoss hatte; der Rest war zu Boden gekracht, nur die äußere Fassade ließ andeuten, wie hoch dieses Haus mal gewesen war.
„He!", raunte Nina aufgebracht und blickte sich verstohlen um. „Wir dürfen da bestimmt nicht rein! Die Polizei ist schon da." Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, wies sie auf das Ende der Straße, wo das Blaulicht schon zu sehen war.
Er würdigte den Wagen nur einen kurzen Blick und winkte dann ab: „Ach, bevor die kommen, sind wir lange fertig." Er verschwand zwischen den Trümmern.
Sie schaute sich noch einmal um und folgte ihm schließlich trotz Zögern. „Was ist, wenn die uns erwischen?", brachte sie ihre noch nicht ganz verflogenen Zweifel zum Ausdruck.
„Im Notfall hab ich noch das hier", erwiderte der Größere beiläufig, griff in sein Jackettinneres und zeigte Nina, die schräg hinter ihm lief, etwas. Es war ein dünnes, dunkles Ledercase, welches aufgeklappt war. Darin war ein Ausweis zu sehen. „Scotland Yard Chief Inspector Smith", las sie vor und runzelte anschließend die Stirn, dann musste sie vom Ausweis aufblicken, da die beiden über ein paar Steine klettern mussten. „Ich dachte, Sie sind Doktor." Sie überwand die letzten eineinhalb Fuß zum Boden durch einen Sprung und landete sicher auf den Füßen, während er schon wieder zwei Yards vorangeschritten war.
„Bin ich auch", antwortete er knapp mit Händen in den Hosentaschen.
Sie beschleunigte, um wieder auf gleicher Höhe mit ihm zu sein. „Und was ist das dann für ein Ausweis?"
„Gedanken manipulierendes Papier", war seine Erklärung. In seiner Stimme lag etwas wie Prahlerei. „Schauen Sie nochmal drauf." Sie tat es und erblickte nur noch ein blankes Stück weißes Papier. Er deutete ihr verdutztes Schweigen richtig und fügte noch hinzu: „Es zeigt genau das den Leuten, was ich will, das ihnen gezeigt wird."
„Krass", hauchte sie und starrte weiter auf dieses banal scheinende Weiß in ihren Händen. „Also ist Ihr Name gar nicht Smith?", hakte sie mit lauterer Stimme nach und reichte ihm das beeindruckende Papier zurück, was er sogleich wieder in seinem Jackett verstaute. „Nein. Bloß der Doktor, sagte ich doch", erwiderte er und machte eine Kurve.
„Aber Sie müssen doch einen Namen haben", beharrte sie weiter.
„Mein Name ist der Doktor. Mehr ist da nicht."
Das Thema war fürs Erste beendet, Nina antwortete nicht mehr. Sie war zu beschäftigt, die Szene mit weiteren Trümmern vor ihnen zu betrachten. Die beiden befanden sich nun in etwas, was vermutlich mal ein großer Raum gewesen war. Ein paar Überreste von Säulen standen noch da. In der Mitte des Raumes war ein großer, schwarzer Rußfleck am Boden, in dessen Mitte eine Apparatur lag. Das war aber nicht das Bemerkenswerteste. Da war noch etwas anderes, was durch den ganzen Raum gespritzt worden war. „Das ist Karamell!", stellte Nina verdutzt fest.
„Jap!", bestätigte der Doktor. Beide wandten ihren Blick nicht ab. Er ging ein wenig in die Knie, auf der einen Seite mehr, und neigte dann noch seinen Oberkörper in ihre Richtung, sodass er mehr auf einer Augenhöhe mit ihr war, obwohl sein Blick immer noch auf dem Raum mit dem Karamell ruhte: „Sie wissen nicht zufälligerweise, was das mal für ein Gebäude gewesen ist?"
„Doch", erwiderte sie. „Hier war mal ein Modegeschäft, aber das ist pleite gegangen. Das stand seit 'nem Monat leer."
„Leer?", wiederholte der Doktor.
„Ja."
„Oh!" Er richtete sich wieder auf und legte seinen Kopf in den Nacken. Fast wie in Trance schritt er weiter in den Raum hinein und betrachtete den Himmel. Eigentlich hätte es eine Decke gegeben, aber die war ja weggesprengt worden. Nina beobachtete ihn neugierig. „Vorhin sagten Sie etwas davon, dass man den Täter auf 67 Sonnensysteme einschränken könnte... Sie das aber nicht müssten, weil Sie sie quer durchs Universum verfolgt haben... Haben Sie das ernst gemeint?"
Plötzlich drehte er sich an Ort und Stelle blitzschnell zu ihr um. „Natürlich!" Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Dabei ging er in die Hocke, sammelte etwas Karamell vom Fleck neben ihm auf und leckte vorsichtig mit seiner Zunge an der Probe, die an der Fingerspitze klebte. Dann wischte er sich die Hand am Mantel ab. Er zog wieder etwas aus seinem Jackett hervor. Es war länger, schmal und schien aus Metall zu sein.
„Aber... Wie ist das möglich?", bohrte sie nach, als er nicht weiter darauf einging. Vielleicht sprach er in Rätseln, vielleicht war es irgendein Sprichwort, was sie nicht kannte.
Es kam keine Antwort zurück. Stattdessen hielt er das stabähnliche Ding auf den Karamellfleck, von dem er gerade gekostet hatte, und drückte einen Knopf oder sowas, denn die Spitze fing auf einmal an blau zu leuchten und ein Geräusch ertönte, das Nina an einen Metalldetektor erinnerte. Allerdings flackerte das Licht und der Ton wurde immer mal wieder unterbrochen. Mit unzufriedenem Gesichtsausdruck schüttelte er den metallenen Leuchtstab etwas. „Mist! Immer noch nicht richtig sauber. Verfluchtes, klebriges Zeug!", murmelte er zu sich selber. Nach dem Schütteln bestrahlte er das Karamell wieder, dieses Mal hielten Licht und Ton länger an.
„Was ist das?", fragte Nina neugierig und kam näher, sodass sie von oben an seiner Schulter vorbei das Geschehen betrachten konnte. Der Stab sah von näherer Betrachtung mit den mehreren Aushebung und Einkerbungen unheimlich kompliziert und filigran aus.
„Ein Schallschraubenzieher", war die knappe Erklärung, da die Konzentration voll und ganz dem Karamell galt.
„Und was kann der so?"
„Was Schraubenzieher eben so können. Nur mit Schall." Mit diesen Worten packte er den Stab wieder weg. „Das ist tatsächlich stinknormales Karamell."
Nina runzelte die Stirn. „Das können normale Schraubenzieher aber nicht herausfinden."
„Dann kann er halt noch ein bisschen mehr." Der Mann richtete sich wieder auf und grinste zu ihr runter. „Ungewöhnlicher Doktor, ungewöhnlicher Schraubenzieher!"
„So jemand wie Ihnen ist mir noch nie begegnet", gestand Nina Featherstone ehrlich, während sie seine braunen, fröhlichen Augen betrachtete.
„Das würde mich auch wundern, ich bin schließlich was Besonderes", erwiderte er ungeniert und immer noch gut gelaunt. Nina war von seiner Persönlichkeit echt baff, aber nicht im negativen Sinne.
Der Doktor drehte sich auf dem Absatz um und marschierte auf den Fleck mit der komischen Apparatur zu. Wieder ging er in die Hocke. Dieses Mal machte Nina es ihm nach. Sie betrachtete das rußgeschwärzte Gerät; es war vielleicht so groß wie ihre Handtasche... die sie im Café gelassen hatte, wie ihr gerade einfiel, aber das konnte bis später warten. An der Apparatur klebte auch Karamell. Viele Verschachtelungen und Drähte waren zu erkennen. Erst jetzt sah sie, dass sie so etwas wie einen leeren Glaszylinder enthielt und zwei Lichter abwechselnd blinkten, eines war weiß, das andere gelb.
Nina bekam bei dem Anblick des Geräts ein mulmiges Gefühl. Sie beschlich ein unguter Gedanke. „Das sieht... nicht menschlich aus", versuchte sie es vorsichtig. Es war die letzten Jahre immer mal wieder passiert. Nachrichten, Erzählungen... Jedes Mal glaubte Nina, dass es die Wahrheit gewesen war, was sie da gesehen oder gehört hatte... Und doch schien sie jetzt mit dem Gedanken, dass es wirklich möglich war, überfordert zu sein. „Kann es sein, dass das... Aliens waren?" Automatisch bereitete sie sich innerlich darauf vor. Sie rechnete nicht mal mit einem Lachen, nur mit einer beiläufigen, abwinkenden Bemerkung. Damals, irgendwann 2005, als der Big Ben von einem Raumschiff beschädigt worden war... Zu der Zeit hatten viele gedacht, dass es sich dabei tatsächlich um etwas Außerirdisches handelte, Nina war da keine Ausnahme gewesen. Dann kam das Chaos mit dem neuen Premierminister, der angeblich ein Alien gewesen war. So viele hatten es geglaubt. Nina hatte es geglaubt. Doch nach der Zeit hatte es sich gelegt: Ein Streich oder so etwas soll es gewesen sein. Ninas Glauben war zusammengeschrumpft. Sie hatte daraus gelernt, dass Menschen dazu tendierten, nicht Bewiesenes nicht zu akzeptieren, obwohl sich in den letzten Jahren immer mal wieder außerirdisches Leben gezeigt hatte.
Der Doktor aber war nicht wie die meisten Menschen. Er fragte nur: „Kommt drauf an... Glauben Sie denn an Aliens?"
Da stockte sie. Das war eine wirklich seltsame Reaktion. Er schaute sie nicht mal an, sondern bestrahlte die Apparatur mit seinem komischen Stab, den er wieder hervorgeholt hatte. Wieder musste er etwas schütteln. Das Ding schien eine Art Wackelkontakt zu haben.
Nina aber schaute den eigentlich komplett fremden Mann an. Verdutzt. Er hatte gesagt, er wüsste, wer das gebaut hatte. Er hatte gesagt, er hätte sie quer durchs Universum verfolgt. Er hatte gesagt, es wären keine normalen Bombenleger gewesen. „Ja", antwortete sie. „Ich hab den Himmel schon immer viel zu groß für nur uns Menschen gefunden." Sie hatte nicht geglaubt, dass es Aliens gewesen waren, die in den Big Ben gekracht waren... Sie hatte es gehofft. So sehr hatte sie gehofft, dass ihre langweilige Welt nicht alles war, was es gab.
„Kluges Mädchen", lobte er und rutschte etwas zur Seite, um von einem anderen Winkel auf das Gerät zu zielen.
„Allein die letzten Weihnachten war hier in London immer das totale Chaos los", setzte sie unaufgefordert fort. „Das riesige Raumschiff am Himmel, woraufhin sich fast alle beinahe umgebracht hätten, damals 2005."
„Na ja, nur ein Drittel", warf der Doktor unauffällig ein, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
Nina hörte das nicht und fuhr fort: „Dann dieses netzartige Ding im Jahr darauf... Und letztes Weihnachten soll angeblich ein Schiff fast auf London geknallt sein, da war ich aber nicht da. Haben Sie das mitbekommen?"
„Ja... Kann man so sagen", antwortete er. Vorsichtig hob er nun die Apparatur an und drehte sie um. Er betrachtete die Unterseite.
„Wie war das so?", fragte sie aufgeregt weiter. „Die anderen haben immer das gleiche gesagt: Es ist ein Schiff vom Himmel gekommen, es soll riesig gewesen sein. Für einen Moment hatte London gedacht, dass es vorbei wäre, doch im letzten Moment ist es hochgerissen worden."
Jetzt schaute er mal wieder zu ihr auf. Er hatte eine Brille auf der Nase sitzen. Nina hatte gar nicht mitbekommen, dass er sie sich aufgesetzt hatte. „Wenn Sie das alles schon gehört haben, wieso fragen Sie mich dann noch?"
Da zuckte sie mit den Schultern. „Sie haben mir nie wirklich gesagt, was ich hören wollte."
„Und das wäre?"
„Wie es sich angefühlt hat", meinte sie. „Was für Emotionen und Gedanken sie durchlebt haben. Nur sowas lässt einen irgendwie dabei gewesen sein."
Nina musternd setzte er die Brille wieder ab, verstaute sie und ließ das Gerät vorerst komplett sein. „Es war... nervenauftreibend. Ich hatte Angst, oh ja, große Angst, dass ich sterbe, dass andere sterben. In diesem Moment ging es um Alles: Tod oder Leben, kein Dazwischen... Ich habe das Adrenalin in mir gespürt. Es hat mich so lebendig fühlen lassen." Er richtete seinen Blick direkt in die Augen seiner Gegenüber. Er sah das Strahlen in ihren Seelenspiegeln. „Es ist das schönste Gefühl im Universum." Unbewusst breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus, als er an dieses Abenteuer zurückdachte. „Ja, Nina Featherstone, wir haben es hier mit Aliens zu tun."
Sie musste bei dem eben Gehörten und seiner anschließenden Reaktion auch lächeln. Eine leichte Gänsehaut bereitete sich auf ihrer Haut aus, aber sie mochte das Gefühl. Sie kannte den Doktor seit insgesamt vielleicht knapp einer Stunde und trotzdem hatte sie noch nie eine spannendere Person getroffen. „Also, was ist das für 'n Teil?", fragte sie schließlich und deutete auf das Gerät. „Es kommt von Aliens, sagen Sie? Was macht das?"
„Explosionen", war seine Antwort. Er stand auf und klopfte sich den Dreck von der Hose. Auch Nina stellte sich wieder auf ihre Beine, doch Ruß war jetzt das letzte, was sie beschäftigte: „Und das Karamell?"
„Wissen Sie, wie Karamell entsteht?", war seine Gegenfrage.
„Zucker wird erhitzt."
„Genau."
„Und wieso machen die Karamell und lassen danach Sachen explodieren?"
„Tja, das..." Er kratzte sich an seinem Nacken. „... weiß ich auch noch nicht. Allerdings sollten wir uns vor Zucker hüten."
„Wieso?"
„Na ja, als ich die gefunden hab, wollten sie einen zuckerähnlichen Stoff von den Teksita stehlen. Der aber ist lebenswichtig für diese kleinen Falter, deswegen habe ich sie davon abgehalten. Jetzt, hier auf der Erde, lassen sie ein Gebäude explodieren und überall ist Karamell. Warum? Die Antwort ist Zucker! Sie wollen aus irgendeinem Grund Zucker", erklärte er schnell.
„Was sind Teksita?", fragte Nina nur.
„Leben auf einem Planeten des Stex-Systems. Sehen ein bisschen aus wie Schmetterlinge, nur größer und schlauer, und sie können ihre Farbe ändern. Ist aber unwichtig, wir müssen den Menschen sagen, dass sie sich heute keinen Zucker in den Tee schütten sollten, andererseits könnte es sein, dass sie platzen."
„Kann das passieren?!"
„Solange ich nicht weiß, was sie vorhaben und wie genau sie das anstellen, sollte alles in Betracht gezogen werden." Mit ernstem Blick schaute er sie an.
Sie legte den Kopf leicht schief. In ihrem Gehirn geisterten nur seine Worte bezüglich seiner Verfolgung. „Sie haben ein Raumschiff." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Er schaute sie an, nickte und meinte: „Jap."
„Sind Sie ein Mensch?" Diese Frage wäre dann schon ihrer Meinung nach zu dreist, als dass sie als Behauptung ausgesprochen werden konnte.
Mit unveränderten Gesichtsausdruck antwortete er: „Nope."
Sie musste zugeben, dass sie stolz auf sich war, als sie als Reaktion auf seine Antwort nichts als pure Aufregung verspürte. Sie hätte ihn gerne mehr gefragt: was er denn dann war, wenn kein Mensch, von welchem Planeten er stammte, warum er wie ein Mensch aussah, ob sie mal sein Raumschiff sehen konnte, und noch mehr. Leider war keine Zeit dazu, denn eine neue Stimme bellte die beiden an: „Was haben Sie hier zu suchen?"
Der Doktor und Nina drehten sich um. Es handelte sich um die Polizei. Die hatte sich nun also auch endlich durch die Trümmerhaufen kämpfen können. Ein sehr zorniger Mann mit runder Brille und Schnurrbart stapfte auf sie zu, im Schlepptau hatte er ein paar seiner Männer, die sogleich den Raum inspizierten. „Sie befinden sich hier an einem Tatort. Kein Zutritt für Zivilisten! Sie werden später verhört." Hochrot war er angelaufen.
„Das denke ich nicht", meinte der Doktor überzeugt. Er hielt sein Gedanken manipulierendes Papier hoch.
Die Fassade des Polizisten fiel augenblicklich. „Oh, bitten Sie vielmals um Verzeihung, Sir! Ich hatte ja keine Ahnung, dass ein Chief Inspector so schnell vor Ort kommen konnte!"
„Ach, ich war gerade zufällig in der Nähe", meinte der Doktor locker, als hätte er solche Lügen schon unzählige Male aufgetischt. Nina musste sich ein Grinsen unterdrücken.
Anscheinend hatte sie das Gesicht trotzdem verzogen, denn nun wurde sie tadelnd ins Visier genommen: „Entschuldigen Sie bitte vielmals, Miss, aber ich muss doch sehr bitten! Hier ist gerade eine Bombe explodiert! Wer sind Sie eigentlich?" Bedauerlicherweise war Nina im Flunkern weniger geübt. „Ich, äh... bin... seine Assistentin?" Hilfesuchend blickte sie zum Doktor, wobei sie das so unauffällig wie möglich machen wollte. Es gelang ihr nicht richtig.
Auch er schaute nicht so überzeugt. Mit hochgezogenen Augenbrauen nickte er langsam. „Äh... Ja, meine Assistentin. Sie ist... noch... neu. Also, noch nicht lange meine Assistentin. Sie... weiß noch nicht... wie das so läuft."
„Ja!", stimmte sie ihm zu. „Bin noch ganz grün hinter den Ohren." Der Doktor unterstrich ihre Worte, indem er ständig nickte und automatisch auf seine Ohren wies. „Entschuldigung, aber ich finde das ganze eher unheimlich spannend, als ein Grund zur Sorge", setzte sie nachdrücklich fort. Der Doktor nickte weiterhin.
Der Polizist schaute die beiden entgeistert an.
„Ach, Sie müssen wissen", erwiderte der Doktor daraufhin, „Sie ist etwas..." Jetzt war er es, der nicht wusste, was er sagen sollte und wechselte immer wieder Blicke mit der jungen Miss Featherstone, um Worte oder Hilfe zu finden. „... etwas..."
„... etwas dumm, ja!", endete Nina, als es der außerirdische Mann nicht tat, mit einem breiten, scheinheiligen Grinsen. Sie spürte einen Blick von der Seite. Kurz schielte sie rüber. Der Doktor warf ihr einen Blick zu, der eindeutig sagte, dass das jetzt einen Tick zu weit gegangen war. Ihr Grinsen verschwand. „Nicht gut?", fragte sie leise nach. Er schüttelte sachte den Kopf. Die Flunkerei hatte so gut angefangen und jetzt war es immer erbärmlicher geworden.
Der Polizist guckte immer noch etwas verstört zwischen den beiden hin und her. Plötzlich grinste er wissend. „Ach so, ich verstehe." Er zwinkerte Nina zu, die jetzt richtig verwirrt war. Dann schaute er den Doktor an. „Na dann! Ich glaube, wir haben hier alles unter Kontrolle. Ihnen, Inspector, und Ihrer Assistentin..." Er betonte dieses Wort besonders und wackelte dabei mit den Augenbrauen. „... wünsche ich noch einen schönen Nachmittag."
Jetzt fiel es den beiden wie Schuppen von den Augen. „Nein!", meinte sie gleichzeitig und vermutlich einen Tick zu schnell.
„Sie ist... wirklich nur meine Assistentin! Kommt nicht von hier und ich wollte ihr die Stadt zeigen. Mehr ist da nicht. Wirklich. Ich kenne sie ja auch noch nicht lange..."
„Wir sind nicht... Also... Der Chief Inspector und ich haben uns nur zufällig getroffen... Wir waren getrennt einkaufen und dann... Na ja, wir haben uns unterhalten, schließlich kennen wir uns schon länger, und dann war da dieses Gebäude..."
Beide stammelten und stotterten ihre Sätze zusammen, redeten durcheinander und merkten erst viel zu spät, dass das nicht ganz aufging, vor allem nicht der Inhalt ihrer Sätze. Gleichzeitig stoppten sie und guckten sich ertappt an. Sie hatten festgestellt, dass sie die Situation um kein Stück verbessert hatten.
„Ja ja, ich verstehe, ich verstehe!", nickte der Polizist. „Und nun, Chief Inspector, schönen Tag noch!"
„Ähm...", meinte der Doktor. „Okay... Wenn Sie meinen... Danke. Der Ort... des Geschehens gehört Ihnen." Aus dem Stammeln war er immer noch nicht ganz draußen. „Kommen Sie, wir gehen", fügte er schließlich noch schnell und leiser an Nina gewandt hinzu. Er führte sie zu den Trümmern, die zurück zur Straße führten, und half ihr, hinaufzuklettern. „Ach ja", fiel ihm dann noch ein. Der Polizist mit der Brille drehte sich zu ihm um. „Sagen Sie den Menschen in der Stadt irgendwie, dass Sie heute die Finger von Zucker lassen sollen!", befahl der Größere.
„Zucker? Wieso Zucker?"
„Ich danke Ihnen!" Mehr Antwort kam nicht zurück, denn dann kletterte der Doktor schon Nina hinterher.
Als die beiden sich wieder auf der Straße befanden, sahen sie, dass das zerstörte Gebäude von gelben Absperrband umgeben war. Wagen mit Blaulichter hielten Passanten und andere Autos von diesem Straßenabschnitt fern. Auch Krankenwagen waren da, doch soweit die beiden das beurteilen konnten, war niemand getötet oder schwer verletzt worden.
„Super! Und was machen wir jetzt?", stöhnte Nina auf.
„Was soll die miese Laune?", fragte der Doktor fast schon empört. „Wir haben alles, was wir brauchen!"
Sie war erstaunt. Der Größere hielt den Glaszylinder hoch, der in der Alien-Apparatur gesteckt hatte. Er hatte ihn mitgehen lassen. Grinsend warf er ihn einmal in die Luft, fing ihn dann wieder auf und steckte ihn dann ins Jackett zurück. „Da kleben Spuren von dem Stoff dran, den sie benutzt haben, um die Explosion zu verursachen."
„Und was bringt uns das?"
„Ich kann damit ein Gegenmittel herstellen lassen, das den Stoff unwirksam macht! Dann können sie nichts mehr explodieren lassen!", erklärte er stolz.
„Heißt das, Sie haben einen Helfer? Und sicher, dass da der explosive Stoff drinnen war und nicht nur ein Katalysator oder so? Und was sind das eigentlich für Aliens? Und wissen Sie schon, was die vorhaben, Sie haben vorhin so ‚Oh!' gesagt, als hätten Sie eine richtige Erkenntnis gehabt? Ach, und d-..."
Sie wurde gezwungen aufzuhören, da ihr der Mund zugehalten wurde. „Ganz langsam", meinte der Doktor und schaute sie mit einem belehrenden Blick an, „und schön der Reihe nach. Gott, jetzt weiß ich, wie sich es anfühlen muss, mir zuzuhören!" Ohne eine Pause zu machen redete er schnell weiter: „Nein, kein Helfer, zumindest keinen, so wie Sie es sich vorstellen. Nein, ich bin mir nicht sicher. Sie heißen Oppukattalimmosupporatekorks, was fast so schlimm zu merken ist wie Raxacorricofalapatorius; ich nenne sie der Einfachheit halber Snailers. Keine Ahnung, was sie vorhaben, aber ich mache öfters ‚Oh!'. Ich mache immer ‚Oh!', wenn ich eine brillante Idee bekomme, aber die erzähle ich noch nicht, ich will erst überprüfen, ob sie stimmt, wäre andernfalls irgendwie peinlich mit einer grandiosen Idee zu kommen, die sich dann als falsch herausstellt. Zugegebenermaßen mache ich auch manchmal ‚Oh!', um einfach die Leute zu verwirren, es ist lustig, wie sie dann immer fragen, was denn los ist. Dieses Mal ist es aber nicht so, keine Sorge, ich habe wirklich eine Idee."
Nina blinzelte ihn mit großen Augen an. Er nahm die Hand von ihrem Mund. „Klar soweit?"
„Ich sag jetzt mal ‚Ja', einfach, um Zeit zu sparen", antwortete sie vergleichsweise langsam.
„Fantastisch!", grinste der Doktor zufrieden. „So, und jetzt brauche ich Sie. Sie müssen zum Café gehen und fragen, ob denen vor Kurzem Zucker gestohlen worden ist."
„Warum meinen Sie nochmal, dass diese O...pu...moso..."
„Snailers", half er ihr auf die Sprünge.
„... dass diese Snailers nicht ihren eigenen Zucker mitgebracht haben?", beendete Nina ihre Frage mit dem neuen Begriff.
„Weil", begann er, „sie Zucker suchen. Sie haben den Teksita den zuckerartigen Stoff wegnehmen wollen. Ich habe das verhindert. Jetzt sind sie irgendwie auf der Erde gelandet und es liegt nahe, dass sie wieder Zucker haben wollen, wenn man mal bedenkt, dass bei den Überresten ihrer Bombe überall Karamell klebt. Als sie von mir geflohen sind, haben sie meinen Schallschraubenzieher mitgehen lassen. Zu spät haben sie mitbekommen, dass da ein Sender drinnen ist. Sie haben ihn über der Erde weggeworfen, dadurch war ich in der Lage sie wieder aufzuspüren. Und jetzt müssen wir uns beeilen, bevor die Snailers noch mehr Schaden anrichten!"
„War das die Sache, die Sie heute Morgen gesucht haben?", fiel Nina ein und beachtete seinen letzten Satz gar nicht. „Und der war auch voller Karamell?"
Der Mann nickte schnell. „Genau. Aber wie kommen Sie darauf, dass mein Schraubenzieher voller Karamell war?" Fragend zog er die Augenbrauen zusammen.
„Na ja, er funktioniert doch nicht, oder? Und Sie haben sich vorhin darüber beschwert."
Seine Stirn glättete sich und er lächelte. „Ach, nein. Das war kein Karamell. Das war irgendetwas anderes Klebriges. Gleicht Karamell nur bis zu einem gewissen Grad. Vermutlich ein Leim oder so. Könnten Sie jetzt bitte nachfragen?" Sein Ton war drängend und seine Körpersprache eindeutig: Er war drauf und dran loszurennen.
„Vielleicht ist es das!", dachte Nina darüber nach. Sie hing durch und durch ihren Gedanken nach. „Vielleicht brauchen die Snailers einen Klebestoff und kennen nur die Reaktion von Zucker oder zuckerähnlichen Stoffen mit Hitze. Daraus entsteht dann Karamell oder sowas Ähnliches. Aber wenn das wirklich ihr Ziel ist, dann können wir denen doch einfach eine Heißklebepistole mitgeben oder so, oder nicht?"
Der Doktor winkte ab. „Denken Sie, eine Heißklebepistole würde für eine ganze Zivilisation reichen? Aber selbst wenn, die Snailers sind eine weitentwickelte Rasse. Kommen von einem Planet der Klasse 5, ist also genauso eingestuft wie die Erde. Sie wüssten, dass es mehr Möglichkeiten gibt als Zucker, wenn man etwas Klebriges machen will. Soweit ich weiß, forschen sie gerade an... Oh!" Er hatte abgebrochen. Der letzte Vokal war laut gesprochen worden und hatte eindeutig mehr Erkenntnis in sich als das letzte Mal, als er ihn einzeln von sich gegeben hatte. Zusätzlich hatte der Doktor seine Augen geweitet und sein Mund war leicht offen, sodass Nina sehen konnte, dass er mit seiner Zungenspitze seinen Gaumen berührte. Dieser Zustand hielt aber nicht lange an, da blickte er seiner Gegenüber auch schon wieder in die Augen. „Nina, Sie sind brillant!" Er strahlte begeistert, bis über beide Ohren.
Die junge Frau wusste gar nicht, was sie denn so Schlaues von sich gegeben hatte. „Was hab ich denn gesagt?"
„Erkläre ich Ihnen später." Auf einmal hatte es der Doktor sehr eilig. „Wo ist der nächste Supermarkt?"
„Äh, die Straße runter und an der zweiten Kreuzung links. Dann müsste er bald auf der rechten Seite kommen."
„Sehr gut!", bestätigte er, dass er sich den Weg gemerkt hatte. „Sie fragen jetzt beim Café nach. Wir treffen uns dann beim Supermarkt!" Er rannte los, allerdings in die entgegengesetzte Richtung.
„Falsche Richtung, Doktor!", wies sie ihn laut darauf hin.
„Nein!", war seine über die Schulter gerufene Antwort. „Ich muss vorher noch woanders hin!" Und dann war er außer Hörweite.
Nina stand da und blickte ihm mit offenen Mund hinterher. Dann lachte sie leise auf. Für sie war heute ein ganz wunderbarer Tag.
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