Kassandras Erbe: Teil VII
„Keine Ahnung", gab der Time Lord munter zu. „Lasst es uns rausfinden!" Ohne zu warten, sprintete er los den Hügel hinunter und direkt auf das kleine Licht zu. Nina fackelte nicht lange und folgte ihm mit einer ähnlichen Geschwindigkeit. Joseph schaute den beiden hinterher und lächelte. Er fand Nächte einfach wunderbar. Sie hatten so etwas Magisches an sich. Und vielleicht sah man sogar dabei zu, wie fremdartige Wesen in den Himmel aufstiegen und Zeitreisende durch die Gegend rannten (Eventuell sogar einem Glühwürmchen hinterher). So absurd das klang, Joseph gefiel dieses Erlebnis. Der Doktor befand sich schon kurz vor dem Waldrand, als der Dichter hinterherhastete.
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Zu dritt joggten sie im Wald herum, einem kleinen Licht hinterher. Der Doktor lief vorneweg, hinter ihm und mit einigen Metern Abstand folgten ihm Nina und Joseph. Die junge Frau wusste nicht, warum, aber aus irgendeinem Grund schien der Doktor voller freudiger Aufregung zu sein.
Man hörte nicht viel, nur das Knacken von Ästen, die gerade zertreten wurden, das ein oder andere Keuchen und sogar Grillen, ab und zu zumindest mal. Joseph stellte sicher, dass der Doktor ihn nicht hören konnte, als er mit gedämpfter Stimme zu Nina meinte: „Übrigens weiß ich jetzt, woher ich den Doktor kenne."
Überrascht merkte sie auf: „Ach ja? Woher denn?" Jetzt war sie gespannt. „Es ist sehr lang", erzählte er ihr. „Ich schrieb es über längere Zeit hinweg, doch ich hatte nur ein einziges Mal von ihm geträumt, das weiß ich noch genau. Ich habe den Mann nicht erkannt, er war wie ein Schatten, als könnte man sich nicht entscheiden, wie genau er jetzt aussah. Deswegen wusste ich auch bis vorhin nicht, warum mir der Doktor so bekannt vorkam."
Nina dachte nach. Die Snailers hatten auch so etwas in der Art gesagt: Er trägt tausende Gesichter, aber nur einen Namen. „Und was ist das für ein Gedicht?", fragte sie nach und beschloss, sich ein anderes Mal darüber Gedanken zu machen.
„Es heißt ‚Der verliebte Reisende'. Es geht um einen Mann, der es nie lange an einem Ort aushält und immer weiterzieht. Allerdings plagt ihn die Sehnsucht nach seiner großen Liebe."
Josephs Worte klangen in Ninas Ohren sehr schön, dennoch runzelte sie die Stirn. „Der Doktor und verliebt?" Leise lachte Joseph auf: „Liebe muss ja nicht immer einer Person gelten, oder, Nina?"
Sie ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Ihr Blick wanderte automatisch zu dem braunhaarigen Hinterkopf vor ihr, der im Joggen regelmäßig auf und ab wippte. Sie dachte daran, wie sie den Doktor kennengelernt hatte; für sie war es keine zwei Tage her und streng genommen fand ihr Aufeinandertreffen erst in 186 Jahren statt. Trotzdem hatte es schon mehrere Situationen gegeben: Wenn er über das Reisen sprach, wenn er in den Himmel schaute... Der Doktor war verliebt und zwar in das Universum und dessen Kennenlernen. „Ja", meinte sie schließlich ruhig. „Das klingt wirklich sehr nach ihm."
Ehe Joseph etwas erwidern konnte, blieb der Doktor auf einmal stehen. Die beiden rannten nur nicht in ihn hinein, weil er so einen großen Vorsprung gehabt hatte. „Huch!", meinte Nina dennoch erschrocken. „Wollten Sie nicht in Zukunft Bescheid sagen, wenn Sie plötzlich bremsen?"
„Ach, das wird sowieso nicht passieren", antwortete der Doktor abwesend. Er starrte auf das, was sich vor ihm befand. Joseph und Nina bemerkten, dass er fasziniert war und lugten hinter ihm zu jeweils unterschiedlichen Seiten hervor. „Meine Güte!", hauchte der Dichter und sie bekam gar kein Wort heraus.
Egal, wie beeindruckend die Sicht vom Hügel auf die Landschaft in der Nacht auch war, es war nichts im Vergleich zu dem, was hier war. Vor ihnen erstreckte sich eine ganz normale Waldlichtung, nichts Besonderes, doch was sich dort abspielte, raubte den Dreien den Atem. Unzählige Lichter schwebten umher; kleinere, größere, hellere, dunklere Lichter. Sie erfüllten die Szene mit solch einem magischen Licht, da konnte der schönste Vollmond einpacken. Eines war klar, das waren keine Glühwürmchen. Man sah nicht mal ansatzweise einen Körper.
Sie betraten langsam die Lichtung und konnten nicht anders, als den Blick zu heben, da sich die meisten Lichter hoch in der Luft befanden. „Aurae Lyah", waren die ersten Worte, die der Doktor von sich gab, seit er dieses Schaubild vor die Nase gesetzt bekommen hatte. Ein Strahlen zauberte sich auf sein Gesicht. „Natürlich! Die Glühwürmchen, die Träume! Es ergibt Alles einen Sinn!"
„Doktor, was ist das?", wollte Nina wissen. Von sich aus würde er bestimmt nicht anfangen zu erklären, er war viel zu befangen. Verständlicherweise.
„Aurae Lyah heißen sie. Sie haben keinen Körper, sondern bestehen nur aus Licht, pure Energie. Sie sind schon alt, sehr alt. Keiner weiß, woher sie ursprünglich stammen." Seine Begeisterung war mehr als deutlich herauszuhören. „Quer durch die Galaxie haben sie sich verteilt, bis in die hintersten Winkel. Meistens erkennt man sie nicht; hält sie für ein belangloses Licht oder eben Glühwürmchen oder was sonst noch so gibt." Sein Strahlen hielt an, sein Blick wandte sich nicht ab. „Sie gehören zu den ältesten Wesen im Universum. Sie müssen gemerkt haben, dass es den Jungen nicht gut geht und haben für sie nach Hilfe gerufen." Zum ersten Mal wandte er den Blick von den wunderschönen Lichtern ab und richtete ihn auf Joseph. „Sie müssen wissen, Aurae Lyah sind harmlos, manchmal aber wirken sie sich unbewusst auf sehr feinfühlige Menschen aus, indem sie sie zum Beispiel Träume haben lassen, die sich dann in der Zukunft bewahrheiten."
„Aurae Lyah...", flüsterte Joseph verzaubert. „Klingt wie Aurelia..." Der Doktor grinste und Nina verstand nicht, wieso, doch sie traute sich nicht, in der momentanen Situation zu fragen. Sie wollte es gar nicht. Der Augenblick war so wunderschön. „Heißt das, dass sie der Grund sind, warum Joseph von der Zukunft träumt? Aber wie kann das sein?"
Der Doktor legte wieder seinen Kopf in den Nacken. „Sie sind wirklich unglaubliche Wesen, die Aurae Lyah. Sie sehen Alles in ihrem Umfeld und damit meine ich das nicht rein geographisch gesehen. Alles, was war, ist und sein wird in einem Umkreis von..." Er zuckte kurz mit dem Kopf zur Seite, als er nachdachte. „... sagen wir 60 Meilen. Man nennt sie auch die Lichter der Zeit."
Je mehr sich das Dreiergrüppchen der Mitte der Lichtung näherte, desto näher kamen die meisten Lichter, das bemerkten sie erst jetzt. Der Doktor blieb stehen und Nina und Joseph taten es ihm nach. Die Aurae Lyah kamen immer näher. Es sah so aus, als würde es Licht schneien. Einfach wunderschön.
Nicht lange und das erste Licht haftete sich an die Schulter des Doktors. Es folgte ein weiteres am Arm, eins an der Brust. Es kamen immer mehr und schneller Lichter herab, um sich an den Doktor zu haften. Er selber hatte damit nicht gerechnet und hob begeistert die Arme fast auf Schulterhöhe an.
Auch wenn nicht mal ganz die Hälfte seines Körpers bedeckt war, leuchtete der Mann und als Nina sah, wie sich das Licht in seinen vor Freude funkelnden Augen spiegelte, nahm sie so heftig wie noch nie zuvor wahr, wer der Doktor war. Sein Auftreten war lebhaft, aufgeweckt und fröhlich, sein Gesicht ist genauso wie sein Verstand jung, doch dann waren da noch seine Augen. Diese alten Augen, in denen all die vielen Jahre, die er nun schon gelebt hatte, zu sehen waren. Wie viel er schon erlebt hatte, was er bereits alles gefühlt hatte, das konnte keiner wissen. Denn er war der letzte seiner Art, der allerletzte. Momentan war der Doktor glücklich, aber den Schmerz der Einsamkeit konnte er nicht in seinem Blick verstecken. Wenn Nina so darüber nachdachte, war er schon immer da gewesen, und vermutlich würde er auch immer da sein. Er war so ein mutiger Mann, dass er trotz seiner Vergangenheit sein Leben so lebte, wie er es tat. Ein wackrer Mann.
Nina traf die Erkenntnis. Ihre Hand eilte zur Hosentasche. Darin spürte sie das Papier, was sie am Tag beschrieben hatte; auf dem das Gedicht ‚An...' geschrieben war. Ein wackrer Mann.
Joseph sah, wie Nina ihre Hosentasche betastete und wie sie begriff. Der Dichter schmunzelte. Für ihn war das Rätsel, an wen das Gedicht ‚An...' gerichtet war, gelöst. Und wenn nicht jetzt, dann würde es Nina auch früher oder später wissen, da war er sich sicher.
„Zeitreisen", erklärte der Doktor, ohne den Blick von den Lichtern an seinem Körper zu wenden. „Sie müssen gemerkt haben, dass ich wie sie auch ein Kind der Zeit bin." Dann entfernten sich die Lichter gleichzeitig und langsam von ihm und stiegen wieder hinauf. Der Doktor ließ seine Arme wieder sinken und folgte ihnen mit seinem Blick. Nina schaute nochmal genauer hin. Konnte sich das Licht besser in seinen Augen spiegeln, als gerade eben noch? Tatsächlich. Der Doktor hatte beim Anblick der Aurae Lyah feuchte Augen bekommen. Kind der Zeit hatte er sich genannt. Kein Wunder. Die Lichter waren ihm ähnlich, er hatte sich wahrscheinlich an die alten Tage erinnert. Der Schmerz der Einsamkeit.
Fast schon reflexartig ging Nina zu ihm und berührte ihn am Arm. Dabei gab sie ein sanftes „Hey." Von sich. Davon leicht überrascht schaute er mit einer ruckartigen Kopfbewegung zu ihr runter. „Egal, was Sie sagen oder tun, Ihr Begleiter hängt da mit drin. So ist es doch, nicht wahr?" Sie lächelte ihm zu. „Sie müssen nicht komplett einsam sein." Da lächelte er auch: „Danke."
„Sehen Sie mal", kam es von Joseph an Nina gewandt. „Die Lichter kommen auch zu Ihnen." Er behielt recht. Eine Handvoll von Aurae Lyah kamen vorsichtig auf Nina zugeschwebt. Letztendlich berührten sie sie sanft an den unterschiedlichsten Stellen. Im ersten Moment zog sich eine wohltuende Gänsehaut über ihren Körper; die Lichter strahlten eine gewisse Geborgenheit aus. Dann zuckte sie kaum merklich zusammen. Bilder waren in ihrem Kopf erschienen. Innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde hatte sie Dinge gesehen, die nicht diese Lichtung war. Wie in einem Film mit Zeitraffer war es gewesen. Keines der Bilder hatte sie im Kopf behalten können, dafür war es viel zu schnell gegangen, bis auf eines. Das letzte Bild war ein Stückchen länger zu sehen gewesen, als der Rest. Es waren zwei Hände gewesen; ein Mann und eine Frau, die Hand in Hand in das weite Universum blickten. Sie hatte nicht gesehen, wer genau das war, schließlich hatte sie nur die verschränkten Hände gesehen, doch der Unterarm des Mannes hatte in einem braunen Jackettärmel gesteckt, während die Hand der Frau ihrer sehr ähnlich gesehen hatte. Nina kannte ihre Hand.
Was hatten die Aurae Lyah ihr gerade gezeigt? Danzigs Zukunft? Vergangenheit? Ihre Zukunft? Sie konnte es nicht sagen.
„Natürlich", gluckste der Doktor mit dem Blick auf die Lichter, die noch an Nina klebten. „Schließlich ist sie auch durch die Zeit gereist." Auch diese lösten sich wieder ab und stiegen auf zu den anderen.
Für Joseph stand es eindeutig fest: Nächte waren einfach fantastisch!
„So, Doktor", kam es aufgeräumt von Joseph. Zu dritt standen sie vor seinem Haus. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen und der Dichter brauchte zumindest noch ein bisschen Schlaf. Bei sich hatte er die schon etwas zerknitterten Blätter mit ‚Von Engeln und Bengeln'. „Ich danke Ihnen sehr, Ihnen beiden!" Er wandte sich dabei auch an Nina.
„Nichts zu danken", wimmelte der Doktor, der seinen Mantel wieder hatte, ab. Dann runzelte er die Stirn. „Die Träume werden sie wahrscheinlich nicht los. Zumindest so lange nicht, bis die Aurae Lyah sich von der Lichtung wegbewegen."
„Das macht nichts", entgegnete Joseph fröhlich. „Durch sie glaube ich, endlich einen Namen für meine wunderschöne Frau in meiner Geschichte gefunden zu haben: Aurelia."
„Ein sehr schöner Name", lobte der Doktor mit etwas zu viel Betonung in seiner Stimme und Nina kapierte. So würde die Figur letztendlich wirklich heißen. Sogar Joseph hatte das bemerkt, der nun auflachte: „Danke, dadurch spare ich mir die Mühe noch ewig herumzugrübeln." Dann wurde er wieder etwas ernster. „Die Zukunft, wie ist sie denn so?"
Der Doktor zog scharf die Luft ein. „Das, mein Freund, ist eine sehr gefährliche Frage. Man darf nicht zu viel verraten, sonst könnte sie irgendjemand verändern."
„Es ist normal, dass Frauen Hosen tragen", erwiderte Nina prompt, fast schon trotzig. Für sie war Joseph niemand, der die Zukunft gravierend verändern könnte; er war schlau genug, um mit solchen Wissen umzugehen. „Und Deutschland ist vereinigt..." Eher sie weiterreden konnte, legte der Doktor ihr eine Hand auf den Mund. „Ja, und das war jetzt genug gequasselt!" Er ignorierte Ninas wütende Versuche, die Hand von ihrem Mund zu ziehen. „Wir müssen weiter. Auf Wiedersehen, Joseph!"
„Na, ob Sie nochmal vorbeischauen werden?" Es lag keine Spur von Vorwurf in seiner Stimme, nur gute Laune. „Machen Sie's gut!"
Auch Nina wollte eine Verabschiedung aussprechen, doch es war nur gedämpftes Gemurmel zu hören. Da der Doktor immer noch keine Anstalten machte, ihren Mund wieder freizugeben, beschränkte sie sich auf ein einfaches Winken, was Joseph mit „Bis dann, Nina!" erwiderte.
Dann trennten sich ihre Wege. Erst als sie sich umgedreht und schon einige Yards gelaufen waren, nahm der Doktor die Hand runter. „Puh!", machte Nina. „Ich war so kurz davor, Sie zu beißen", wollte sie ihm klarmachen und stellte mit Daumen und Zeigefinger, die sich fast berührten, dar, wie ernst sie es meinte. Ehe der Doktor aber etwas erwidern konnte, drehte sie sich noch einmal um, lief rückwärts weiter und rief: „Tschüss, Joseph!" Ein Winken von der Haustür, die dabei gewesen war geschlossen zu werden, bestätigte, dass er die Verabschiedung verstanden hatte. Nina lief wieder normal neben dem Doktor her.
„Sie hätten mich nicht gebissen", stellte er nüchtern klar. „Das können Sie nicht wissen", meinte sie nur mit erhobenen Zeigefinger.
Eine Weile liefen sie schweigend durch Danzig bei Nacht, bis Nina die Stille durchbrach: „Haben wir eigentlich nicht gerade die Geschichte verändert?"
„Nicht, dass ich wüsste", meinte der Doktor locker. „Oder haben Sie irgendwelche Erinnerungen, die Sie zuvor noch nicht gehabt haben?"
„Nein...?", antwortete sie zögerlich. „Wie fühlt sich das denn an?"
„Das würden Sie merken."
„Aber irgendwas müssen wir doch verändert haben. Vielleicht nicht in unserem Leben, aber in irgendeinem anderen." Nina war immer noch nicht beruhigt.
„Das glaube ich nicht."
„Aber..."
„Hören Sie", gab der Doktor geduldig von sich. „Es ist so: Sie befinden sich im Jahr 1822. In knapp 150 Jahren werden sie geboren. Zu diesem Zeitpunkt ist das hier bereits passiert. Sie leben Ihr Leben, wachsen auf, gehen zur Schule und so weiter, bis Sie irgendwann in diese blaue Telefonzelle steigen und aus dem 21. Jahrhundert verschwinden." Wie aufs Stichwort waren sie bei der Tardis angelangt. Der Doktor sperrte auf und beide gingen hinein. Er warf seinen Mantel auf die Sitzbank bei der Steuerkonsole. „Natürlich könnte es sein, dass sie dort gleich im nächsten Moment wieder auftauchen, bei Zeitreisen ist Alles möglich."
„Das heißt, dass ich, während ich laufen gelernt habe, bereits mit Ihnen und Joseph von Eichendorff rumgerannt bin?" Nina war komplett verwirrt.
„Nicht ganz." Die Stimme des Doktors hallte, da er sich in einen der abzweigenden Gänge begeben hatte. Mit einer Kiste in beiden Armen kam er wieder zurück. „Für Sie passiert das jetzt gerade. Als Sie laufen gelernt haben, haben Sie laufen gelernt, da konnten Sie noch gar nicht mit irgendjemanden rumrennen."
„An dem Punkt scheitere ich auch", murmelte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
Der Doktor stellte derweil die Kiste neben ihr ab. „Für Sie selber als Person ist das noch nicht passiert. Für die Erde schon. Und zwar vor fast 150 Jahren."
Nina meinte nun mehr zu begreifen, verstand aber immer noch nicht ganz. „Wie kann das sein?"
Mit einem Seufzen lehnte der Doktor sich auf die Kiste, die er in der Hocke sitzend geöffnet hatte. „Das liegt an euch Menschen und eurer Vorstellung von Zeit. Sie verläuft nicht geradlinig. Sie ist mehr wie ein Ball..." Solch einen formte er sogleich mit seinen Händen. „... voller schnibbedi-schnick-wibbelig-wabbeligem Zeugs.", sprach er in einem Ton, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, solche Worte in den Mund zu nehmen. Dann begann er in der Kiste zu wühlen.
„Okay", gab Nina matt von sich. Auch wenn diese Beschreibung katastrophal gewesen war, verstand sie es besser. „Heißt das, dass es sein kann, dass ich an irgendeinem Tag vor meinem Geburtstag sterbe, obwohl ich noch gar nicht geboren worden bin?" Ein sehr erschreckender Gedanke für sie.
„Jop", meinte der Doktor nur locker, als ob sie sich über das Wetter unterhalten würden, und unterbrach seine Arbeit nicht. Nina schauderte. Was für eine Vorstellung!
„Ah! Hier ist es!", kam es plötzlich vom Doktor. Er hielt ein kleines, braunes Buch in der Hand.
Es wirkte schon ziemlich alt, doch wenn Nina so drüber nachdachte, konnte es in hunderten von Jahren geschrieben werden und der Doktor hatte es nur schon so lange in seinem Besitz. „Eine Sammlung aller Gedichte von Joseph von Eichendorff."
Nina ging neben ihm in die Hocke, um auch etwas sehen zu können. Der Doktor blätterte nicht lange, bis er fündig geworden war und Nina dann das Buch in die Hand drückte. Sie las leise die Überschrift vor: „‚Von Engeln und Bengeln'." Ihre Augen überflogen die bereits bekannten Wörter, schließlich musste es einen Grund geben, dass er es ihr zeigte. „Das ist länger", stellte sie schließlich erstaunt fest. „Die letzten drei Strophen waren vorher noch nicht da." Sie las sie sich durch. Es ging darum, dass die Engel, die gewartet hatten, bis sie alt und grau waren, zurück in den Himmel aufgenommen wurden.
„‚Von Engeln und Bengeln'", sprach der Doktor mit feierlicher Stimme. „Geschrieben von Joseph von Eichendorff. Fertiggestellt im Jahr..." Er deutete auf die Jahreszahl. „... 1822." Er grinste, denn er wusste, dass das Nina gefallen würde.
Sie strahlte begeistert. „Wahnsinn! Aber..." Sie schaute den Doktor an. „... ist das nicht ein bisschen auffällig, wenn er ein Gedicht über Aliens schreibt?"
Gut gelaunt winkte der Doktor ab, während er das Buch wieder nahm, zuschlug und zurück in die Kiste verstaute: „Das wird kein Problem sein. Sie wissen doch, wie das ist. Die Menschen interpretieren irgendetwas in seine Worte hinein. Letztendlich wird es vermutlich auf ein ganz normales Menschenleben hinauslaufen, was er da beschrieben hat, wobei die Engel für die Kinder stehen und so weiter. Noch ein bisschen Religion dazu und alles geht auf." Er richtete sich wieder auf und fing an, an der Konsole der Tardis irgendwelche Hebel, Schalter und Knöpfe zu betätigen.
„Wenn das so ist..." Nina gähnte herzhaft. Der Doktor grinste, als er das sah. „Schlafzimmer sind den Gang da runter, erste Abzweigung nach rechts." Mit seinem Arm deutete er auf den besagten Gang. Sie war erstaunt. „Ich darf hier pennen?" Der Doktor zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie wollen."
„Okay..." Langsam bewegte sie sich auf den Gang zu. „Danke. Dann... ähm... Gute Nacht." Sie lächelte immer noch leicht überrascht, wartete ab, ob vielleicht noch irgendetwas kam.
Es kam nichts, nur ein „Gute Nacht." zusammen mit einem Lächeln.
Während Nina ging, werkelte der Doktor weiter an derKonsole rum. Zufrieden lächelnd.
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