Kassandras Erbe: Teil V

                  

Ein selbstzufriedenes Grinsen lag auf den Lippen des Doktors. „Ich muss Sie leider enttäuschen, Miss Featherstone..." Gong. Das zwölfte Mal. Ein neuer Tag war angebrochen. „... aber es ist Montag."

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„Doktor, was ist los? Wohin gehen wir?", fragte Nina. Sie, der Doktor und Joseph, der immer noch seinen Morgenrock trug, rannten durch die Straßen Danzigs... mal wieder. Dieses Mal aber schienen sie ein Ziel zu haben. Jedenfalls lief der Doktor ziemlich zielgerichtet mit dem Schallschraubenzieher in der Hand voran. Er war so voller Enthusiasmus losgestürmt, dass er erstens alles auf dem Weg erklären wollte und zweitens seinen Mantel bei Josephs Haus vergessen hatte.

„‚Adebar'", begann der Doktor sofort, was Nina etwas überraschte, da sie nicht gedacht hätte, so schnell eine Antwort zu bekommen, „bedeutet mehr als nur ‚Storch'. Um genau zu sein bedeutet ‚Adebar' eigentlich gar nicht ‚Storch', kein Stück."

„Was soll es dann bitte heißen?", meldete Joseph sich zu Wort.

„‚Adebar' ist der Name einer Gruppe, man kann es mit einer Sekte vergleichen." Der Doktor redete sehr schnell.

„Und was machen die so?", hakte Nina weiter nach. Jetzt wurde es ihrer Meinung nach richtig spannend.

„Dafür fehlen mir viele Informationen. Die Sekte der Adebars ist sehr geheimnistuerisch."

„Der Plural von ‚Adebar' ist ‚Adebare'", warf Joseph schnell als Korrektur ein.

„Nein, ist er nicht." Damit war das Thema abgehakt und der Doktor setzte seine Erklärung fort: „Alles, was bekannt ist, ist, dass diese Sekte die Nachkommen ihrer Mitglieder einem Ritual unterziehen, indem sie weit weggeschickt werden. Dort sollen sie mehr oder weniger selbständig zusehen, wie sie zurechtkommen. Zumindest denke ich das. Irgendwie soll das die Auserwählten bestimmen."

„Okay?", fragte Nina vorsichtig nach. „Und ab wann spielen diese blonden Jungen hier eine Rolle?"

„Von Anfang an", meinte der Doktor locker. „Die Adebar-Sekte stammt von... Verkleidungskünstlern." Er redete nicht so offen, wie er gerne würde, bemerkte Nina. Vermutlich lag das an Josephs Anwesenheit. Das hieß, es handelte sich höchstwahrscheinlich um Aliens.

„Wer macht sowas?" fragte Joseph nach. „Das klingt ja schon fast unmenschlich, einfach unschuldige Kinder wegen eines Rituals wegzuschicken."

Die Blicke von Nina und dem Doktor trafen sich. „Ja", meinte er mit deutlich langsamerer Stimme, „sehr unmenschlich." Für Nina bestätigte sich ihre Vermutung: Aliens.

Auf einmal blieb der Doktor stehen. Überrascht taten Nina und Joseph es ihm gleich. Der Doktor drehte sich um, er wusste, dass das ganze Drumherumgerede nicht mehr lange gut gehen würde. Er sprach direkt mit dem Dichter: „Joseph, ich muss gestehen, ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen. Aber angesichts der Tatsache, dass Sie heute den ganzen Tag mit 'nem Typen, der nur wirres Zeug labert, und 'ner Frau in Hosen durch die ganze Stadt gerannt sind, nur um herauszufinden, warum Ihre Träume wahr werden, glaube ich, dass Sie die Wahrheit verkraften können: Ich bin kein Mensch, sondern stamme von einem anderen Planeten. Mit meinem Raumschiff reise ich durch Raum und Zeit. Nina hier kommt auch nicht von hier, ich habe sie aus Ihrer Zukunft aufgegabelt. Um genau zu sein, aus dem 21. Jahrhundert. Wesen von anderen Planeten existieren und gibt es auch auf der Erde, gab es schon immer, und um genau solche Wesen geht es gerade."

Joseph blickte zwischen den beiden hin und her. Sein Mund stand offen. Ihm schien es die Sprache verschlagen zu haben.

„Joseph?", fragte Nina vorsichtig nach. Er reagierte nicht. Mit vorwurfsvollen Blick wandte sie sich an den Doktor: „Was erzählen Sie ihm auch gleich die ganze Story? Er war doch völlig unvorbereitet! Sogar ich musste damit erst warm werden. Außerdem ist es in so einem vergangenem Jahrhundert... nun ja... nicht das Schlauste sowas zu erzählen, oder?"

„Höre ich da Vorurteile?", warf der Doktor ihr vor. „Glauben Sie wirklich, dass es in der Vergangenheit keine Menschen mit einer liberalen Einstellung gab?"

„Der Doktor hat recht", mischte Joseph sich ein. „Ich sehe zu, wie ein Traum nach dem anderen wahr wird, mich erschreckt so schnell nichts mehr."

Der Doktor grinste selbstzufrieden.

„Obwohl..." Joseph war noch nicht fertig. „... diese Informationen tatsächlich etwas plötzlich kamen."

„Ha!", meinte Nina triumphierend.

„Was hat es jetzt mit diesen Adebar-Wesen auf sich?", lockerte Joseph die Stimmung.

„Keine Adebar-Wesen, eine Adebar-Sekte", ging der Doktor darauf ein. „Die Rasse nennt sich Moutris."

„Okay, und die haben jetzt dieses Ritual, bei dem sie die Kinder auf die Erde schicken? Das haben Sie doch mit ‚weit weg' gemeint, oder?", fragte Nina nochmal sicherheitshalber nach. Die drei fingen wieder an, sich fortzubewegen.

„Ganz genau!", bestätigte der Doktor.

„Was ist dann jetzt mit den Jungen?", wollte sie weiter wissen.

„Moutris sind Gestaltenwandler", erklärte er. „Auf der Erde fallen sie nicht auf, da sie ihren Körper verändern können. Die Erwachsenen können es kontrollieren, die Säuglinge aber sind sich ihrer Kraft noch nicht bewusst. Sie verwandeln sich automatisch, gewissermaßen instinktiv. Sie verändern sich in die Form, die ihrem normalen Körper am nächsten kommt."

„Kinder", schlossen Joseph und Nina gleichzeitig.

Der Doktor nickte. „Allerdings sind die Moutris eine besondere Art von Gestaltwandler. Sie verändern sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Wenn sich die Moutrisnachkommen in menschliche Kinder verwandeln, sind sie menschliche Kinder. Das heißt, sie wachsen heran wie Menschen, besitzen die gleichen motorischen und geistigen Fähigkeiten wie Menschen, benötigen die gleiche Ernährung wie Menschen und so weiter. Wenn die Neugeborenen also zur Erde geschickt werden, dann wissen sie gar nicht, dass sie eigentlich von einem anderen Planeten kommen."

„Du liebes Bisschen...", hauchte Joseph.

Nina schielte zu ihm rüber. Es klang nicht so, als würde seine kurze Aussage nur eine Reaktion zu dem sein, was der Doktor soeben gesagt hatte. „Geht es Ihnen gut?", fragte sie nach.

„Ja, schon", antwortete er etwas erschlagen. „Es ist nur etwas... fremdartig, das Ganze. Sie reden über andere Wesen, als wäre es das normalste der Welt."

„Nun ja, für mich ist es das normalste überhaupt", gab der Doktor schulterzuckend zu. „Ich selber bin schließlich nicht von der Erde."

Joseph seufzte daraufhin tief. Er wusste nicht recht, was er sagen sollte. „Wenn... das alles stimmt, was Sie sagen, wie kommen die Kinder dann auf die Erde? Werden sie gebracht? Und wenn ja, als was kommen dann die Sekten-Mitglieder auf die Erde. Menschen? Sind das die Eltern der Kinder?"

„Sie werden gebracht. Die Kleinen alleine auf die Reise zu schicken, wäre zu gefährlich. Was ist, wenn sie den Planeten verfehlen? Ich weiß nicht, als was sie sich tarnen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht die Menscheneltern sind." Der Doktor schüttelte sachte den Kopf und zitierte aus seinem Gedächtnis heraus:

Da kamen Störche gezogen,

Und jeder sich eines nahm,

Und ist damit fortgeflogen,

Bis daß er zu Menschen kam."

„Störche?", stellte Joseph verwundert fest, doch dann hellte sich seine Miene auf. „Adebar, natürlich!"

Abermals nickte der Doktor. Dieses Mal konnte man sogar ein Lächeln auf den Lippen erkennen: „Die Geschichte, dass der Storch die Babys bringt, ist schon sehr alt. Doch sie ist nicht einfach irgendein Mythos, sie hat einen wahren Kern."

„Moment mal!", fiel Nina ihm ins Wort. „Wollen Sie damit sagen, dass jeder Storch eigentlich ein Alien ist?"

„Ach, Quatsch!", wimmelte er ab. „Die meisten Störche sind einfach Störche. Aber es kann sehr gut sein, dass sie mal einen Storch gesehen haben, der eigentlich gar keiner war. Nicht nur Moutris kommen da infrage, es gibt da noch..." Er sah die Gesichter der beiden und stoppte. „Ach, ist eigentlich gar nicht wichtig."

Ninas Mund stand offen. Das musste sie jetzt verarbeiten und der letzte Satz des Doktors hatte die Situation nicht gerade verbessert. Dann aber fiel ihr etwas auf: „Wieso haben Sie das alles nicht sofort gewusst? ‚Adebar' stand da doch die ganze Zeit."

Er wiegte seinen Kopf leicht hin und her. „Das liegt an der Tardis. Ihr Übersetzungsprogramm funktioniert so, dass man den Sinn versteht und für ‚Adebar' gibt es keine Übersetzung. Normalerweise wird ja auch nicht Eins zu Eins übersetzt, sondern die Grammatik und der Sinn werden beibehalten. So macht es die Tardis auch. Bis vorhin war die beabsichtigte Botschaft des Wortes ‚Adebar' ‚Storch', doch sobald Sie ‚Adebar' gesagt haben, sobald ich wusste, dass es nicht nur um einfache Störche, sondern um diese Sekte der Moutris geht, höre und lese ich jetzt ‚Adebar' in diesem Gedicht. Wie ‚Adebar' in die deutsche Sprache gelangt ist, weiß ich auch nicht. Vermutlich war die Sekte unvorsichtig oder so."

Tief atmete Nina ein und wieder aus; das war kompliziert. „Was lernen wir daraus?"

Der Doktor schaute sie verwundert an. „Was denn?"

„Wir sollten möglichst viele Sprachen lernen, damit sowas nicht mehr passiert." Daraufhin grinste der Doktor: „Für mich heißt das eher, dass es eine gute Idee war, Sie mitzunehmen."

„Wohin gehen wir eigentlich?", fragte Joseph einige Augenblicke später nach. Eine sehr gute Frage war das.

„Dahin, wohin mein Schallschraubenzieher uns führt", war die Antwort. „Gestaltwandler weisen ähnliche Störungen in der Luft auf wie Wahrnehmungsfilter... oder nein, noch eher wie Schimmer. Wir müssten bald da sein."

Schließlich kamen sie auch an. „Hier?", vergewisserte Nina sich misstrauisch. „Hier sind wir heute doch schon etliche Male vorbeigelaufen. Eigentlich sind wir überall schon etliche Male vorbeigelaufen."

„Da hatte der Schallschraubenzieher noch nicht die richtige Einstellung", erklärte der Doktor schnell. „Hatten wir hier nachgefragt?"

„Wir haben's probiert, aber keiner war da", erinnerte Nina sich. „Zumindest hat niemand aufgemacht."

„Okay." Der Doktor trat an die Haustür heran, doch anstatt zu klopfen, änderte er die Einstellung an seinem Schallschraubenzieher und beschallte damit die ganze Tür. Am Ende hielt er seine außerirdische Technologie auf die Türklinke und das Schlüsselloch.

Nichts passierte. „Was ist los?", wollte Nina wissen.

„Holz", murmelte der Doktor verärgert und legte sein Ohr an die Tür an. Zaghaft klopfte er mit seinem Fingerknöchel einige Male dagegen, um die Mächtigkeit einschätzen zu können.

Skeptisch hob sich eine von Ninas Augenbrauen in die Höhe. „Na und?"

„Holz ist zu altmodisch", erklärte der Doktor schnell. „Da nützt mein Schraubenzieher nichts." Er klopfte an einigen anderen Stellen. Sehr dick klang die Tür nicht.

Nina merkte, dass das ein Thema war, dass er nicht gerne ansprach. Sie verstand das auch. Schließlich war es irgendwo lächerlich. „Ernsthaft?! Ihre Alientechnologie knackt Schlösser, kann Luftstörungen wahrnehmen, alles Mögliche erfassen und analysieren, aber bei Holz hört's auf? Das ist dem Ding zu hoch?!"

„Hey, das ist kein ‚Ding'!" Empört aufmerkend legte der Doktor Verachtung in das letzte Wort, als wäre es eine viel zu primitive Beschreibung für sein wertvolles Instrument (was ja auch stimmte). Er richtete sich wieder auf und stellte sich ihr gegenüber auf, den Schraubenzieher hielt er ihr vor die Nase. „Außerdem ist Holz nicht zu hoch für ihn, sondern zu niedrig. Viel zu primitiv."

Nina aber konnte das nicht überzeugen. „Ihr Kryptonit ist Holz." Eine nüchterne Aussage.

„Wenn überhaupt, dann von meinem Schraubenzieher", protestierte der Doktor.

„Junge, könntest du uns aufmachen?" Dieser Satz von Joseph verwirrte sowohl den Doktor als auch Nina, die beide ihren Kopf zu ihrem Freund drehten.

Joseph hatte nicht mit ihnen gesprochen. Er stand einige Yards weiter auf der Straße und blickte nach oben. Nina und der Doktor gingen zu ihm und taten es ihm nach. Es war ein einstöckiges Haus, in dem sich die Moutriskinder anscheinend aufhielten, vielleicht sogar ein oder zwei ausgewachsene Exemplare.

Ein Fenster im ersten Stock war geöffnet, in dem nur der Kopf eines blonden Jungen zu sehen war mit einem sehr hübschen Gesicht. Es war tatsächlich einer der beiden, die der Doktor und Nina tagsüber gesehen hatten.

„Wer ist das?", fragte die junge Frau.

„Ich kenne ihn nicht", gestand Joseph. „Er hat uns die ganze Zeit über vom Fenster aus beobachtet, da hab ich ihm verständlich gemacht, dass er es bitte öffnen solle, damit ich mit ihm reden kann. Und jetzt habe ich um Einlass gebeten."

„Ich kenne Sie beide", meinte der Junge plötzlich. Seine blauen Augen ruhten auf dem Doktor und Nina.

„Ja, hallo, ich glaube, du und dein Bruder sind heute an uns vorbeigerannt", grüßte der Doktor mit leicht erhobener Stimme, damit der Junge ihn auch hören konnte.

„Sie haben was Komisches mit Otto und mir gemacht", war dessen Reaktion. In seiner Stimme lag keine Angst oder Furcht, genauso wenig wie Misstrauen oder Vorurteil. Er klang so, als würde er über das Wetter reden.

„Was Komisches?", wiederholte Nina leise.

„Das tut uns leid, das war keine Absicht", entschuldigte der Doktor sich.

„Schon in Ordnung, das passiert in letzter Zeit häufiger", winkte der Junge ruhig ab. Im Allgemeinen fiel Nina auf, dass er noch kein einziges Mal irgendeine Art von Emotion gezeigt hatte, ganz anders als am Morgen.

„Ach ja? Was denn genau?", erkundigte der Doktor sich.

„Dass Otto und ich Sachen vergessen", antwortete er. „Es sind immer nur ein paar Sekunden, an die wir uns nicht mehr erinnern können, aber es passiert immer gleichzeitig. Bei Johann und Heinrich war das auch mal so, doch in letzter Zeit ist das immer weniger geworden."

„Heinrich und Johann?", fragte der Doktor nach. „Wer sind die."

„Freunde von Otto und mir." Auf einmal drehte der Junge sich um und blickte nach hinten. „Mutter kommt!" Auf einmal war kindliche Angst in seinen blauen Augen zu erkennen, wie man nun mal schaute, wenn die Mutter kurz davor war eine zu erwischen, wie man mitten in der Nacht noch wach war. Der Junge machte Anstalten, das Fenster zu schließen.

„Warte!", wollte der Doktor ihn aufhalten.

„Wie heißt du?", fiel Nina ihm ins Wort, ehe er den Jungen weiter ausquetschen konnte.

„Ich soll nicht mit fremden Menschen reden", erinnerte der Junge sich. „Mutter wird sauer sein."

„Bitte, wir brauchen deine Hilfe!", drängte Nina weiter. „Damit wir dir helfen können."

Hinter dem Jungen ging ein Licht an. „Karl? Otto? Seid ihr etwa noch auf?"

„Bitte, Karl!", ergriff der Doktor die Chance. „Sie hat recht, wir wollen dir nur helfen!" Der Junge schaute noch für einen Augenblick auf die drei herab. Seine Augen zeigten deutlich seine Zwiespalt. Dann schloss er das Fenster.

Der Doktor seufzte und ließ seinen Kopf nach unten sacken. Beim Wiederaufrichten meinte er: „Jetzt müssen wir nur hoffen, dass er uns reinlässt." Er schlenderte zum Hauseingang und setzte sich vor die Tür.

Nina beschäftigte etwas anderes: „Gegen Ende hat er sich wie ganz normales Kind verhalten, aber davor... Er hat so... seltsam gewirkt."

„Er ist ja auch kein normales Kind", erklärte der Doktor vom Eingang aus. Er hatte seinen Kopf gegen die Hauswand gelehnt. „Er ist ein Moutris und wenn er so weitermacht, bald ein Mitglied der Adebar-Sekte."

„Es ist die Nacht", sprach Joseph mal wieder ein Wort. „Ich kann den Jungen gut verstehen. Die Nacht verzaubert einen, weckt in einem tiefe Wünsche, von denen man nicht geahnt hätte, dass sie im Kopf herumgeistern." Mit ernstem Blick schaute er den Doktor an. „Sie meinen also, dass der junge Karl und sein Bruder Otto... nicht von diesem Planeten stammen, sondern von den Sternen? Vom Himmel?"

Der Doktor nickte. „Sie haben es doch selbst geträumt. Wie war das gleich? Ein paar Engel, die auf einem Hügel spielten und dann von einem Storch genommen worden sind."

„Aber Engel..."

„Wie sehen Engel denn Ihrer Meinung nach aus?", unterbrach der Doktor ihn. „Wie Jungen mit Flügel? Für Sie sind das vielleicht Engel, für mich sind das Moutrisbabys."

„Im Gedicht wurde nicht gesagt, wie viele es genau waren", fiel Nina gerade auf. „Heißt das, dass die Freunde...?"

Wieder nahm der Doktor einem anderen die Worte aus dem Mund: „... vermutlich auch zu ihnen gehören, jap. Sieht ganz danach aus."

„Was machen wir dann noch hier?", fragte Nina direkt. „Ich meine, ist jetzt nicht alles aufgeklärt? Warum die Erwachsenen sie zur Erde bringen ist jetzt immer noch unklar, aber alles kann man auch nicht wissen."

Da erhob sich der Doktor. Mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen und einem musternden Blick ging er mit den Händen in den Hosentaschen langsam auf sie zu. „Was ist?", wollte Nina überrascht wissen. Am Blick des Time Lords veränderte sich nichts: „Sind Sie müde?" Er stand nun vor ihr.

„Was fragen Sie das denn jetzt? Nun ja, ein bisschen schon, ja, hatte schließlich kaum Schlaf..." Ihre Stimme wurde immer leiser, als sie seine Augen sah. Inzwischen konnte sie seinen Blick grob einordnen; es steckte mehr hinter diesen Worten, als sie zuerst angenommen hatte. Nina schluckte: „Wieso fragen Sie?" Denn Sie hatte begriffen: Er fragte sie, ob sie des Reisens und der Abenteuer müde war.

Der Doktor antwortete nicht sofort und sie verstand. Er fragte sie nicht, weil er sie leid, sondern weil sie neu war. Er kannte sie kaum und sie ihn genauso wenig. Sie hatte ihre Worte unglücklich gewählt und er wusste nicht, wie viel Wahrheit dahinter steckte. Er wollte niemanden zwingen, mit ihm zu reisen, schließlich war er mehr oder weniger verantwortlich für seine Begleiter. Nina lächelte, als ihr das bewusst wurde: „Nein, Doktor, ich bin nicht müde. Ich bin gerade erst aufgewacht."

Da zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Erleichterung war in seinen Augen zu erkennen: „Das ist sehr schön. Zurück zu Ihrer Frage: Ich glaube, Joseph kann das besser beantworten."

Sie drehte sich abwartend zu dem Dichter. Er schaute zwischen den beiden hin und her, wirkte irgendwie fasziniert, doch dann antwortete er: „Sie brauchen unsere Hilfe, vermutlich haben sie sogar Angst. Schließlich sind es nur Kinder, die nicht wissen, was sie tun sollen."

„Und weswegen brauchen sie unsere Hilfe?", hakte sie weiter nach.

Joseph zögerte. Seine Augen wanderte Hilfe suchend zum Doktor. Nina folgte seinem Blick. „Das wissen Sie doch", munterte dieser ihn auf. „Immerhin sind es Ihre Worte." Sobald er das sagte, versuchte Nina, das Gedicht im Kopf durchzugehen, doch sie hatte es bis jetzt erst einmal richtig gelesen.

„Sie wollen nach Hause", kam es von Joseph. „In ihrem Unterbewusstsein wissen Sie, dass sie nicht hierher gehören. Einige aber haben sich an die Menschen gewöhnt und finden dieses Leben gar nicht so schlecht. Sie wollen nicht zurück... in den Himmel." Es schien ihn einiges an Überwindung zu kosten, diese Worte auszusprechen. „Aber das war mein Traum, das ist ein Gedicht! Auch wenn einige meiner Träume wahr sind, hier jedes Wort für bare Münze zu nehmen..."

„Wieso denn nicht?", machte der Doktor die Gegenfrage. „Sie haben einen Spielmann aus Ihren Träumen getroffen. Sie haben Nina kennengelernt, lange bevor Sie sie zum ersten Mal gesehen haben. Sie stehen um Viertel vor Eins morgens mitten auf der Straße und reden mit einem Lord der Zeit. Warum sollte es keine Engel geben, die von Störchen entführt worden sind?" Seine Stimme war nicht hart oder provokativ. Sie war locker, lässig, als hätte er schon oft solche Sachen sagen müssen. Bei 903 Jahren war das wahrscheinlich auch so.

„Ist das wahr?", wollte Joseph sich vergewissern, aber nicht beim Doktor, sondern bei Nina. „Kann das wirklich sein?"

Sie nickte und zuckte dabei gleichzeitig mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich kenne ihn auch noch nicht lange."

Der Doktor verdrehte die Augen. Diese Worte hatten seinen Auftritt ruiniert. „Danke auch", kam es sarkastisch von ihm.

Nina ignorierte ihn beflissen und redete weiter auf ihren neuen Freund ein: „Eigentlich weiß ich auch nicht viel über ihn. Aber gestern wollten Riesenschnecken meine Heimatstadt mit Zucker in die Luft sprengen und ich habe dem Doktor geholfen, das irgendwie zu verhindern. Ich glaube ihm, was er sagt." Auf dem erst noch vorwurfsvollen Gesicht des Doktors zeichnete sich ein Lächeln ab.

Joseph atmete tief ein und wieder aus. „Also gut."

Die drei hörten auf einmal ein Quietschen hinter sich. Als sie sich umdrehten, sahen sie, dass die Tür geöffnet worden war. Der blonde, blauäugige Karl stand im Rahmen, hinter ihm sein noch sehr verschlafener (und etwas dicklicherer Bruder) Otto. „Sie können uns wirklich helfen?"

Der Doktor grinste. „Natürlich, haben wir doch gesagt."

Zögerlich öffnete Karl die Tür. Sein Bruder, genauso bezaubernd wie Karl selbst, schien allmählich wacher zu werden. „Karl, wer sind die?", flüsterte Otto seinem Bruder so laut zu, dass ihn jeder problemlos hören konnte.

„Sie wollen uns helfen", antwortete dieser. „Sie meinen, sie können das."

Letztendlich kamen die Jungen nach draußen, nachdem sie geschworen hatten, dass ihnen nicht zu kalt war. Einige Meter vom Haus entfernt gab es eine Bank, auf die sich die zwei Jungen und Joseph setzten, während Nina und der Doktor standen. Der Halbmond und die Straßenlaternen beleuchteten die leere Stadt. Es war ein großer Kontrast zum Tag. Während dort Nina wirklich gemerkt hat, dass sie sich im 19. Jahrhundert befand, könnte sie jetzt genauso gut sich im Jahr 2008 in einem der älteren Dörfer oder Städte Englands befinden.

„Was ist, wenn eure Eltern wieder nach euch schauen?", wollte Joseph an die Jungen gewandt wissen.

„Das werden sie nicht", versicherte Karl ihm. „Wenn überhaupt schauen sie einmal pro Nacht nach uns." Joseph war trotzdem nicht ganz überzeugt, doch der Doktor hatte andere Probleme. „Gut, wir sollten uns vielleicht mal vorstellen. Ich bin der Doktor, das ist meine Begleiterin Nina und das unser Freund Joseph. Ihn kennt ihr vielleicht, er wohnt auch in Danzig."

„Ich bin Karl", stellte dieser sich noch einmal richtig vor und legte seine Hand auf die Brust, die er dann sogleich auf die Schulter seines Bruders legte. „Und das ist Otto. Wir sind acht Jahre alt." Dieser war immer noch leicht verängstigt und versteckte sich halb hinter seinem Bruder und lugte nur vorsichtig hervor.

„Seid ihr Zwillinge?", fragte Nina überrascht nach und Karl nickte. „Otto und ich sind am gleichen Tag geboren. Johann und Heinrich auch."

„Sind das auch Zwillinge?", erkundigte der Doktor sich, doch daraufhin schüttelte Karl den Kopf. „Okay...", murmelte der Doktor nur und fing dann mit der eigentliche Sache an: „Ihr habt gesagt, dass ihr immer mal wieder ein paar Sekunden vergesst."

Karl nickte eifrig. „Ja. Einmal zum Beispiel war das beim Essen: Ich wollte gerade die Erbsen essen und in der nächsten Sekunde waren sie bereits alle weg. Mutter und Vater haben gesagt, dass ich sie gegessen habe."

Die Augenbrauen des Doktors zogen sich etwas zusammen. „Ach ja? Seit wann ist das?"

Karl dachte nach: „Seit wir denken können eigentlich." Der Doktor begann aufgeregt auf und ab zu laufen. „Ist das bei euren Freunden das gleiche?"

„Ja, aber inzwischen immer weniger. Bei Johann inzwischen gar nicht mehr, eigentlich." Auf einmal schwang etwas wie Trauer in der Stimme des Jungen mit. „Schade, wir hatten uns alles so schön überlegt."

Bei diesen Worten blieb der Doktor abrupt stehen. „Was hattet ihr euch überlegt?"

Karl öffnete den Mund, doch Otto zupfte an seinem Ärmel. „Pssst! Du darfst ihnen nichts sagen!" Seine blauen Augen huschten vom Doktor über Nina zu Joseph und wieder zurück. „Wir haben versprochen, Erwachsenen nichts zu sagen, sonst erlauben sie es einem nicht."

„Was habt ihr vor?", fragte nun auch Nina neugierig nach, doch auch Misstrauen war dabei.

Karl zögert und schüttelte schließlich den Kopf, als ihn der eindringliche Blick seines Bruders durchbohrte. Der Doktor seufzte leise und ging vor den beiden Jungen in die Hocke, sodass sie zu ihm runterschauen müssen: „Hört mal, ich will euch wirklich helfen. Ich weiß, dass ihr ein Problem habt. Aber wenn ihr uns nicht alles sagt, dann kann ich auch nicht viel machen." Seine Stimme war sehr fordernd, fast schon ein Befehl.

Fast schon zu scharf. Seine Worte bezweckten nur, dass die Jungen näher zusammenrückten. Nina fiel auf, dass Karl Otto mehr hinter sich schob. Während Otto eher verängstigt blickte, lag in Karls Augen mehr Feuer. Auch wenn sie gleich alt waren, hatten sich die Rollen des Beschützers und des zu Beschützenden bei den beiden verteilt. Der Doktor bemerkte, dass er zu weit gegangen war. Sein Blick wurde weicher und er richtete sich wieder auf.

„Ihr wollt auf Reisen gehen, nicht wahr?", kam es von Joseph mit sanfter Stimme. Alle wandten den Blick zu ihm. Er schaute zu Boden und lächelte glückselig. Seine Augen verrieten, dass er in Gedanken woanders war. „Ihr seid hier großgeworden, habt Freunde gefunden, Freud und Leid erlitten, doch hier könnt ihr nicht bleiben. Das ist nicht der Ort, wo ihr hingehört. Eure Familie wohnt hier, doch ihr wollt weg, habt nur ein Ziel vor Augen." Da wandte er seinen Kopf zu den beiden Jungen neben sich, die ihn mit großen Augen anschauten: „Nach Hause zu kommen."

Es dauerte einige Momente, ehe die Antwort kam: „Woher wissen Sie das?" Es war Otto, der gesprochen hatte, nicht Karl.

„Weil ich euch kenne", war Josephs Antwort. Seine Augen... Sie hatten diesen besonderen Glanz, den Nina öfters in den Augen erwachsener Menschen sah. Es war die Freude, die Kinder einem bereiten konnten, die in seinen Augen schimmerten. Eine Freude, die man erst vollkommen begreifen und erfahren konnte, wenn man selber Kinder hatte, so meinte es Nina zumindest, denn sie selber findet Kinder manchmal ganz goldig, aber das war es schon. Sie war beeindruckt, wie viel Liebe alleine durch ein Blick vermittelt werden konnte. Kinder nahmen diese Art der Zuneigung einfach hin, verstanden nicht einmal wirklich, dass dieser Blick schwinden würde im Laufe der Jahre und ehe man es sich versah, war er weg.

„Woher kennen Sie uns?", wollte Karl halb neugierig, halb misstrauisch wissen.

„Das ist schwer zu erklären", seufzte Joseph. „Ich kenne euch, wie ich jeden hier kenne, besser, als euch vermutlich lieb ist." Sein Lächeln wurde etwas breiter. „Die Engelchen..." Er richtete seinen Blick auf Nina. „... die Tänzerin..." Zum Schluss fanden seine Augen das Gesicht des Doktors. Joseph zögerte: „... und... ihn." Man merkte, dass der Doktor zu gerne nachgefragt hätte, doch momentan ging es um Wichtigeres. Nina schaute den Time Lord an. Während Joseph diese Worte gesagt hatte, hatte sich ein Gefühl in ihr breit gemacht, das ihr sehr gefiel. Sie fühlte sich... besonders. Auf eine gewisse Art individuell. Sie alle waren in irgendwelchen Zukunftsversionen vorgekommen, hatten dort eine eigene Geschichte... und dann war da der Doktor, der es schaffte, noch besonderer und individueller als alle anderen zu werden. Es war keine Eifersucht, die sie verspürte. Es war Respekt und gleichzeitig wieder ein wunderbares Gefühl, was sie durchströmte, schließlich hatte sie das Privileg mit dem Besondersten unter den Besonderen zu reisen.

„Ja, es stimmt", bestätigte Karl nach einigen Momenten schließlich. „Wir wollen weg. Eigentlich hatten wir zu viert geplant, irgendwann wegzulaufen, doch Johann und Heinrich haben kalte Füße bekommen. Sie wollen nicht mehr weg, es gefällt ihnen hier zu sehr."

„Wie im Gedicht", hauchte Nina. „Einige wollen weg, einige haben sich an das Leben gewöhnt."

Otto hörte diese Worte: „Was für ein Gedicht?"

„Mein Gedicht", antwortete Joseph und er lächelte mit funkelnden Augen. „Ich sagte doch, dass ich euch kenne. Jemand hat mir eure Geschichte erzählt und ich fand sie so eindrucksvoll, dass ich sie aufgeschrieben habe."

„Aber wir haben das niemanden erzählt", teilte Otto ihnen verwundert mit. „Na ja, außer den Glühwürmchen", erinnerte Karl ihn. „Stimmt", murmelte sein Bruder daraufhin.

„Was für Glühwürmchen?", fragte der Doktor schnell nach.

„Es gibt da einen Ort, an den wir gerne hingehen", erzählte Karl und eine Mischung aus Aufregung und Stolz schwankte in seiner Stimme mit. „Manchmal sind dort Glühwürmchen. Da wir sonst niemanden haben, mit dem wir richtig reden können, erzählen wir den Glühwürmchen oft, was so passiert ist."

Der Doktor öffnete den Mund, doch aus Nina platzte es heraus, ehe er nur einen Ton sagen konnte: „Was ist mit euren Eltern? Wieso redet ihr nicht mit ihnen?"

„Mutter und Vater haben wir gerne", antwortete Otto, „aber manchmal sind sie komisch. Wenn wir diese Aussetzer haben sind sie die Einzigen, die sagen, dass wir nichts gesagt haben. Außerdem werden sie immer ganz seltsam, wenn wir Störche sehen. Sie wollen dann immer woanders hin." Bei diesen Worten blickten Joseph und Nina zum Doktor, der weiterhin auf die Jungen starrte. Alle drei hatten begriffen.

„Was meint ihr damit, dass eure Eltern die Einzigen sind, die sagen, dass ihr bei euren Gedächtnisaussetzern nichts sagt?", wandte Joseph sich wieder an die Brüder.

„Unsere Freunde sagen immer, dass wir vor uns hinbrabbeln, wenn wir nicht mehr wissen, was passiert ist", erklärte Otto nüchtern. „Irgendwas von ‚Zuhause'. Macht eigentlich auch Sinn, oder? Wenn wir eigentlich von hier weg wollen."

„Ja, macht Sinn...", bestätigte der Doktor murmelnd. „Eine Sache noch, bevor ich euch bitte, mir den Ort zu zeigen, wo ihr immer die Glühwürmchen trefft. Was sagen euch folgende Sätze?

Im Frühling auf grünem Hügel

Da saßen viel Engelein..."

Wie aus der Pistole geschossen beteten die Zwillinge runter:

...

Die putzten sich ihre Flügel

Und spielten im Sonnenschein

Da kamen Störche gezogen,

Und jeder sich eines nahm,

Und ist damit fortgeflogen,

Bis daß er zu Menschen kam."

Dieses Mal blieb diese unheimliche Trance aber glücklicherweise aus. Otto strahlte begeistert. „Wir kennen das ganze Gedicht auswendig!"

„Woher kennt ihr es?", wollte Joseph erschlagen wissen.

„Die Glühwürmchen haben es uns erzählt", antworteten beide im Chor, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

„Gut", meinte der Doktor aufgeräumt. „Wo trefft ihr denn diese Glühwürmchen normalerweise?"

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