Kassandras Erbe: Teil IV
„Wer weiß", gab der Doktor lächelnd zu. „Vielleicht sollte ich wirklich öfters sonntags landen."
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„Ich werde nie wieder sonntags landen! Sonntage sind schrecklich!" Schlecht gelaunt verschränkte der Doktor seine Arme vor der Brust.
„Hmm", brummte Nina zustimmend.
Die beiden befanden sich im Wohnzimmer. Draußen war es schon seit einer Stunde dunkel. Luise hatte drauf bestanden, dass die beiden über Nacht blieben, im Laufe des Tages hatte der Doktor dummerweise die Bemerkung fallen lassen, dass sie kein Geld besaßen, woraufhin Joseph gedacht hatte, dass sie unter der Brücke oder sonst wo nächtigen mussten, also schliefen sie bei den von Eichendorffs.
Den ganzen Tag waren der Doktor, Nina und Joseph durch die Straßen Danzigs gerannt und hatten nach etwas gesucht, von dem sie nicht einmal genau wussten, was es war. Der Doktor hatte die (seiner Meinung nach) wichtigsten Stellen des Gedichtes vorgelesen, immer wieder. Er suchte Indizien, irgendwo zwischen den Zeilen. Im Grunde hatte Joseph von Engeln geschrieben, die miteinander gespielt hatten, bis Störche gekommen waren und sie mitgenommen hatten. Schließlich waren sie zu irgendwelchen Menschen gebracht worden, die sich über die Engel sehr gefreut hatten. Von diesen gab es dann einige, die dieses neue Leben, in das sie gebracht worden waren und in dem sie verwöhnt wurden, gar nicht schlecht fanden; sie brauchten ihre Flügel gar nicht mehr. Dann aber waren da auch einige Engel, die wussten, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchte wieder in den Himmel zu entfliehen, dorthin, woher sie kamen, doch sie schafften es nicht. Diese letztere Gruppe, meinte der Doktor, waren diejenigen, die Joseph um Hilfe ersucht hatten.
Er hatte im Laufe des Tages viele Vermutungen gehabt, die er gleich hatte wieder fallen lassen, manche früher, manche später. Nina und Joseph hatten nicht einmal die Hälfte seiner Theorien verstanden. Einmal zum Beispiel sprach er über irgendwelche Engel aus Stein; ein anderes Mal über Gestaltenwandler. Kurz gesagt hatte er auch keine Ahnung.
Einen Ansatzpunkt hatten die drei aber gehabt: Die blonden Jungen mit den blauen Augen. Die schienen irgendetwas zu wissen, höchstwahrscheinlich sogar involviert zu sein. Dumm war nur, dass sie den ganzen Tag lang keinen der beiden Jungen gefunden hatten. Sie hatten auch in Erwägung gezogen, dass es mehrere solcher Kinder gab (wie auch immer man sie kategorisieren konnte... Jungen, die plötzlich Verse eines Dichters aufsagten?) Nicht, dass es in Danzig keine blonden, blauäugigen Jungen gab, sie waren nur allesamt normal, was der Doktor nach einem kurzen Scan mit seinem Schallschraubenzieher (was ausnahmslos jeden der Kinder und Eltern erschreckt hatte) herausgefunden hatte. Wahlweise hatte er auch ebendiese zwei Verse aufgesagt, die die merkwürdigen Kinder am Morgen gesprochen hatten, und nachgefragt, ob die irgendwie bekannt waren. Wenn er mal eine vernünftige Antwort bekommen hatte, war es ein Nein gewesen. Er war wirklich frustrierend.
Und für Nina war es auch ermüdend. Sie war seit mindestens 24 Stunden auf den Beinen und in dieser Zeit hatte sie nicht gerade wenig gemacht. Bei dem Doktor musste man viel rennen, das war ihr jetzt endgültig klar. Nun lag sie also auf dem Sofa und war kurz vor dem Einschlafen, während der Doktor ihr gegenüber auf einem Stuhl saß. Er blickte aus dem Fenster, von dem aus man sogar einen Teil des Sternenhimmels sehen konnte.
Nina wusste nicht, was in seinem Kopf vorging. Vielleicht rätselte er noch über das Gedicht ‚Von Engeln und Bengeln', vielleicht dachte er an etwas ganz anderes. Auch wenn sie müde war, konnte sie nicht sofort einschlafen. In ihrem Kopf arbeitete es immer noch, obwohl sie nicht wusste, ob es zu irgendeinem sinnvollen Ende kommen würde.
Dieser Sonntag war zwar deprimierend gewesen und Nina würde diese Tage in Zukunft ebenfalls lieber meiden, wenn sie denn immer so in der Art aussehen würden, aber sie hatte Joseph von Eichendorff kennengelernt. Selbst wenn sie bis vor einigen Stunden diesen Namen noch nie gehört hatte, fühlte sie sich auf eine gewisse Art besonders. Für den Doktor war das nichts Neues, er konnte täglich alle möglichen Persönlichkeiten treffen. Für Nina jedoch war es etwas Unglaubliches.
„Es ist seltsam", meinte der Doktor plötzlich. Seine Stimme war ruhig im Gegensatz zu vorhin, als er sich noch über den Wochentag beschwert hatte. Nina hob ihren Kopf leicht an und sah, wie er immer noch aus das Fenster in den Himmel starrte. Aber er war nicht wirklich hier, nicht geistig. Sein Blick verriet, dass er weit oben in den Sternen kreiste, wie er es nun mal so tat.
„Was?", fragte sie nach.
Kaum merklich zuckte er zusammen, seine Augen huschten zu ihr. „Ich dachte, Sie schlafen schon."
„Mit wem haben Sie dann geredet?"
„Mit mir", war die knappe Antwort auf ihre Frage, während sein Blick wieder zum Fenster glitt. „Das mache ich häufiger. In letzter Zeit war ich alleine, da kommt das häufiger vor. So ganz habe ich mir das nicht wieder abgewöhnt."
‚In letzter Zeit'... Hieß das, dass er zuvor nicht alleine gewesen war? Dass Nina nicht die erste war? Aus irgendeinem Grund störte sie dieser Gedanke. Um sich davon abzulenken, stützte sie sich seitwärts auf ihren rechten Ellenbogen. „Also, was ist seltsam?" Der Doktor ließ sich etwas Zeit mit der Antwort. „Nicht zu wissen, was vor sich geht. Ich mag es nicht, nichts zu wissen. Nicht einmal einen Anhaltspunkt zu haben."
Sie lachte auf. „So geht's den meisten Schülern, wenn sie einen Test vor sich liegen sehen. Zumindest Menschenschülern. Ist das bei Time Lords auch so? Waren Sie überhaupt in der Schule?"
Der Doktor erwiderte nichts. Er schien wieder seinen Gedanken nachzuhängen. Während Nina seinen grübelnden, irgendwie bedrückten Blick sah, hatte sie den starken Verdacht, dass er nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte, doch sie hakte diesbezüglich nicht weiter nach. Seine Augen beschäftigten sie irgendwie. War das sein wahres Gesicht? So in sich gekehrt und melancholisch und... alt? Aus irgendeinem Grund machte Nina dieses Gesicht traurig.
Sie verspürte das Verlangen, den Doktor abzulenken und diese Miene verschwinden zu lassen. Unbeabsichtigt auffällig ließ sie sich auf den Rücken zurückplumpsen. „Also, wenn nichts wissen Ihre größte Sorge ist..."
„Was meinen Sie damit?"
„Ich werde in 165 Jahren geboren. Das muss ich verarbeiten", erklärte sie mit einer Stimme, als ob es das Offensichtlichste der Welt wäre.
„Zeitreisen, da gewöhnt man sich dran", meinte der Doktor nur dazu und machte eine abwinkende Handbewegung.
„Ja, ich weiß, so etwas Ähnliches haben Sie schon mal gesagt", seufzte sie. „Das ist ja auch noch nicht alles." Sie drehte ihren Kopf zu ihm. „Ich finde es viel erschreckender einen Mann zu treffen, der vor 200 Jahren gelebt hat und mich zu kennen scheint."
„Joseph hat von Ihnen nur geträumt", schwächte er ihre Worte. „Er hat Sie ja nicht wirklich gesehen."
„Trotzdem!", protestierte sie. „Man reist in die Vergangenheit, 200 Jahre vor seiner eigenen Zeit, und trifft jemanden aus dieser Zeit, der sagt: ‚Hey, ich kenne Sie doch!'. Das ist gruselig." Abermals seufzte sie. „Irgendwie erinnert mich Joseph an Kassandra aus der griechischen Mythologie. Sie wissen schon, die mit Troja."
„Ah ja, Cassy!", erinnerte der Doktor sich freudig zurück. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass er ein positives Gefühl zeigte. „Obwohl ich zugeben muss, dass das damals was Anderes war."
„Cassy?!", wiederholte Nina ungläubig.
Er redete weiter, ohne auf ihren Einwurf einzugehen: „Sie musste sagen, dass sie geträumt hat, wie ihre Stadt untergehen wird. Wenn sie erzählt hätte, dass sie durch die Zeit gereist ist und die trojanische Zukunft gesehen hat, hätte man sie für verrückt gehalten. Okay, man hat sie für verrückt gehalten, aber dafür kann ich nichts... Na ja, zumindest nicht, wenn..."
„Moment mal!", unterbrach Nina ihn. „Kassandra hat es wirklich gegeben? Und dann waren Sie der Grund, warum sie Trojas Untergang vorhersehen konnte...?" Der Doktor nickte grinsend.
Nina blieb nur noch eine Frage im Kopf: „Cassy?!" Daraufhin gluckste er einfach belustigt.
Es war für eine Weile still, in der Nina auf die Decke und der Doktor aus dem Fenster stierte. Man hörte nur das Ticken der Uhr in diesem Zimmer.
„Sie kannten mich auch", bezog sich Nina schließlich mit ruhiger, fast vorsichtiger Stimme, auf die Tatsache, dass Joseph sie bei ihrer ersten Begegnung erkannt hatte. „Als wir uns das erste Mal getroffen haben."
Verwundert zog er die Augenbrauen zusammen und schaute sie an. „Das stimmt doch gar nicht!"
„Sie haben meinen Namen gesagt", erklärte sie nüchtern. Der Doktor verstummte.
Das blieb für Nina nicht unbemerkt. Wieder drehte sie ihren Kopf zu ihm. „Woher kennen Sie meinen Namen?"
Er antwortete nicht sofort. Lange schauten sich die beiden in die Augen, aber es war kein fordernder Starrwettkampf, nicht einmal ansatzweise unangenehm. Es war gerade nun mal so; sie wartete auf eine Antwort, während er sich eine überlegte. „Jemand hat ihn mir mal gesagt", sagte er schließlich. Seine Worte waren mit Bedacht gewählt.
„Wer?", drängte sie weiter.
„Der Name sagt Ihnen vermutlich nichts", lenkte er ab.
„Wer?!", wiederholte sie deutlich nachdrücklicher.
Wieder herrschten einige Sekunden der Stille im Raum. „Sie sollten schlafen, Nina." Die Stimme des Doktors war ruhig, aber sehr bestimmt. Das Thema war damit für den Augenblick abgeschlossen und das konnte kein Protest ändern.
Nina entspannte sich von der leicht verkrampften Haltung, die sie während des kurzen Wortwechsels eingenommen hatte. „Und Sie? Wo schlafen Sie eigentlich?", wechselte sie sich geschlagen gebend das Thema.
„Oh, ich schlafe nicht." Sachte schüttelte der Doktor den Kopf, den er zeitgleich an die Wand hinter sich lehnte. „Time Lords brauchen keinen Schlaf. Zumindest nicht so viel wie Menschen." Auf einmal fiel Nina wieder auf, wie müde sie eigentlich war. Ehe sie sich dem Schlummern hingab, murmelte sie noch: „Na dann..."
Nina träumte unruhig. Anfangs war es noch ganz schön; sie tanzte mal wieder, was sie für ihren Geschmack schon zu lange nicht mehr gemacht hatte (abgesehen von dem bisschen Rumgehopse bei ihr Zuhause, wenn mal ein schwungvolles Lied im Radio lief). Dann fing es sogar an zu regnen... nein, zu schneien. Aber es war kein normaler Schnee, der von diesem undefinierbaren Himmel fiel, es waren schimmernde Lichter. Es sah wunderschön aus.
Doch dann änderte sich der Traum. Plötzlich stieß sie gegen etwas Unsichtbares. Verwirrt tastete sie sich an einer Wand entlang. Sie war glatt und kalt und schien kein Ende zu haben. Als Nina sehen wollte, ob sich etwas hinter der unsichtbaren Wand befand, erschrak sie, als sich beim Vorbeugen ihr Spiegelbild bildete. Die Wand war nicht unsichtbar, sie bestand einfach aus Glas. Die Angst schlich sich in Ninas Glieder. Sie tastete sich weiter an der Wand entlang, immer schneller und schneller und schneller und schneller. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ihr klar wurde, dass sie im Kreis rannte: Sie war eingesperrt in einer Kugel aus Glas. Das einzige, was abgesehen von ihr noch da war, war der Lichterschnee. Sie war alleine.
Von dieser Erkenntnis heftig zusammenzuckend schlug Nina die Augen auf. Wie es bei vielen Träumen nun mal üblich war, vergaß sie kaum eine Sekunde später, was sie soeben im Schlaf erlebt hatte, zurück blieb nur das zittrige Gefühl, nachdem man einen Albtraum gehabt hatte.
Sie schaute auf die Uhr, die so laut tickte, dass sie sich fragte, wie sie bei diesem Lärm überhaupt hatte einschlafen können. Fünf vor Zwölf. Draußen war es noch dunkel, woraus sie schloss, dass sie gerade mal drei Stunden Schlaf gehabt hatte. Eine Sekunde später fiel ihr auf, dass sie alleine im Zimmer war. Der Doktor war weg.
Auch wenn sie gähnte, stand sie auf. Ihre Müdigkeit schwand schnell. Anscheinend war sie immer noch aufgeregt von der Tatsache, dass sie 200 Jahre in die Vergangenheit gereist war. Ihr Blick fiel auf den Tisch, an dem Joseph und sie vor einigen Stunden gesessen und sich unterhalten hatten. Dort lagen drei Blätter. Als sie näher hinging, stellte sie fest, dass auf diesen das Gedicht ‚Von Engeln und Bengeln' niedergeschrieben worden war. Sie nahm sie in die Hand und fing an zu lesen.
Während sie so Strophe für Strophe durchging, stellte sie fest, dass sie noch nie das vollständige Gedicht gehört hatte. Der Doktor hatte immer nur ein paar bestimmte Zeilen vorgelesen. Sowieso hatte er den ganzen Tag über mehr mit sich selber geredet und die Einwände von Nina und Joseph kaum beachtet (was aber nicht weiter schlimm gewesen war, es waren nicht einmal halbherzige Vermutungen gewesen). Aber laut seinen eigenen Worten redete der Doktor öfters mit sich selber, wenn er für eine Zeit lang alleine gewesen war, nicht?
Auf einmal hörte Nina ein dumpfes Geräusch, gefolgt von einem halblauten Fluchen. Nach dem ersten kurzen Schock stellte sie fest, dass die Geräusche aus Josephs Arbeitszimmer kamen. Dort brannte Licht und das nur schwach.
Nina sprangen sofort die losen Blätter ins Auge, die überall im Raum verteilt waren. Die Ursache der Geräusche war erst beim zweiten Hingucken auszumachen. Der Doktor kam unter dem Schreibtisch hervorgekrochen und richtete sich mit einer Hand am Hinterkopf auf. Offensichtlich hatte er die Breite der Tischplatte unterschätzt und sich den Kopf gestoßen. „Alles in Ordnung?", fragte Nina nach.
Der Doktor drehte sich zu ihr um, die Hand blieb am Hinterkopf. „Verdammt, das war hart!" Vorsichtig betastete er die schmerzende Stelle.
„Was machen Sie da?", fragte sie nach und beachtete des Doktors kurzweilige Leid nicht weiter. Mit einer halbherzigen Handbewegung deutete sie auf das Wirrwarr aus Blättern.
„Recherchieren", war seine Antwort. In seiner Stimme war plötzlich wieder Eifer herauszuhören.
Nina runzelte die Stirn. „Erfolgreich?" Es war eine provozierende Fangfrage.
Der Doktor bemerkte das. „Hey, machen Sie sich nicht über mich lustig! Sie wissen gar nicht, wie sehr ich für diese Aufgabe schon gelitten habe!"
„Sie meinen die kleine Beule an Ihrem Hinterkopf?" Auf Ninas Gesicht schlich sich ein neckisches Grinsen, was sie nicht zurückhalten konnte.
Sofort fuhr die Hand des Doktors wieder zu der Stelle, die er sich geradeeben angestoßen hatte. „Wirklich? Man sieht schon eine Beule?"
Nina antwortete nicht. Sie musste lachen.
Den Witz erkennend ließ der Doktor mit rollenden Augen seinen Arm sinken. „Warum sind Sie eigentlich wach?", wechselte er das Thema.
„Bin aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen", erklärte sie immer noch glucksend.
Der Doktor setzte bereits wieder seine Arbeit fort und wühlte in den Blättern am Boden herum. „Wohl schlecht geträumt?"
„Hm, glaub schon", antwortete sie eher beiläufig. „Also, was genau machen Sie da?"
„Ich suche nach einer Verbindung zwischen Josephs Gedichten und den Jungen, im weiteren Sinne zwischen ‚Von Engeln und Bengeln' und eben den anderen Gedichten."
„Meinen Sie, da lässt sich etwas finden?"
„Vielleicht. Deswegen analysiere ich ja gerade." Er drehte sich in der Hocke mit einem Blick zu Nina um, der eindeutig anzweifelte, wie jemand so eine blöde Frage stellen konnte.
Gereizt verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Und? Schon was gefunden?"
Ehe der Doktor antworten konnte, erschien ein sehr verschlafener Joseph in Schlafrock bei den beiden. „Was ist denn hier für ein Krach?" Dann sah er sein Arbeitszimmer und sein Mund klappte auf.
„Der Doktor denkt, dass ‚Von Engeln und Bengeln' das Schlüsselgedicht ist und sucht nun Verbindung zu anderen Werken von Ihnen." Nina, immer noch leicht beleidigt, hatte keine Zeit, sich großartig bei Joseph zu entschuldigen.
„Nein, ich denke es nicht, ich vermute es. Jetzt überprüfe ich, ob meine Vermutung stimmt", belehrte der Doktor sie ungeduldig und kramte weiter herum. Nur kurz sah er, wie erschlagen Joseph war und fügte hastig hinzu: „Entschuldigen Sie das Chaos, Nina und ich räumen das später wieder auf."
„Warum ich?! Sie waren das doch!", rief sie empört auf.
„Pssst! Sie wecken noch die Kinder!", zischte Joseph ihr energisch zu, doch sie beachtete das nicht.
„Nina, wenn man mit mir reist, gibt es ein paar unausgesprochene Regeln, aber Sie sind noch neu, deswegen mache ich eine Ausnahme. ‚Egal, was ich sage oder tue, mein Begleiter hängt da mit drin!', das ist die wichtigste Regel. Gleich nach: ‚Laufen Sie und bleiben Sie niemals stehen!', ‚Die Steuerkonsole der Tardis wird nur mit meiner Erlaubnis betätigt!' und ‚Keine Bücher in den Swimming Pool mitnehmen!', aber das ist jetzt nicht von Bedeutung."
„Sie haben einen Swimming Pool?", wiederholte Nina begeistert und doch spürte sie fast nebenbei einen kleinen Stich, als der Doktor abermals anschnitt, dass sie nicht die erste Person war, mit der er reiste. Wie lange war der Doktor wohl alleine unterwegs gewesen? Bei 903 Jahren schwer zu sagen, was ‚In letzter Zeit' bedeutete... Es könnte sich um Dekaden handeln!
Der Doktor antwortete, ohne etwas von Ninas Gedankengang mitzubekommen: „Ja, in der Bibliothek. Jetzt im Nachhinein war das vermutlich nicht der beste Ort..."
„Pssst, bitte!", herrschte Joseph die beiden raunend an. „Es ist mitten in der Nacht!"
Gleichzeitig blickten beide schuldbewusst: „'Tschuldigung."
„Was haben Sie da?", wollte der Doktor von Nina wissen und deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf die drei Blätter in ihren Händen.
„Ach, das", meinte sie, die schon wieder ganz vergessen hatte, dass sie ‚Von Engeln und Bengeln' in der Hand hielt. „Nur Josephs Gedicht..." Der Doktor wandte sich wieder ab, um sich weiter mit den anderen Gedichten zu beschäftigen.
Die Uhr im Ess- und Wohnzimmer schlug. Sie gab ein lautes Gong von sich.
„Was ist ein Adebar?", fragte Nina nach, als sie die Zeilen abermals überflog.
Gong.
Der Doktor blieb mitten in der Bewegung stehen, ohne, dass einer der anderen beiden dies bemerkte.
Gong.
„Sie kennen das Wort ‚Adebar' nicht?" Joseph war erstaunt. „Das ist einfach ein anderer Begriff für ‚Storch'."
Gong.
„Ac-..." Nina würde diese zwei kleinen Wörtchen, die bestätigten, dass sie verstanden hatte, nie aussprechen können.
„Was haben Sie da gerade gesagt?!" Mit einer blitzschnellen Bewegung fuhr der Doktor herum und blickte die beiden mit Augen an, die so vor Aufregung sprühten, dass man es fast schon mit Irrsinn verwechseln konnte.
Gong.
„‚Das ist einfach ein anderer Begriff für ‚Storch''?", wiederholte Joseph seine Worte.
„Nein, nein, nein!", wimmelte der Doktor energisch ab. „Davor. Dieses eine bestimmte Wort...!"
„Adebar?", versuchte Nina es mal.
Gong.
„Ja, genau das!" Der Doktor sprang auf vor Aufregung. „Woher haben Sie dieses Wort?"
„Na, es steht hier", meinte sie verwundert und hielt eines der drei Blätter hoch. „Ziemlich am Anfang des Gedichts. Sie haben's doch gelesen."
Gong.
„Lesen Sie mal vor!", drängte er sie, was sie auch sogleich tat:
„Und wo er anklopft' bescheiden
Der kluge Adebar,
Da war das Haus voller Freuden -
So geht es noch alle Jahr..."
Gong.
„Dort bringt der Storch die gestohlenen Engel zu den Menschen", erklärte Joseph seine selbstgeschriebenen Zeilen.
„Adebar!" Der Doktor schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Wieso habe ich da nicht dran gedacht? Wie dumm von mir." Mit einem Strahlen wandte er sich an Nina. „Ihre Frage war brillant!"
Gong.
„Ach ja? Wissen Sie jetzt, was los ist?", wollte sie wissen und hoffte darauf, dass der Doktor sich schon von selbst erklären würde, sie war nämlich kein Stück schlauer.
„Oh ja!" Er grinste breit. „Na ja, ich habe eine sehr naheliegende Vermutung. Mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit wird sie sich bestätigen."
Gong.
Da lächelte auch Nina breit und drehte ihren Kopf zu Joseph, der noch ahnungsloser zu sein schien als sie (und das sollte was heißen). „Hey, das klingt doch super!" Sie blickte wieder zum Doktor. „Sonntage sind doch nicht so mies!"
Gong.
Ein selbstzufriedenes Grinsen lag auf den Lippen des Doktors. „Ich muss Sie leider enttäuschen, Miss Featherstone..." Gong. Das zwölfte Mal. Ein neuer Tag war angebrochen. „... aber es ist Montag."
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