Kassandras Erbe: Teil II

„Ach so. Solange Sie sich um 50 Jahre und mehrere 100 Meilen verschätzen, ist alles kein Problem, aber sobald Sie an einem Sonntag landen, müssen wir uns Sorgen machen?" Er hörte auf zu suchen und schaute direkt zu ihr herab in ihre Augen. „Genau so ist es."

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Seit gefühlten Stunden liefen die beiden nun schon durch die Stadt. Während Nina sich bloß umschauen wollte, bestrahlte der Doktor alle zwei Yards seine Umgebung mit seinem Schallschraubenzieher und einem sehr konzentrierten Gesichtsausdruck. Sie fand das etwas lästig, weil sie ihn gerne einige Sachen gefragt hätte, zum Beispiel, was zu dieser Zeit so passiert war. Die Antworten waren nur sehr kurz ausgefallen. Letztendlich wusste sie aber, dass vor nicht ganz zehn Jahren die Befreiungskriege geendet hatten. Napoleon hatte große Teile Europas erobert, bis die Länder letztendlich ihre Freiheit wieder haben wollten.

Mehr Informationen hatte sie allerdings nicht erhalten. Wenn der Doktor zumindest wüsste, wonach er suchte...! Nina aber war etwas in den Kopf gekommen: All diese Menschen, die sie sah (was nicht viele waren, da sich die meisten in der Kirche befanden), lebten eigentlich gar nicht mehr. Zumindest nicht für sie. Und die ganzen Sachen, die ihre Zukunft, aber Ninas Vergangenheit waren. Auf eine seltsame Art fühlte sie sich in der Hinsicht überlegen. Wissen war wohl doch Macht, nicht? Jedoch bedrückte sie der Gedanke. Für sie war die Tatsache, dass jeder früher oder später sterben musste, momentan präsenter als jemals zuvor. Es war erschreckend.

Ob das für den Doktor auch galt? Er war 903 Jahre alt und sah aus wie dreißig. Waren Time Lords unsterblich oder alterte er nur sehr langsam? Aber sie wollte nicht fragen. Kurze, fast nichts sagende Antworten zu bekommen war frustrierend.

Aber nicht nur der Doktor geisterte in ihren Gedanken herum, sondern auch der komische Mann von vorhin. Es passierte ihr nicht alle Tage, dass sich jemand bei ihrem Anblick bekreuzigte. Ihre Ansätze, über dieses Thema zu reden, gelangen auch nicht wirklich.

Mit der Zeit wurde ihr sterbenslangweilig.

Irgendwann blieb sie plötzlich stehen. „Goethe und Schiller", meinte sie plötzlich.

„Was?", erwiderte der Doktor mit den Gedanken woanders und drehte sich zwar zu ihr um, suchte aber weiter mit dem Schallschraubenzieher die Luft ab. „Mir ist langweilig. Sie wollten mich doch vorhin zu Goethe und Schiller bringen. Jetzt will ich dahin."

„Aber jetzt geht nicht", widersprach er.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Vielleicht haben Sie es sich ja nur eingebildet. Es ist doch ganz normal mal an einem Sonntag zu landen, oder? Die Wahrscheinlichkeit steht in einer Woche immerhin bei eins zu sieben."

„Nein." Seine Augen richteten sich auf sie und er ließ seine Technologie sinken. „Hier stimmt irgendwas nicht. Es ist so ruhig."

„Ja, es ist ja auch Sonntag."

Lange und geräuschvoll seufzte er: „Ich hab meine Gründe, dass ich diese Tage meide."

„Dann können wir doch gehen."

„Ich..." Der Doktor wollte widersprechen, wurde aber unterbrochen. Ein Junge rannte lachend vorbei. Bezaubernd sah er aus mit seinen blauen Augen und den blonden Löckchen. „Du bist viel zu langsam!", gab er amüsiert von sich. Er sprach mit seinem Freund, der nicht hinterherkam. Beim zweiten Mal hingucken, war es wohl doch eher der Bruder. Er glich dem ersten Jungen, abgesehen von Größe und Breite, bis ins Haar. Dessen Antwort war nur ein erschöpftes Ächzen und Husten. Als dieser auf der Höhe des Doktors und seiner Begleiterin ankam, passierte etwas Seltsames. Beide Jungs erstarrten und standen stocksteif da. Kein Lachen, keine Erschöpfung; die Gesichter waren blank, als gehörten sie zu Puppen. Und das Unheimlichste war, dass ihre blauen Augen sich direkt in das Gesicht des Time Lords bohrten.

Da kamen Störche gezogen,
Und jeder sich eines nahm..."

Nina und der Doktor machten große Augen, als die zwei Jungen dies sprachen. Man hatte ihre kindlichen Stimmen herausgehört, doch es war, als hätten insgesamt noch mehr gesprochen. Manche klangen tief und mächtig, andere wieder hell und klar. Nina bekam eine Gänsehaut.

Dann tauten beide gleichzeitig wieder auf und liefen weg. Lachend und ächzend, als wäre nichts gewesen.

Der Doktor schaute ihnen mit besorgniserregendem Blick hinterher. „Wir können nicht weg", meinte er schließlich. „Ich glaube, jemand braucht uns."

„Ach ja? Sie meinen, es war 1822 nicht normal, dass Kinder sowas machen?" Nina runzelte die Stirn, als sie den vor Sarkasmus triefenden Satz aussprach. „Jetzt mal ernsthaft, dieses plötzliche Erstarren war ja schon seltsam, aber dann noch diese Stimmen...!"

„‚Störche'...", wiederholte der Doktor murmelnd. „Was haben sie damit gemeint?"

„Das sind Vögel", erklärte Nina nüchtern. „Haben sehr lange Beine und Schnäbel. Die haben früher immer die Babys gebracht, zumindest so lange, bis man eines Besseren belehrt worden ist."

„Genau!", rief der Doktor auf einmal und zeigte mit den Finger schnippend auf Nina. „Störche bringen Babys. Komische Redensart, aber sie stehen für etwas Gutes. Warum also nehmen sie sich dann etwas weg?"

Nina war sich nicht sicher, ob er ihr die Frage stellte oder sich selber. „Keine Ahnung", antwortete sie schließlich nach ein paar Sekunden der Stille.

Da grinste der Doktor. „Mir geht's genauso! Vielleicht sollte ich Sonntagen eine Chance geben."

„Das heißt...?" Sie zog die Vokale des zweiten Wortes besonders lang.

„Hinterher!", schmetterte er voll neuer Lebensfreude. Gemeinsam rannten sie los.

Weit kamen sie allerdings nicht. „Warten Sie!" Die dritte Stimme musste ein zweites Mal rufen, bis die beiden Rennenden verstanden, dass sie gemeint waren.

„Was?", entfuhr es dem Doktor erstaunt und er kam schlitternd zum Halt. Nina hatte das nicht kommen sehen und rannte geradewegs in ihn hinein. Sie hatte zu viel Schwung gehabt und der Doktor zu wenig Standhaftigkeit, sodass beide zu Boden purzelten.

„Verzeihung!" Das Lauterwerden der männlichen Stimme verriet ihnen, dass die Person, die sie gerufen hatte, sich näherte. Einige Spaziergänger oder andere Passanten beäugten das kleine Chaos, manche neugierig, manche kritisch.

Nina und den Doktor scherte es wenig. Sie lagen gerade ächzend am Boden. „'Tschuldigung", stöhnte die junge Frau auf.

„Schon in Ordnung. Nichts passiert", presste der Doktor als Antwort, während er seine Beine wieder ordnete und sich langsam aufrappelte. „Ich sollte mir angewöhnen, Bescheid zu sagen, wenn ich bremse."

„Das war nie meine Absicht!", entschuldigte sich die dritte Stimme abermals. Der Mann stand nun direkt bei den beiden. „Geht es Ihnen gut?", fragte er an Nina gewandt und hielt ihr, die sich erst in einer sitzenden Position befand, eine Hand hin. Dankend nahm die junge Frau an und ließ sich hochziehen.

Der Doktor stand bereits wieder und hustete. „Verdammt!", fluchte er, nachdem er sich umgeblickt hatte. Er hatte die Jungen aus den Augen verloren. Die drei standen in einer Straße mit kleineren Geschäften wie zum Beispiel einem (momentan geschlossenen) Friseursalon, von der sich einige kleine Seitengassen abzweigten. Besonders viel Treiben herrschte nicht (immerhin war Sonntag), dennoch waren die zwei Blondschöpfe spurlos verschwunden.

Nina zog ihre Hand wieder zurück, sobald sie auf den Beinen stand, und lächelte. Dann staunte sie. Es war der Mann von heute Morgen, der sich bei ihrem Anblick bekreuzigt und auf und davon gemacht hatte. Und jetzt stand er hier, nachdem er sie offensichtlich gesucht hatte, und wirkte sehr freundlich. Der Gottesdienst war wohl vorbei.

Seine braunen Augen trafen auf ihre und schienen mit einem Mal mehr zu sehen, als tatsächlich da war. Es wirkte fast so, als wäre er verzaubert worden. „Ähm, alles in Ordnung?", fragte Nina vorsichtshalber nach. Sein Blick änderte sich leicht; er war... glückselig.

Kastagnetten lustig schwingen
Seh ich dich, du zierlich Kind!
Mit der Locken schwarzen Ringen
Spielt der sommerlaue Wind..."

Solch schwierige Worte kamen so leicht über die Lippen des braunhaarigen Mannes, als kenne er sie schon seit Ewigkeiten. Und doch verwirrten sie Nina nur noch mehr. „Äh... Bitte?"

Da lachte der Mann plötzlich, nicht laut und polternd, eher zivilisiert, aber ehrlich. „Verzeihung! Sie erinnern mich nur an eine Figur aus einem meiner Gedichte."

„Ach ja?", meinte sie daraufhin mit großen Augen. Gerne würde sie ihn nach seinem Namen fragen, doch der Doktor hinderte sie daran, ehe Nina den Mund aufmachen konnte: „He, Sie!" Gereizt wandte er sich an den braunhaarigen Mann. „Ich hoffe doch für Sie, dass Sie einen guten Grund haben, uns aufzuhalten. Wir waren wichtigen Hinweisen auf der Spur."

„Sie beide?" Etwas verwirrt blickte er zu Nina. „Ja", sprach der Doktor für sie. „Sie arbeitet undercover."

Der Fremde guckte leicht verwirrt. „Entschuldigen Sie, aber was meinen Sie damit?"

Im Gesicht des Doktors bildete sich ebenfalls ein Fragezeichen. Was war das Problem des Braunhaarigen? Nina aber wusste es. ‚Undercover' war wortwörtlich übersetzt worden. Sogar sie hatte ‚unter Abdeckung' gehört.

„Ich arbeite versteckt", erklärte sie schnell und grinste, was aber nicht wirklich ehrlich aussah. Das Flunkern musste sie wohl noch üben. „Das ist dort, wo wir herkommen, eine Redensart."

„Ach so", verstand der Fremde. „Deswegen also die Verkleidung?"

„Welche Ver-..." Nina blickte an sich herunter und brach ab, als sie verstand, was er meinte. Verbittert presste sie die Zähne zusammen. „Ja, genau." Sie drehte ihren Kopf zum Doktor. „Das ist die Verkleidung." In das letzte Wort legte sie besonders viel Nachdruck. „Da werden die Menschen vielleicht etwas verwirrt gucken, aber das war's dann auch schon, nicht?" Der Doktor verstand die versteckte Nachricht, als sie seine Worte von vorhin zitierte, und zog nur mit Unschuldsmiene die Schultern hoch.

„Eine gelungene Tarnung!", lobte der Mann. „Es hat wirklich eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe, dass es sich um eine junge Dame handelt."

Nina griff das als Beleidigung auf: „He...!" Der Doktor aber legte, ohne hinzuschauen, ihr einen Zeigefinger an die Lippen, sodass er mit dem Fremden reden konnte. Den wütenden Blick seiner Begleiterin sah er gar nicht: „Also, weswegen sind Sie zu uns gekommen?"

„Ich wollte mich entschuldigen..."

„Ja, das machen Sie anscheinend öfter...", murmelte der Doktor leise dazwischen.

„... weil ich Sie vorhin so unhöflich behandelt habe." Mit diesen Worten wandte er sich an Nina, die immer noch nicht reden konnte. „Es war nie meine Absicht, Sie auf irgendeine Art zu beleidigen."

Da wandte auch der Doktor den Blick zu ihr und konnte an ihren Augen erkennen, dass der Fremde darin leider versagt hatte... mehrmals sogar. Da konnte der Time Lord sich ein Grinsen nicht unterdrücken. Als sich die Blicke der beiden kreuzten, schüttelte er sachte den Kopf, um ihr zu sagen, dass sie sich nicht aufregen solle. Dann senkte er seinen Arm wieder. „Na, wenn das Alles ist? Sie nimmt ihre Entschuldigung an. Jetzt müssten wir aber..."

„Nein, da ist noch etwas", unterbrach der Fremde den Doktor. Seine Augen lagen immer noch auf Nina, schienen sie nahezu zu durchdringen. Ihr war dieser Blick irgendwie unbehaglich.

Der Doktor öffnete seinen Mund. Erst hatte er protestieren wollen, doch jetzt wusste er nicht mehr genau, welche Worte er formen sollte. In seinem Kopf herrschte ein kleiner Kampf, die Neugierde, die Jungen zu finden, gegen die Neugierde, ein neues Problem aufgetischt zu bekommen. Letztendlich siegte die zweite Partei, als sich noch ein Funken Höflichkeit dazu mischte. „Also gut", ergab er sich schließlich. „Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen."

„Ja..." Der Fremde erwachte aus einer Art Trance. „Ja, natürlich. Wie unhöflich von mir." Er war wieder Herr seiner Sinne. „Mein Name ist Joseph von Eichendorff. Ich bin erst kürzlich zum katholischen Schul- und Kirchenrat zu Danzig ernannt worden."

Auf einmal wurden die Augen des Doktors groß. „Ei...Eichendorff?" In seinem Blick lag etwas wie Begeisterung. Er schaute zu Nina und war sichtlich enttäuscht, als sie nicht den gleichen Ausdruck hatte. „Ach, kommen Sie schon!"

Sie war verwirrt. „Was ist?" Mit gesenkter Stimme fügte sie hinzu: „Sollte ich ihn kennen?"

Unzufrieden zog der Doktor seine Augenbrauen zusammen. „Und so jemand nennt sich halb deutsch", brummte er, wie er es heute schon einmal getan hatte.

„Tut mir leid!", raunte sie zurück und verdrehte die Augen, was den Worten ihre ganze Bedeutung nahm.

„Na, egal." Mit lauterer Stimme und einem breiten Grinsen wandte er sich an den sogenannten Joseph von Eichendorff und hielt ihm eine Hand hin. „Hallo, ich bin der Doktor und bin Doktor. Und das ist meine Begleiterin, Nina Featherstone."

„Sehr erfreut." Eichendorff ergriff die Hand. Trotz seines Lächelns lag etwas Trauriges in seinem Blick. „Doktor sind Sie also? Dann sind Sie vermutlich genau das, was ich brauche."

„Wie meinen Sie das?"

„Nun ja... Wo soll ich anfangen?", fragte Joseph sich. „Seit ich denken kann, habe ich schon immer diese seltsamen Träume gehabt... Es sind keine Alpträume, teilweise ja nicht einmal schlimm. Mehr sind sie so... real."

Der Doktor zog die Augenbraue hoch und kratzte sich am Kopf. „Das ist Ihr Problem? Ihre Träume wirken real. Mein Freund, da sind Sie nicht der einzige Fall."

Joseph schüttelte den Kopf. „Nein, es ist mehr als das. Sie müssen wissen, ich bin Dichter, zumindest unter Anderem."

Gespielt interessiert weiteten sich die Augen des Doktors, während er die Hände die Hosentaschen verschwinden ließ. „Ach, wirklich?" Nina schaute ihren Begleiter etwas verunsichert an. Sie hatte immer noch keinen Schimmer, wer dieser Joseph von Eichendorff sein sollte. Aber allem Anschein nach war der Dichter. Unter Anderem. So, wie der Doktor reagiert hatte, war er vermutlich irgendjemand Bekanntes.

„Ja", setzte Joseph fort. „Ich dichte gerne, über alles Mögliche. Doch manchmal habe ich diese Träume, über die ich dann schreibe, weil sie mich so belasten."

„Und?"

Der Blick des Dichters war ganz ernst. „Und dann werden sie wahr." Jetzt war der Doktor aufmerksam. Vielleicht hatte es sich wirklich gelohnt, dem Mann des 19. Jahrhunderts zuzuhören. „Nicht alle", fügte dieser hinzu. „Aber einige. Ich träumte von einem geflügelten Ross, ich schrieb über ein geflügeltes Ross, zehn Jahre ist das nun schon her, letztes Jahr sah ich eins."

„Sicher, dass Sie sich das nicht eingebildet haben?", fragte Nina nicht unfreundlich nach.

„Das war kein Trugbild", versicherte er ihr. „Ich konnte meinen eigenen Augen nicht trauen. Das war ja nicht alles. In einem meiner Träume hat ein Mann seine Frau verloren und leidet daraufhin tiefsten Seelenschmerz. Ich hatte solches Mitleid mit ihm, dass ich es niederschrieb. Zwei Jahre später ist die Frau eines guten Freundes gestorben. Dann war da der irre Spielmann, den ich glasklar im Schlaf gesehen habe. Ein halbes Jahr später ist ein ebensolcher in die Stadt gekommen. Er sah genauso aus wie in meinem Traum und hatte sogar das gleiche irre Lachen. Es hat einen Grund dafür gegeben, dass er so war. Der Schmerz hat ihn in den Wahnsinn getrieben. Ich wusste das, denn das hat er mir im Traum gesagt. Natürlich sind es nicht immer schlechte Dinge, die man mir zuflüstert. Einst träumte ich von einer jungen Tänzerin. Sie war so wunderschön. Wie sie sich bewegt hat, war himmlisch, denn das war es, was sie wirklich konnte." Da richtete er seinen Blick auf Nina. „Und eben dieser Tänzerin bin ich heute begegnet."

Die junge Frau war überrascht und deutete auf sich. „Ich bin das?" Dann lachte sie. „Nein, das kann nicht sein. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen."

„Außerdem", mischte der Doktor sich ein, der Josephs Worten allerdings mit mehr Ernsthaftigkeit zugehört hatte als seine Begleiterin, „ist Nina gar keine Tänzerin."

„Na ja", widersprach sie ihm halbherzig. „Eigentlich schon. Irgendwie. Ich tanze Ballett. Sehr gerne sogar."

„Was echt?" Der Doktor war erstaunt.

Der Dichter aber lächelte wieder so traurig. „Deswegen auch meine heftige Reaktion vorhin. Allerdings ist nicht jeder dieser Träume wahr geworden. Zumindest bis jetzt nicht." Auf einmal war etwas wie Angst in seinen Augen zu erkennen. „Ich weiß nicht, welche davon wahr werden und welche nicht. Herr Doktor, ich habe schreckliche Sachen gesehen, wenn die eintreten sollten..." Seine Stimme wurde trocken, sodass er schließlich abbrach und schluckte.

Nina bekam eine Gänsehaut. Die Furcht des Mannes war echt, das spürte sie.

„Das ‚Herr', lassen Sie das weg", verlangte der Doktor erst einmal. „Dann: Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mal einen Blick auf ein paar dieser Gedichte werfen könnte?"

„Nein, natürlich nicht", antwortete der Mann sofort. „Das heißt, Sie wollen mir helfen?"

„Wenn ich kann!"

So passierte es also, dass Nina und der Doktor durch die Straßen Danzigs liefen. Geführt wurden sie von niemand Geringeren als Joseph von Eichendorff. Wer das war, das musste die junge Frau allerdings noch nachfragen.

„Er ist einer der berühmtesten Vertreter der deutschen Romantik", erklärte der Doktor, nachdem sie ihre Frage gestellt hatte. Er redete mit leicht gesenkte Stimme, sodass der Mann vor ihnen nichts von dem Gespräch mitbekam. „Er ist nicht international bekannt wie Goethe oder Schiller, aber in Deutschland hat er sich vor allem mit ‚Aus dem Leben eines Taugenichts' einen Namen gemacht." Er fasste sich an sein Ohr und schien kurz nachzudenken. „Dürfte noch drei bis vier Jahre dauern, bis das veröffentlicht wird. Blaue Blume der Romantik, kennen Sie die?" Nina schüttelte den Kopf, woraufhin der Doktor seufzte. „Immerhin lernen Sie dann etwas. In der Romantik ging es vor allem darum, die Unendlichkeit zu erreichen. Das funktionierte natürlich nicht wirklich, aber es war das Ziel. Während das Leben eines normalen Bürgers langweilig und Nichts bringend war, hatte das Reisen und Träumen einen großen Stellenwert bei den Künstlern." Mit den verschiedensten Gesten unterstrich er seine Worte.

„Hey!", fiel Nina auf. „Das ist ja dann perfekt für uns."

Der Doktor grinste. „Ja, irgendwie schon."

Die junge Frau dachte über das eben Gehörte nach. „Das heißt, wir besuchen gleich das Zuhause einer verstorbenen Persönlichkeit?" Ihre Stimme brach gegen Ende ab, woraufhin sie  sich kurz räuspern musste.

„Jap", erwiderte der Doktor. „Keine Sorge, da gewöhnt man sich dran."

„Ach, wirklich?" Das konnte Nina nicht so wirklich glauben.

„Allerdings ist Joseph momentan nicht wirklich bekannt. Zu seinen Lebzeiten wird er nur einen Bruchteil seines Ruhms mitbekommen."

„Ist das nicht irgendwie traurig?"

„So ist das Leben, oder?"

„Ja, schon...", druckste Nina herum. „So geht das immer ‚So ist das Leben'. Aber dann sind da Sie und trotzen dem Ganzen."

Der Doktor verstand nicht: „Was meinen Sie damit?"

„Na ja..." Die junge Miss Featherstone spielte nervös mit dem Saum ihres T-Shirts. „Man lernt, was früher passiert ist. Man bekommt Ratschläge für das, was noch kommen wird. Wir haben Sitten, Regeln und Normen am Anfang des 21. Jahrhunderts. Und jetzt laufen wir durch 1822 und könnten die Zukunft jeder einzelnen Person hier herausfinden und ihnen sagen."

„Aber das machen Sie doch nicht." Jetzt wurde der Time Lord vorsichtig. Er wusste immer noch nicht genau, worauf seine Begleiterin hinauswollte.

„Es ist einfach Wahnsinn." Sie ließ ihren nun leicht zerknitterten Saum in Ruhe und schaute zum Doktor auf. „Vermutlich irgendwo moralisch verwerflich."

Dann sah er dieses Schimmern in ihren Augen, was seine ernste Miene verschwinden ließ. „Und es gefällt Ihnen." Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Natürlich gefällt es mir", rief sie schon fast empört. „Wem würde das nicht gefallen?" Sie strahlte.

Der Doktor war erleichtert. „Ach, da hab ich schon so einige getroffen..."

„Ja, Sie!" Sie lachte. „Sie haben sowieso schon Alles gesehen."

Dann waren sie bei Joseph von Eichendorffs Zuhause angekommen.

Es war kein besonders auffälliges Haus in keiner besonders auffälligen Straße. Dafür, dass es sich bei Joseph um einen der berühmtesten Dichter Deutschlands handelte, fand Nina seine vier Wände relativ klein. Sollte er allerdings alleine leben, reichte der Platz mehr als nur aus.

Das tat er aber nicht, was der Doktor und Nina feststellten, kurz nachdem Joseph die Tür geöffnet hatte.

Er hatte offensichtlich eine Familie, bestehend aus Ehefrau Luise und drei Kindern. Das jüngste war ein Mädchen von ungefähr drei Jahren; ihr ältester Bruder gerade mal sieben. Alle waren relativ nett und die Kinder lebhaft, dennoch wirkten sie etwas dünn. Für eine fünfköpfige Familie war auch das Anwesen ziemlich eng. Kurz gesagt: Josephs Familie hatte nicht viel Geld, das sah man.

Letztendlich befanden sich der Doktor (ohne Mantel; der hing in der Gaderobe), Nina und Joseph in seinem kleinen Arbeitszimmer, während Luise mit den Kindern zu Mittag aß. (Sie hatte dem Doktor und Nina angeboten, sich ebenfalls zu Tisch zu setzen, doch diese hatten dankend abgelehnt. Joseph habe keinen Hunger, so hatte er gesagt.) Es gab nicht viel, eigentlich nur einen Schreibtisch mit Stuhl und einen Schrank mit unzähligen Schubladen. Es herrschte Chaos im Raum. Überall lagen Blätter verstreut; die meisten waren beschrieben, einige noch unberührt. Der einzige Ort, der wirklich aufgeräumt war, war der Schreibtisch. Dort lagen feinsäuberlich ein halb beschriebenes Blatt, ein Füllfederhalter und ein Stapel beschriebener Papiere.

Joseph entschuldige sich für die Unordnung. Binnen einer Minute schaffte er es, die umherliegenden Blätter aufzuräumen und in mehrere Stapel einzuteilen.

Nina war beeindruckt. All das waren seine Werke. Gedichte und Geschichten, die er sich ausgedacht hatte. Joseph war wahrhaftig ein kreativer Mann, das konnte man nicht bestreiten.

„Fast alles sind Gedichte", erklärte er und legte die neu gebildeten Stapel auf den Schrank. „In Allem hier drinnen, außer die oberste Reihe, sind Gedichte, die ich wegen meiner Träume geschrieben habe."

„So viele?", staunte Nina. Das waren locker an die 60 Schubladen, die es im Schrank gab.

„Sie sind nicht wirklich voll", winkte Joseph ab.

„Nach was sind sie sortiert?", wollte der Doktor wissen und begutachtete den Schrank.

„Eigentlich nach Datum. Aber es kommt immer wieder vor, dass sich ein Traum nach einiger Zeit wiederholt und noch mehr hinzukommt. Meistens schreibe ich dort dann weiter."

„Verstehe...", murmelte der Doktor. „Joseph, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mir ihre Gedichte anschaue?"

„Nein, keineswegs. Ich bitte sogar darum", versicherte er ihm.

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