Kassandras Erbe: Prolog
[...]
O wunderbarer Nachtgesang:
Von fern im Land der Ströme Gang,
Leis Schauern in den dunklen Bäumen -
Wirrst die Gedanken mir,
Mein irres Singen hier
Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.
Das Kratzen des Füllfederhalters stoppte und das Schreibgerät wurde beiseitegelegt. Die Tinte musste trocknen. Der Schreiber belächelte sein Werk. Es erinnerte ihn an die Ereignisse des vergangenen Jahres.
So lange hatte er geträumt und gewünscht und doch hatte er es sich nie leisten können. Die unerreichbare Unendlichkeit... Er hatte sie sehen dürfen.
Sein Blick wanderte aus dem Fenster in den strahlend blauen Himmel. Ein schöner Tag. Bald musste er los, ein Mann hatte seine Pflichten zu erledigen.
Nochmal betrachtete er sein soeben geschriebenes Werk. Das war kein Produkt seiner Träume, wie es sonst so oft schon gewesen war. Es war ein Stück seines Herzens, was er verewigt hatte. Der Titel fehlte noch. Aber mit Titeln hatte er schon immer etwas länger gebraucht.
Wo er gerade an Titel dachte... Er erhob sich von seinem hölzernen Stuhl, der die gleiche Farbe hatte wie sein Schreibtisch. Das Zimmer war nicht groß, aber er beschwerte sich nicht. Er war froh, dass er überhaupt einen Raum besaß, in dem er sich künstlerisch entfalten konnte. Zwei Schritte reichten, bis er an einem Schrank mit Schubladen angekommen war. Er war gezwungen sich zu bücken, um an die niedrigeren zu kommen. Er zog eine auf und stöberte ein wenig darin. Dann stellte er fest, dass es die falsche war, und schloss sie wieder.
Sein nächster Griff war richtig, das sah er mit dem ersten Blick auf den Inhalt. Es war ausschließlich beschriebenes Papier, das sich in diesem kleinen Schrank befand. Er nahm den Stapel aus der Schublade heraus. Einige Blätter musste er zurückstecken, bis er das gesuchte Stück gefunden hatte.
Seine Augen huschten schnell über die Verse des Gedichts. Er hatte es vor über zehn Jahren geschrieben. Lange Zeit hatte er nicht gewusst, woher ihm diese Zeilen in den Sinn gekommen waren, noch länger hatte er keine Ahnung gehabt, an wen diese Worte gerichtet sein sollten. Deswegen der Name des Gedichtes; es hieß einfach ‚An ...'.
Es waren nicht seine eigenen Worte, die er da geschrieben hatte. Er war nur der Mittelsmann gewesen, das wusste er jetzt. Er empfand Freude bei diesem Gedanken. Die Worte lagen in den richtigen Händen und es war ihm eine Ehre gewesen, sie überbracht zu haben.
Dennoch musste er leicht schmunzeln. Überschrift und Gedicht waren in fein säuberlicher Schrift geschrieben worden, doch er hatte noch etwas hinzugefügt. In seiner Aufregung endlich die Identitäten des Adressaten und des Empfängers zu kennen, hatte er geschmiert. Offiziell hießen diese zwölf Zeilen ‚An ...'.
Für ihn lautete der Name des Gedichtes: ‚An den Doktor'.
[Gedicht am Anfang:Joseph von Eichendorff – Nachts II,1823]
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