Der Zeitdieb: Teil VI
Und dann verstummte Greggory. Er hatte das Schlüsselklirren auch gehört.
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Anders als Greggory wich der Doktor nicht zurück, aber auch er blieb wachsam. Er wandte seine Augen nicht von der geöffneten Tür ab. Das Schlüsselklirren näherte sich beständig. Zweifellos hatte es den Raum mit dem Energiespeicher als Ziel.
Unsicher hob Greggory seine Waffe und richtete sie auf die Tür. Der Doktor legte eine Hand auf dessen Lauf. „Nicht schießen!", zischte er ihm gedämpft zu. „Möglicherweise ist es gar nicht auf uns aus. Vielleicht nicht einmal gefährlich." Er hatte die Worte nicht einmal ausgesprochen, als ihm klar wurde, dass das nicht stimmte. Wieder mal war es sein Instinkt, der ihm das Gegenteil verklickern wollte.
Greggory ließ die Waffe nur leicht sinken, doch dem Doktor reichte das fürs Erste.
Dann war die Ursache des Geräusches auszumachen. Es war... eine alte Frau. Wegen ihres gekrümmten Rückens kleiner scheinend als sie war nutzte sie einen Gehstock als Unterstützung. Sie trug ein langes, dunkles Kleid und ihre Haare waren zu einem Dutt hochgesteckt. Jede Falte ihres Gesichts war ein Indiz für die vielen Jahre, die sie schon gelebt hatte. Ihr Mund war ein strenger Strich und ihre Augen ungewöhnlich milchig. Sie war blind. An ihrer Hüfte baumelte ein Schlüsselbund, der bei jedem ihrer geschlurften Schritte bewegt wurde und das Metall daran klirren ließ.
Der Doktor schätzte, dass sie einst eine Haushälterin gewesen war. Was tat sie hier? Und wie lange war sie schon hier? Ungern wollte der Doktor fragen und so die Aufmerksamkeit auf sich lenken, denn auch wenn sie alles Andere als bedrohlich wirkte, hatte sie eine Ausstrahlung, die er lieber meide wollte.
Leider blieb ihm das nicht erspart. „Was wollt ihr hier?", fragte sie mit einer furchtbar kratzigen, aber doch erstaunlichen festen Stimme. „Tretet weg vom Gefäß des Lebens!" Ihre blinden Augen richtete sie direkt auf den Doktor und Greggory.
„Kann Sie uns sehen?", fragte der Zeitagent den anderen verdutzt, aber wispernd. Er konnte nicht antworten, die Haushälterin fuhr dazwischen. „Ich kann euch sehen, hören, riechen." Als wollte sie ihre Worte unterstreichen, rümpfte sie geräuschvoll die Nase.
„Wie sind Sie hierhergekommen?", wollte der Doktor mit erhobener Stimme wissen. Zielgerichtet schlurfte die Frau auf sie zu. „Was für eine dumme Frage!", fauchte sie. „Ich wurde hier geboren, bin hier aufgewachsen."
„Aber... Es ist keiner mehr da", erwiderte der Time Lord. Er verstand noch nicht genug, um einschätzen zu können, wie man mit der Frau umgehen sollte. „Menschen kommen und gehen, leben und sterben", sprach die Haushälterin mit ruhigerer Stimme, doch sie hörte nicht auf, sich auf sie zuzubewegen. „Gerade weil niemand hier ist, muss ich bleiben."
„Was?", meinte Greggory verdutzt. Voller Verwunderung entspannte sich seine Haltung automatisch. Der Doktor konnte es ihm nicht verdenken, doch im Gegensatz zum Zeitagenten blieb er wachsam. „Weshalb müssen Sie bleiben?", hakte er nach. Er bekam schon wieder so ein mulmiges Gefühl. Kurz blickte er zu seiner Hand, als er spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seiner Haut ausbreitete.
„Um der Aufgabe nachzukommen! Wie es all die Vorfahren meines Lords taten." Die Frau schien ihre Geduld zu verlieren und redete vehementer. „Die Prophezeiung muss sich erfüllen!" Greggory und der Doktor blickten sich gleichzeitig fragend an und wiederholten: „Prophezeiung?"
Die Haushälterin tat einen weiteren Schritt und die Herzen des Doktors klopften schneller. Abermals durchströmte ihn eine Welle von Unbehagen. Ihm wurde klar, dass die Frau die gleichen Effekt auf ihn hatte wie auch die Maschine. Oder das Haus. „Es ist die Energie", teilte er Greggory schnell sprechend seine Schlussfolgerung mit. „Sie wird schon so lange hierhin abgeleitet, nicht nur das Haus ist kontaminiert, es sind auch deren Bewohner. Generation haben unter diesem abnormalen Energieeinfluss gelebt und sich dementsprechend angepasst. Sie..." Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die näherkommende Dame. „... ist auch davon betroffen."
„Was... genau bedeutet das?" Greggory schien nervös zu werden. Er wandte den Blick nicht von der Haushälterin ab. Sie war nur noch wenige Yards entfernt.
Da ihm sonst die Zeit ausging, schritt der Doktor langsam rückwärts und redete noch schneller; die Haushälterin behielt er stets im Blick. „Obwohl sie blind ist, sieht sie uns. Ihre anderen Sinnesreize sind ungewöhnlich gut ausgeprägt. Ihr Alter... Nun ja, wenn man bedenkt, wie lange hier schon niemand mehr hier gelebt hat... 60 Jahre? 70? Und sie war damals schon Haushälterin, das wird man nicht, wenn man frisch aus dem Elternhaus kommt. Und dieses Gefühl... Diese... Eigentlich glaube ich nicht an sowas, aber ich kann es nicht besser beschreiben... Diese Aura! Spüren Sie sie auch, Greggory?"
Dieser nickte schluckend. „Ich glaube, ja." Auch er bewegte sich langsam rückwärts. „Madam, ich muss Sie bitten stehenzubleiben", sprach er mit lauterer Stimme.
„Ihr bleibt stehen", fuhr sie ihn an. „Ich sagte, tretet beiseite! Beiseite!" Da die zwei Männer immer noch nicht hörten, hob sie drohend ihren Stock. Sie hielt ihn wie einen Degen vor sich und schien ihn für ihre Fortbewegung gar nicht zu benötigen.
Plötzlich kreischte sie auf, während ein roter Blitz durch ihren Stock fuhr und hinausschoss. Der Energiestoß traf sein Ziel, Greggorys Rippen. Der Getroffene ließ vor Schreck die Waffe los, taumelte zurück und verlor sein Gleichgewicht. Sein Rücken knallte gegen den Glaszylinder. „Nein!", rief der Doktor und streckte reflexartig einen Arm aus, als wolle er nach Greggory greifen, obwohl er sich zu weit weg befand.
Es war zu spät. In dem Moment, als der Zeitagent den Energiespeicher berührte, schrie er auf. Einen Moment lang glühte er rot auf, spürte all die Energie, die da gar nicht sein durfte, dann zerfiel er zu Staub. Von Greggory war nur noch ein Häufchen übrig, bloß wenige Meter von dem anderen entfernt, seinem Teamkollegen.
Sofort zog sich etwas in der Brust des Doktors zusammen. Es schmerzte. Voller Betroffenheit blickte er auf das Staubhäufchen, den Schock versuchte er zu verstecken. Sein Mund war geöffnet; er wollte sagen, dass es nicht nötig gewesen wäre ihn anzugreifen, doch er gab keinen Mucks von sich. Gleichzeitig verbreitete sich die Sorge in ihm wie ein Lauffeuer. War Nina wirklich in Sicherheit? Ob... Ob sie ebenfalls der Haushälterin begegnet war? Voller Inbrunst hoffte der Doktor, dass dies nicht der Fall war. Und selbst wenn, sie würde doch in den Augen der alten Wächterin niemals eine Bedrohung darstellen... nicht wahr?
Nach wenigen Augenblick wandte er seinen Kopf ruckartig zur Haushälterin. Auf ihrem Gesicht fehlte jede Spur von Emotionen, sei es Reue, Schuldbewusstsein, Schreck oder Genugtuung, Zufriedenheit, Triumph. Wortlos richtete sie ihren Stock gegen den Doktor, der aufgrund der ungewöhnlichen Lichtverhältnisse erst jetzt bemerkte, dass die Gehhilfe aus leitendem Metall bestand. Sie hatte den Energiestoß abgefeuert, nicht der Metallstock, er war nur ein Leiter. Musste wohl auch am ständigen Energieeinfluss liegen.
Die blinden Augen durchbohrten seine. Sie griff ihn nicht an, schien zu zögern. Er wartete ab. „Du bist kein Mensch", sprach sie auf einmal ihre nüchterne Feststellung aus. „Du leuchtest."
„Bin ich nicht", bestätigte der Doktor ruhig, aber bestimmt. Sein Schmerz verwandelte sich in Wut. Diese absolute Gleichgültigkeit machte ihn rasend. Aber er durfte nicht die Fassung verlieren. „Tritt vom Gefäß des Lebens zurück", befahl sie.
Und dann traf es den Doktor. Sie war ein Mensch, aber nicht menschlich. So lange alleine, mit nur einem Lebenssinn: Diesen Energiespeicher beschützen. Sie war eine Wächterin und wenn ihrem Allerheiligsten Gefahr drohte, eliminierte sie sie. Ohne zu zögern, wie ein Programm.
Und Programme konnte man hacken.
„Okay, ich mache es." Vorsichtig und mit erhobenen Händen trat der Doktor zwei Schritte weg vom Glaszylinder. Sie ließ ihn nicht aus den Augen und folgte ihm mit dem ausgestreckten Stock. „Wie heißen Sie?", fragte er sie besonnen.
Die Frau rührte sich nicht, doch der Doktor sah es trotzdem. Ihre Gesichtszüge veränderten sich ganz leicht, nur kurz. Sie zuckten und zeigten für den Bruchteil einer Sekunde, wie mächtig diese simplen Worte gewesen waren. „Mein... Name?", wiederholte sie verdutzt. „Ich..." Sie schwankte leicht. „Ich heiße... Ann?" Ihre Stimme rutschte am Ende nach oben, als wäre es eher eine Frage anstatt einer Antwort.
„Ann, ein schöner Name", erwiderte der Doktor ruhig. „Wie lange leben Sie schon hier?"
„Wie... lange?" Abermals wiederholte sie seine Frage, doch dieses Mal war weitaus mehr Ratlosigkeit. Der Griff um ihren Metallstock lockerte sich. „Ja", ermunterte der Doktor sie. „Wann sind Sie hier geboren worden? Wie viel Zeit haben Sie hier verbracht?"
„Ich..." Ihre Stimme war nur ein Hauchen. „Mein ganzes Leben. So oft habe ich gesehen, wie die Brüder sich trafen... Ich habe aufgehört zu zählen." Sie ließ ihren Arm sinken.
Der Doktor verstand nicht, was Ann da wie in Trance von sich gab, aber er wollte sie nicht wieder auf sich aufmerksam machen. Ihr Gesichtsausdruck war sonderbar. Obwohl sie blind war, schien sie etwas zu sehen; etwas, das in weiter Ferne lag. „So viele Jahre... in Einsamkeit." Der Doktor war sich nicht sicher, ob sie noch über sich selber sprach. Es war gut möglich, dass sie obendrein noch telepathisch angehaucht war. Es war alles plausibel, schließlich hatte er noch nie einen Menschen gesehen, der unter den gleichen Bedingungen großgezogen wurde wie sie.
Auf einmal blickte sie in trotz milchiger Augen direkt an. „Doktor." Die Art, dass sie seinen Namen kannte und aussprach... wie sie ihn aussprach, so voller Liebe und Hass, Bewunderung und Furcht. Es fühlte sich an wie ein Schlag. „Doktor, hörst du es nicht? Oh, wie es schreit! Das arme Ding!"
Er hörte es. In seinen Ohren schallte ein Echo dieses unheimlichen lauten Kreischens, dass er zum ersten und letzten Mal auf Fraymonia im Gedächtnispalast gehört hatte. Auch wenn es nicht so präsent war wie damals, ging es ihm dennoch durch Mark und Bein.
Dann klang es wieder ab. „Was ist das?", fragte er unbeabsichtigt energisch nach. „Ich kann es hören, aber was ist es?"
Ann blinzelte verwirrt. Sie erwachte aus ihrer Trance. Sofort spiegelte sich Wut in ihrem Gesicht wieder. „Weg vom Gefäß des Lebens, habe ich gesagt!" Und dieses Mal schien sie nicht mehr zögern zu wollen. Der Doktor hatte seine Chance verpasst, sie war bereit, ihn anzugreifen. Jetzt hätte er nichts gegen eine kleine Rettung in letzter Sekunde.
So wie es das Universum wollte, bekam er sie. „Lassen Sie ihn gehen, er ist unbewaffnet!", bellte jemand von der Tür aus. Der Doktor blickte an der Wächterin vorbei und entdeckte zwei weitere Zeitagenten, einer etwas älter, der andere etwas dunkler, auch wenn das bei dem roten Licht schwer zu erkennen war. Der Ältere hatte gesprochen. Beide hatten ihre Waffen gezückt und auf Ann gerichtet.
Diese wirbelte herum, war nur für einen kurzen Moment überrascht. Diesen Augenblick nutzte der Doktor, um nach vorne zu hechten, sich an der Frau vorbeizuschlängeln und wieder zur Tür zu kommen.
Kaum war er angekommen, schien sie schon wieder angreifen zu wollen. Schnell hielt er zum dritten Mal heute schon seine leeren Hände in die Luft. „Er hat Recht, keine Waffen. Und die beiden hier sind auch ungefährlich. Nehmen Sie Ihre Waffen runter." Den letzten Satz zischte er den zwei Neuankömmlingen zu. Ehe sie protestieren konnten, erklärte er schnell: „Sie bewacht diesen Energiespeicher und wird erst gefährlich, wenn man eine Bedrohung darstellt. Solange Sie also diese Waffen auf sie oder das Glas gerichtet haben, wird sie keine Ruhe geben."
Für einen kurzen Moment taten die beiden nichts und der Doktor befürchtete schon, dass seine kurze Glückssträhne vorbei war, doch dann ließ der Ältere tatsächlich die Waffe sinken. Einen weiteren Augenblick später tat es der andere gleich.
Jeder hielt den Atem an. Wenn er Ann falsch eingeschätzt hatte, würde der Time Lord bald zwei Tote mehr auf seinem Gewissen haben.
Aber dann ließ Ann auch ihre feindliche Haltung fallen.
„Rückzug", meinte der Doktor knapp angebunden. Er war seinen Rettern wirklich dankbar, aber er wusste momentan, was das Klügste war.
„Sie erteilen hier nicht die Befehle", schnauzte der Jüngere ohne den Blick von der alten Frau zu wenden.
„Ben, tu, was er sagt", erwiderte der Ältere nur daraufhin.
„Aye, Captain", kam es gehorchend. Die drei schritten rückwärts durch die Tür. Ben zuerst, dann der Doktor und zum Schluss der Captain. Ann rührte sich nicht.
Als die drei sich auf dem Gang befanden, drehten sich die Zeitagenten um und begannen zu sprinten. Auch der Doktor beschleunigte seine Schritte, auch wenn er seinen Blick länger auf die Wächterin gerichtet hielt.
Immer noch nicht wusste er, was genau sie bewachte. Was für einen Zweck hatte diese Maschine? Es war fast schon gruselig die blinde Haushälterin nur dastehen zu sehen; von ihren Körperkonturen war nur wenig auszumachen, da sie von hinten von dem unheilbringenden, roten Licht angestrahlt wurde. Ein Teil des Doktors war froh, sich entfernen zu können. Sein Überlebensinstinkt wollte nur noch weg. Schließlich wandte er den Blick ab und joggte den beiden hinterher, froh über die Entfernung, die er zwischen sich und dem Raum brachte.
„Danke für die Rettung", meinte er ehrlich zu den Zeitagenten, auch wenn er gedanklich noch nicht hundertprozentig in der Gegenwart war.
„Kein Problem", meinte Ben. Er und der Captain haben ihre Taschenlampen eingeschaltet, sodass sie etwas sehen konnten. „Ich nehme an, Sie sind der Freund, von dem Nina gesprochen hat."
Mit einem Mal waren alle Grübeleien und dunklen Gefühle des Doktors verschwunden und wurden durch schiere Erleichterung ersetzt. Eine vermutlich angesichts der Situation unangebrachte Heiterkeit ergriff ihn und eine Mundwinkel zogen sich automatisch nach oben. „Ach, Sie kennen, Nina?"
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