Der Zeitdieb: Teil IX
Auch er lächelte nun breit. „Wir rennen niemals weg." Mit diesen Worten im Kopf eilten sie zurück zum Anwesen.
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Nina meinte inzwischen eine grobe Orientierung im Haus zu besitzen. Zumindest wusste sie, wie man in den ersten Stock oder in den Salon gelangte – man nahm die erste Tür links, wow – und welche Gänge zur Bibliothek führten.
Ihr fiel noch etwas auf: Auf dem alten Stuhl in der Eingangshalle, auf der die Puppe mit dem hochtechnologischen Monokel saß, befand sich nun auch ein alter Piratenhut. Die junge Frau bezweifelte sehr, dass weder der Doktor noch die Zeitagenten noch die Haushälterin mal die Kopfbedeckung eines Piraten dabei gehabt hatten und diese mal inmitten eines Haufen Zeitmülls werfen würden. Wie es schien, wurden immer noch Gegenstände aus aller Zeit angespült.
Mit dieser Realisierung kam Nina eine Frage: „Wenn die Zeit hier drinnen langsamer vergeht, wie lange sind wir beide denn dann schon hier?" Vorher war es ihr nicht bewusst gewesen, dass diese Angelegenheit ja auch sie betraf.
„Nun ja", begann der Doktor im Joggen. „Wir sind etwa vier Stunden hier. Ich nehme an, dass die Zeitverschiebung nicht propotional verläuft. Das bedeutet, dass manchmal ein Tag draußen, ein halber Tag hier bedeutet, manchmal aber ist ein Tag draußen eine Minute hier. Ich hätte jetzt mal auf etwa... drei Wochen getippt." Seine Antwort war eine Mischung aus Rechnen und Raten.
„Drei Wochen?", wiederholte Nina erschrocken. „Wirklich schon so lange? Ich hätte jetzt vielleicht ein paar Tage gedacht..." Daraufhin schüttelte der Doktor den Kopf. „Nein, es muss mehr sein, wenn man bedenkt, wie groß die Zeitlücken waren."
„Wie viel Zeit ist vergangen, als wir gerade in der Tardis waren?", wollte Nina wissen.
Nun schien der Doktor wirklich keine Ahnung zu haben. „In der Tardis, zehn Minuten." Nina unterdrückte sich ein Augenrollen. Das hatte sie selber gewusst. „Hier drinnen...", redete der Doktor weiter. „Wenn wir Glück haben, zwei Minuten. Wenn nicht, zehn."
„Wir haben selten Glück", murmelte Nina in sich hinein, doch ihr Freund hatte es trotzdem gehört. „Dafür aber immer dann, wenn wir es am Dringendsten brauchen", konterte er wahrheitsgetreu.
Sie waren an der Bibliothek angekommen. Das erste, was Nina auffiel, waren die zwei Personen, die nebeneinander auf dem Boden lagen. Captain Luther und die Haushälterin, Ann. Allem Anschein nach waren sie tot. Nina spürte einen schmerzhaften Stich im Herzen und ihre Augen brannten. Wieso war der Captain gestorben? Sie hatte ihn nicht richtig gekannt und doch gut genug, um sagen zu können, dass er ein guter Mensch gewesen war.
Der Haushälterin war sie nie direkt begegnet, doch den Worten des Doktors nach hatte auch sie nicht den Tod verdient. Auch wenn ihre Art der Verteidung verwerflich waren, hatte sie lediglich ihre Aufgabe erfüllen wollen. Der Time Lord betrachtete die beiden Leichen voller Schmerz.
Jedoch blieb nicht viel Zeit zum Trauern. Die Zeiger der Standuhr drehten sich wild im Kreis, allem Anschein nach rücktwärts, denn die Zahlen der Countdownleiste wurden schnell höher; 00000208, 00000209, 00000210... Isaac bastelte fiebrig an den Leitungen der Standuhr herum, während Ben ihn assistierte. Claire stand daneben, schaute zu und wirkte etwas hilflos. Sie konnte nicht viel tun.
„Doktor. Nina", merkte sie auf, als sie die Ankömmlige erblickte. „Es scheint zu funktionieren. Isaac hat alle Hände voll zu tun. Was wird nun geschehen?"
Der Doktor holte seinen Schraubenschlüssel heraus und fixierte die Uhr. „Na ja, im schlimmsten Fall explodiert die halbe Milchstraße." Mit diesen überaus besänftigenden Worten gesellte er sich zu den beiden Männer und unterstützte sie mit seiner Schalltechnologie. Isaac schien wirklich ein Händchen dafür zu haben, doch auch er gelangte an seine Grenzen. Er wirkte erleichtert, als er zusätzliche Hilfe erhielt. „Doktor, die Leitung sind mit individuellen Schaltkreisen ausgestattet. Sie drehen allesamt durch."
„Es sind aktivierbare Dämpfer eingebaut", informierte der Doktor ihn.
„Aber sie würden die Energie blocken und die Uhr zerstören. Ich weiß, dass man nicht alle aktivieren darf, aber wie soll ich herausfinden..."
„Bezieht man die Widerstände mit ein und verlgeicht sie miteinander..."
Die beiden fachsimpelten in aller Eile, Ben war bereit Werkzeuge zu reichen und Nina fühlte sich nun genauso nutzlos wie Claire wohl auch. Sie guckte den Männern über die Schulter, doch verstand nichts. Ihr Blick wurde von den zwei Leichnamen angezogen. „Wie sind sie gestorben?", fragte sie die Ältere. Auch sie betrachtete die leblosen Körper. „Sie hat ihm mit ihrem komischen Stock mehrmals in die Brust geschossen. Es war vermutlich pure Energie. Kein Mensch hält das aus."
Nina verspürte Trauer bei diesen Worten. Sollte Captain Luther tatsächlich einst Soldat gewesen sein, so war er auf einer Mission gestorben. Sie hoffte, dass er zumindest etwas Frieden fand. „Und sie?"
„Ich habe sie erschossen."
Ninas Blick schnellte erschrocken zu Claire. Sie stellte fest, dass die ältere Frau sie wohl schon eine Weile prüfend gemustert hatte. Als wolle sie wissen, welche Reaktion Nina auf ihre Worte haben würde. Vermutlich war ihr vorwurfsvoller Blick genau das, was sie erwartet hatte. Nina brauchte nicht einmal etwas zu sagen, damit Claire sich verteidigte. „Als wir vorhin am Energiespeicher waren, haben Ben und ich die Asche unserer Kameraden aufgesammelt." Ihre blauen Augen blitzten kalt, doch da war auch noch etwas Anderes. Schmerz. „Manchmal heißt es dein Leben, das deiner Freunde, oder das eines Anderen. Du musst solche Entscheidungen treffen, Nina, oder du selber bezahlst mit dem Leben."
Sie spürte Zorn in sich aufflammen. So starrsinnige Ignoranz konnte sie nicht leiden und schon gar nicht, wenn man dadurch Menschen verletzte. „Nicht, wenn man mit dem Doktor unterwegs ist", erwiderte sie trotzig. „Es ist gibt immer eine andere Wahl."
„Ach ja?" Leicht spöttisch zog Claire die Augenbrauen hoch. Sie blickte zum vor der Standuhr knieenden Time Lord, der Isaac gerade im Höchsttempo erklärte, wie man Energie filtern konnte. „Ich denke, dass gerade dann es deins oder deren ist."
Nina sagte nichts mehr. Wieso sollte sie argumentieren? Sie wusste, dass das Leben mit dem Doktor gefährlich war, dass es viel Leid und Elend zu sehen gab... Aber da war auch so viel mehr Freude und Hoffnung. Leben und Liebe.
Außerdem war das nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu unterhalten.
„Ha!", machte der Doktor plötzlich. Triumphierend war er zurückgeschnellt und hatte die Arme gehoben. Er hatte sich so sehr durch die Haare gerauft, dass sie ganz zerzaust waren. Aber er schien glücklich. Sofort rutschte sein Blick nach oben zum Zifferblatt. Auch Isaac war fertig mit seiner Arbeit. Seinem Gesichtsausdruck nach hatten sie alles getan, was sie konnten. Jetzt warteten sie ab.
Jeder schaute aufs Zifferblatt. Die Zeiger waren bei Fünf vor Zwölf stehengeblieben, doch die Countdownanzeige drehte durch. Sie veränderte sich so schnell, dass Zahlen nur noch verschwommen zu erkennen waren.
Jeder hielt den Atem an.
Plötzlich stoppte die Anzeige. 13000000. So wie es am Anfang vor fast 1500 Jahren wohl gewesen sein musste. Erschrocken wich jeder zurück. Der Doktor, Ben und Isaac richteten sich auf. Erstgenannter beugte sich fragend nach vorne. Die Uhr tickte nicht mehr, die Anzeige blieb auf 13000000.
Auf einmal sprang sie zu 00000000.
„Ducken!", rief der Doktor. Gerade noch rechtzeitig gehorchte jeder, dann explodierte die Uhr. Es war keine große Explosion mit Druckwelle und Stichflamme und zerstörter Umgebung – da hatte Nina schon andere Sachen erlebt – aber sie spürte, wie die heiße Luft ihre Haare kräuselte und eine Mischung aus Holzsplitter und Metallteilchen auf sie herabrieselte.
Nach einigen Augenblicken der Ruhe, in der nur das schwere Keuchen von jedem zu hören war, wagte es der Doktor als Erster wieder den Kopf zu heben. Nina rauschte das Blut in den Ohren. Sie musste ein paar Mal tief durchatmen, um sich zu beruhigen. Inzwischen wusste sie, wie sie mit solchen Situationen umzugehen hatte. Und wie gesagt, sie hatte bereits weitaus Schlimmeres erlebt.
Auch sie blickte auf. Alles schien unverändert, außer das eine dünne Schicht aus Holzsplittern und Metallresten das Grüppchen und den Boden bedeckte. Des Weiteren war von der Standuhr nicht mehr viel übrig, nur noch der Fuß des Kastens und einige lose Kabel. Andere waren wohl immer noch mit der Tardis verbunden. Bevor sich jeder wieder erholt und abgeklopft hatte, hatte der Doktor bereits mit seinem Schallschraubenzieher den Zufluss gehemmt. Jedoch musste er das Herz der Tardis endgültig verschließen und er hechtete hinaus, während der Rest noch leicht benommen war.
Es wurde nichts gesprochen, nur sich erleichtert angeschaut. Allem Anschein nach hatte es wirklich funktioniert. Zumindest stand die Erde noch.
Als der Doktor wieder hereinkam, lächelte er Nina zu und meinte: „Sagte ich doch: Wir haben Glück, wenn wir es am dringendsten brauchen." Alles war also wieder in Ordnung. Sie lächelte zurück.
Die übrig gebliebenen drei Zeitagenten, der Time Lord und seine Begleiterin standen vor dem Anwesen und verabschiedeten sich.
„Passt auf euch auf", lächelte Ben. Er drückte Nina und schüttelte dem Doktor die Hand. Der dunkelhäutige Zeitagent war Ninas Eindruck nach zu Beginn des Abenteuers fröhlicher gewesen, doch nun da einige seiner Kameraden verstorben waren, wirkte er nachdneklicher. Er trauerte. Nina konnte es ihm nicht verübeln.
Die Haushälterin Ann war hinter dem Haus vergraben worden. Die Zeitagenten hatten die Asche von Michael und Gregory bei sich und Captain Luther lag nicht weit von ihm entfernt mit einem Tuch bedeckt. Sie würden sie wieder mitnehmen, so dass sie bei ihnen im 49. Jahrhundert bestattet werden konnten. Der Ernegiespeicher, so hatten sie nachgesehen, war unter dem fremden, hohen Energieinfluss zu Staub zerfallen.
„Machen wir doch immer", erwiderte Nina auf Bens Abschiedsgruß hin und lächelte ebenfalls leicht. Tatsächlich scherzte sie nur halb.
Dann nahm sie Isaac in den Arm. „Zweifel nicht so sehr an dich selbst. Gib immer dein Bestes und alles wird gut." Dann lehnte sie sich an sein Ohr und flüsterte. „Und trau dich!" Als sie sich wieder von ihm löste, sah sie, dass er grinste: „Das Gleiche gilt für dich." Neckisch boxte er sie sanft gegen den Arm. Der Doktor nickte ihm zu. „Sie hat recht, in dir steckt großes Potenzial." Daraufhin neigte der Jüngere dankbar seinen Kopf.
Nina wandte sich an Claire und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Teilweise bewunderte sie die Ältere und teilweise konnte sie sie nicht leiden. Sie war es, die das kurze, unangenehme Schweigen brach. „Gib auf dich Acht, Nina." Sie warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu und Nina wünschte sich, dass ihr nicht klar wäre, worauf Claire anspielte.
„Machen Sie Captain Luther alle Ehre", verabschiedete der Doktor sich von ihr. Daraufhin wandte sich die Blonde an ihn. „Ich weiß nicht, wer Sie sind, Doktor", meinte sie nicht unhöflich, tatsächlich interessiert, „aber ich hoffe, dass sie mit Ihrer Verantwortung umzugehen wissen." Der Time Lord erwiderte nichts daraufhin, sondern hielt nur ihrem Blick stand.
Nina versuchte ihre Überraschung zu verbergen. Wusste sie etwa, zu welcher Art der Doktor gehörte? Dass er der Letzte war? Nein, woher sollte sie es wissen... Oder doch? Claire war nicht dumm, vielleicht hatte sie eine Vermutung.
„Wissen Sie, wer den Energiespeicher und die Uhr hierher gebracht hat?", wollte Ben noch wissen. Diese Frage löste die stille Haltung des Doktors und er zuckte die Schultern. „Nein, ich habe so ein Instrument noch nie gesehen. Ich würde den Besitzer wirklich gerne mal kennenlernen. Falls er wiederkommt, werde ich mich um ihn kümmern." Wenn man ganz genau hinhörte, konnte man neben seinem Interesse in der Stimme eine Drohung herausfiltern.
„Nun ja, ich bin einfach froh, dass es vorbei ist", gestand Isaac. Gedanklich stimmte Nina ihm zu, doch auch sie würde gerne wissen, welchen Zweck der Speicher gehabt hatte.
Die Zeitagenten gingen zum Körper ihres ehemaligen Captains. Sie winkten noch einmal, ehe sie ihre Vortexmanipulatoren betätigten und sich in einem hellen Licht auflösten.
Nina und der Doktor schlenderten zur Tardis. Sie blickten ein letztes Mal auf das Anwesen. Nun war es nichts weiter als das: Ein altes, englisches Herrenhaus, in dem zu viel Gerümpel lag. Nina verspürte keine Abneigung mehr. Eher fand sie, dass etwas Magisches das Gebäude umgab. „Was passiert jetzt mit dem Haus?", wollte Nina wissen. „Werden jetzt nicht Menschen sich hierher finden und all diese Gegenstände finden?"
„Ach, keine Sorge", winkte der Doktor ab. „Wenn wir wegfliegen, werde ich einen Tarnmechanismus befestigen. Eine Art riesiger Wahrnehmungsfilter. Es sollte sich nur im Einzelfall jemand hierher verirren. Und selbst dann, würde er es nicht wiederfinden." Er lächelte.
Nina blickte zu ihm hoch. „Also auf in neue Abenteuer?"
Zufrieden bestätigte er: „Auf in neue Abenteuer!"
Sie betraten die Tardis und ließen die Tür hinter sich zufallen. Wenige Sekunden später entmanifestierte sie sich mit einem tiefen Seufzer.
Und dann war nichts übrig außer ein leichter Wind und das Echo der wunderschönen Zeitmaschine.
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