Der Zeitdieb: Teil I

Mit angsterfüllten Augen blickte die Frau in das unheilverkündende Licht wohlwissend, dass ihre ursprüngliche Mannschaft nun ein Mitglied weniger hatte.

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Lachend öffnete Nina die Tür der Tardis und betrat die Londoner Nacht. Der Temperaturempfindung nach zu urteilen war es Frühling. Ihre Kleidung hatte sie nach ihrem gerade erst abgeschlossenen Besuch beim Großmogul Shah Jahan noch nicht gewechselt. Dementsprechend war die späte Stunde sehr vorteilhaft, andernfalls hätten die Leute ganz schön blöd aus der Wäsche geschaut, wenn plötzlich eine junge Frau in traditioneller indischer Kleidung des frühen 17. Jahrhunderts aus einer blauen Telefonzelle heraustrat – mal ganz abgesehen davon, dass besagte Telefonzelle Sekunden zuvor aus dem Nichts aufgetaucht war. Unpassend zu ihrem Auftritt trug sie jedoch ihre altrosafarbene Handtasche bei sich. Sie lief über die Einfahrt eines Hauses, während sie noch zur Zeitmaschine blickte.

Es war ihr Haus, auf das sie sich zubewegte.

Der Doktor steckte seinen Kopf ebenfalls aus der Tardis, doch er verließ sie nicht. Sein Gesicht wurde von einem ähnlich fröhlichen Gesichtsausdruck geziert. Auf seinem Kopf balancierte er einen hellen Turban. „Hören Sie, noch so eine Bemerkung und ich komme vielleicht nicht wieder." Sein belustigter Unterton nahm seinen Worten jede Strenge.

Sie lachte und meinte dann: „Wollen Sie nicht mit reinkommen? Es sollte nicht so lange dauern, es sind nur ein oder zwei Anrufe, die ich machen muss."

Der Doktor winkte ab: „Danke für das Angebot, aber diese ganzen menschlichen Organisationsdinger finde ich, um ehrlich zu sein, einfach nur nervig. Bürokratie und sowas. Ist nicht so meins."

Nina nickte zum Zeichen des Verständnisses und fügte noch hinzu: „Sie wollten übrigens den Pool aus der Bibliothek entfernen."

Da zuckte der Time Lord kurz mit dem Kopf zur Seite und dachte nach: „Ja... Ich weiß, dass ich das sagte, aber wenn ich so genauer darüber nachdenke..." Nina musste lachen, auch wenn es nicht einmal besonders lustig gewesen war: „Ach, Sie machen sowieso, was Sie wollen."

„Stimmt genau!", bestätigte der Doktor grinsend. „In Ordnung. Sie erledigen Ihr..." Etwas hilflos wedelte er mit der Hand herum. „... menschliches Dasein und ich hole Sie morgen früh wieder ab."

„Bis morgen!", winkte Nina zum Abschied. „Und machen Sie keinen Blödsinn ohne mich!"
„Ich doch nicht", lachte der Doktor auf und schloss dann die Tür. Einen Moment später löste sich die Tardis auf hinterließ nur einen leichten Wind und ein Echo ihres wunderschönen Klanges.

Nina wandte sich ihrem Haus zu und seufzte. Eigentlich hätte sie auf diesen Abstecher nach London in ihrer Zeit verzichtet, aber sie hatte während der Reisen mit dem Doktor einen Anruf bekommen. Sie musste etwas mit der Stadt klären. Anscheinend hatte ihr Boss ihr gekündigt, da sie nicht mehr zur Arbeit erschienen war – war jetzt nicht die größte Überraschung – und nun musste sie... musste sie mit irgendjemanden reden, um irgendetwas u machen. Sie hatte keine Ahnung von so etwas.

All das verschwand aus ihrem Kopf in dem Moment, in dem sie die Tür öffnete und ein „Nina? Bist du das?" aus dem Wohnzimmer zu hören war.

Der jungen Frau blieb fast das Herz stehen, so sehr erschrak sie sich. Zwei Jahre lang hatte sie alleine in diesem Haus gelebt, bis sie den Doktor getroffen hatte und mit ihm auf Reisen gegangen war. Zu welchem Zeitpunkt hatte der Time Lord sie abgesetzt? Hatte er sich wieder um mehrere Jahre vertan? Konnten leere Häuser einfach an den Staat abgegeben und neu vermietet werden? Vermutlich schon. Oder brach jemand ein?! Darüber hatte sich Nina nie Gedanken gemacht. Wenn sie nicht zuhause war, hätte jeder Kleinkriminelle leichtes Spiel, konnte etwas entwenden und Nina würde es erst Monate, wenn nicht Jahre später merken.

Aber... Einbrecher fragten nicht nach, ob es der Hauseigentümer sein könnte, der soeben durch die Eingangstür schritt. Wahrscheinlich kannten sie nicht einmal deren Namen. Eine Sekunde später dachte Nina sich, dass sie sich auch nicht sicherlich extra wie ihre Tante Ruby verkleidet hatten, nur damit sie sich in Sicherheit wogen.

All ihr Misstrauen verschwand genauso schnell, wie es gekommen war. „Hallo, Tante Ruby." Sie musste die Überraschung nicht einmal vortäuschen. „Was machst du hier? Und warum bist du so spät noch auf?" Es war halb Vier nachts.

„Nina, du bist es! Meine allerliebste Lieblingsnichte", gab Ruby glücklich von sich, während sie die junge Frau in die Arme schloss. ‚Und deine einzige', setzte Nina in Gedanken noch hinzu, während sie fast im Geruch teuren Parfüms erstickte. „Ich hatte doch gesagt, dass ich vorbeikommen werde, um dich zu besuchen", erklärte ihre Tante inmitten der Umarmung. „Ich hatte dich angerufen."

„Ja, stimmt", murmelte Nina gedämpft. Sie erinnerte sich vage daran, dass sie tatsächlich einen Anruf von Ruby bekommen hatte. Sie hatte damals gesagt, dass sie sie in zwei Wochen besuchen kommen würde, der Flug sei schon gebucht. Ein Datum war auch gefallen. Demnach müsste heute der Fünfte Mai sein. Oder war es der Achte gewesen?

Für Nina war dieses Gespräch drei Monate her.

Als sie wieder freigelassen wurde und normal atmen konnte, war es ihr möglich ihre Tante richtig zu betrachten. Sie sah noch genauso aus wie das letzte Mal, als Nina sie gesehen hatte: Ihre lockigen Haare hatte sie auf Bob-Länge geschnitten lassen. Jegliche Anzeichen des Alters waren geschickt überschminkt worden. Sie trug teure, farbig stimmige Kleidung und um ihren zierlichen Körper war ein modischer Schal gewickelt. Nina fand, dass Ruby ihrer älteren Schwester nicht unähnlich sah, auch wenn die eigentlich dunklen Haare nun rotblond gefärbt waren und ihre Haut sonnengebräunter war. Nina mochte die strahlend blauen Augen ihrer Tante gerne. Auch wenn Rubys Bemühungen, ihr Alter zu verstecken, versagen würden, so machten ihre Seelenspiegel das wieder wett. Stets hatten sie dieses jugendlich abenteuerliche Blitzen in sich, das hoffentlich niemals verschwinden würde.

Es waren die gleichen Augen wie bei Ninas Mutter.

„Jetzt sieh dich mal", begann Ruby belustigt. „Wo kommst du denn her?" Nina blickte an sich herunter und ihr wurde wieder bewusst, was für einen Aufzug sie anhatte. Jedoch konnte sie schlecht ‚Aus Indien, 17. Jahrhundert. Ich hab den Erbauer des Taj Mahal getroffen. Sehr nett, wenn auch ein seltsamer Vogel. Du hättest ihn bestimmt gemocht.' antworten, deswegen erwiderte sie bloß matt: „Auf einer Kostümparty."

Ihre Tante lachte auf: „Natürlich, das hätte ich mir auch denken können. Du hast dich nicht verändert, immer noch viel am Feiern." In ihrer Stimme schwang keinerlei Vorwurf mit. Fast hätte Nina erwidert, dass sie noch nie gerne lange feiern war, aber sie hielt den Mund. Ruby würde es sowieso nicht wahrnehmen.

Sie war ein guter Mensch, liebte ihre Familie auf ihre Art. Nina würde ihr auf ewig dankbar sein, dass sie sich um sie und ihren Bruder gekümmert hatte, nachdem ihre Eltern verstorben waren, denn sie wusste, wie Ruby war. Auch wenn sie Ninas Mutter ähnlich sah, so war sie im Charakter umso verschiedener: Während die ältere der beiden Schwestern in London geblieben war, geheiratet und zwei Kinder bekommen hatte, die sie mit aller Liebe großgezogen hatte, so war die Jüngere von sehr lebendigen und tempramentvollem Gemüt. Sie erlebte gerne Abenteuer, reiste viel herum und hielt es nie lange an einem Ort aus. Sie war keine Frau, die sesshaft wurde, deswegen war sie auch nicht verheiratet und hatte auch keine Kinder. Beziehungen waren bei ihr nur von kurzer Dauer.

Wenn Nina so genauer darüber nachdachte, hatte Ruby viel mit dem Doktor gemeinsam. Sie musste schmunzeln. Ihre Tante bemerkte das: „Was grinst du so? Hast du wohl zu tief ins Glas geschaut?" Gespielt streng hob sie den Zeigefinger und blickte sie tadelnd an, doch Nina wusste es besser. Ruby war die lezte, die sich erlauben konnte Predigen über Moral zu schwingen.
„Nein, ich bin nur müde", erwiderte Nina. Die beiden gingen ins Wohnzimmer und die junge Frau ließ sich sofort aufs Sofa plumpsen. Erschöpft war sie tatsächlich, sie hatte wieder viel rennen müssen. Keiner hatte ihr gesagt gehabt, dass man mit Exekution rechnen musste, wenn man dem Sohn des Großmoguls einen Korb gab. „Warte, ich bringe dir Tee. Ich habe gerade welchen gemacht", bot ihre Tante an und wuselte in die Küche.

„Warum bist du noch auf?", wollte Nina wissen, als sie eine heiße Tasse Tee mit Milch und Zucker in die Hand gedrückt bekam. „Jetlag", antwortete Ruby mit einem Seufzen und ließ sich neben sie nieder. „Ich komme frisch aus Thailand. Dort ist es fast Zehn Uhr morgens."

„Thailand?", wiederholte Nina verwundert. „Was hast du denn dort gemacht?"

„Ach, dies und jenes... Das Übliche, du kennst mich doch. Bin auf Elefanten geritten, habe Früchte gegessen, die ich zuvor noch nie gesehen habe..." Und so erzählte Ruby Nina von der Zeit, in der sie sich nicht gesehen hatten. Sie war wieder in Florida gewesen, wo sie offiziell lebte und hatte Urlaub in Australien und eben Thailand gemacht.

„Aber jetzt erzähl du mal", meinte sie dann und faltete ihre Beine auf dem Sofa neben sich zusammen. „Bevor ich nach London gekommen bin, war ich bei deinem Bruder. Er sagte, du bist viel herumgereist." Sie grinste.

„Hat er das?", rutschte es Nina heraus. „Ja, ich bin etwas unterwegs gewesen." Sie musste genau darüber nachdenken, was sie sagte. Ihre Tante war nicht nur sehr neugierig, sondern auch noch schlau. Sie musste aufpassen, dass sie nicht zu viele Fragen stellte.

„Und wo warst du so?", drängte Ruby weiter. „Was hast du so gemacht?"

„Vieles", erwiderte die Jüngere. Ihre Gedanken funktionierten langsamer, sie musste sich wirlich hinlegen. „Ich... war shoppen. In einer Mall. Hab gelernt, wie man eine alte Schrift schreibt. War in riesigen Schluchten klettern. Und ich habe Glühwürmchen gesehen."

Ihre Tante musterte sie amüsiert. „Hast du das alles alleine gemacht?"

Nina antwortete nicht sofort. Sie dachte daran, wie der Doktor ihr in der Mall auf Fraymonia erklärt hatte, dass es dort nur so wenige Schriftstücke gab, weil alle Literatur des Universums so gewaltig war, dass deren Bibliothek einen eigenen Planeten benötigte. Sie erinnerte sich daran, wie ihr beigebracht worden war, wie man die seit Millionen Jahren ausgestorbene Zeichen der Onia schrieb; wie sie an einem Vorsprung des Dreeloo-Abgrunds hing und fast meilenweit in die Tiefe gestürzt wäre, wenn ihr Reisebegleiter sie nicht rechtzeitig wieder heraufgezogen hätte. Sie hatte noch bildlich vor Augen, wie der Doktor inmitten der Aurae Lyah geleuchtet hatte. Der Lord der Zeit.

„Nina?", weckte Ruby sie aus ihren Gedanken.

„Tut mir leid", erwiderte die jüngere erschrocken. „Ich bin schrecklich müde. Ich glaube, ich muss ins Bett."

„Ja, natürlich. Ich wollte dich nicht so lange wach halten. Ich bin die mit Jetlag, du nicht. Ab ins Bett mit dir, Nina." Ruby jagte sie hoch ins Obergeschoss, wo sich die Schlafzimmer und das Bad befanden. Nina wollte gerade ihr Zimmer betreten, als ihre Tante ihr noch die Treppe hoch hinterherrief: „Ach, und Jessi und Betty kommen morgen so gegen Neun an."

Nina brauchte einige Momente, bis die Information bei ihr ankam: „Wer?"

„Jessi und Betty", wiederholte Ruby. „Meine Freundinnen aus Miami. Hatte ich nicht erzählt, dass sie auch kommen werden?"

Nina dachte mit ihrem müden Gehirn nach. „Nein, bin mir ziemlich sicher, dass du das nicht gemacht hast."

„Oh. Ähm, ist das in Ordnung?"

Nina lehnte ihren Kopf erschöpft gegen ihre geschlossene Zimmertür und schloss die Augen. Sie kannte Ruby und die Leute, mit denen sie sich abgab. Manche von denen waren seltsame Gestalten. Einer ihrer Exfreunde zum Beispiel hatte, wie sich herausgestellt hatte, Handtaschen geklaut, um sie für einen teureren Preis wieder zu verkaufen. Ein anderer war ein Junkee gewesen. Und einer ihrer Freundinnen war unter mysteriösen Umständen schon zum vierten Mal verwitwet. Der Gedanke, so jemanden im Haus zu haben, gefiel ihr nicht.

Aber Nina konnte schlecht Nein sagen. Sie war morgen sowieso wieder weg, unterwegs mit dem Doktor. „Klar doch", erwiderte sie also mit erhobener Stimme, damit sie auch gehört wurde. „Du musst mich nicht fragen, du hast schließlich auch mal hier gelebt."

„Super." Nina konnte ihr Strahlen in ihrer Stimme hören. „Bis morgen dann. Schlaf gut!"
„Gute Nacht."


Am nächsten Morgen wurde Nina durch den schrillen Ton ihrer Hausklingel geweckt. Nach einem kurzen Blick aufs Handy stellte sie fest, dass sie knappe fünf Stunden Schlaf gehabt hatte. Am liebsten hätte sie sich zur Seite gerollt und weitergeschlafen, doch es schallte schon die laute Begrüßung ihrer Tante durchs Haus. Ihre Freundinnen waren wohl angekommen.

Nina wollte im Bett bleiben und die Frauen machen lassen. Dieser Plan funktionierte ungefähr zehn Minuten, bis ihre Tante an der Tür klopfte und eintrat. Sie entschuldigte die Störung, berichtete, dass ihre Freunde angekommen seien und die drei nun gerne die Stadt anschauen würden.

„Schön", murmelte Nina verschlafen. „Schöne Grüße und viel Spaß."

Ruby zögerte. „Ja, die Sache ist die... Wir haben uns gedacht, dass du, als eingebürgerte Londonerin, uns die Stadt zeigen könntest." Mit gerunzelter Stirn blickte die Jüngere sie an. „Du bist auch von hier."

„Ja, aber ich war ein Jahr lang nicht mehr in der Stadt."

„Es hat sich nichts verändert."

Ihre Tante seufzte. „Meine Geheimtipps beziehen sich eher auf das Nachtleben." Das glaubte Nina ihr aufs Wort. „Außerdem dachten wir, dass uns ein wenig frisches Blut ganz gut tun würde."

Die Jüngere unterdrückte den Drang die Augen zu verdrehen. Sie musste mitkommen, da konnte sie so viel argumentieren wie sie wollte. „Tante Ruby, ich kann nicht. Jemand... wird mich abholen. Jeden Moment." Da wurden die Augen ihrer Tante groß: „Tatsächlich? Wer denn? Ein Freund?"

„Hm, ja, schon irgendwie."

Ein Strahlen bereitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Dein Freund?"

„Nein! Nur ein Freund, den ich... in letzter Zeit sehe", protestierte Nina lautstark. Die andere lachte daraufhin nur schallend: „Schon gut, schon gut. Ich mache doch nur Witze. Er kann uns begleiten! Du kannst ihn anrufen und ihm sagen, dass du unterwegs bist. Er kann dazustoßen."

„Tante Ruby..."

„Keine Widerrede! Ich muss doch den Mann kennenlernen, mit dem meine Nichte sich rumtreibt." Sie zwinkerte. Dieses Mal konnte Nina es nicht lassen, sie verdrehte ihre Augen: „Tante Ruby, er ist nicht..." Abermals lachte diese. „Wir treffen uns unten in zwanzig Minuten." Damit verließ sie das Zimmer.

Nina musste sich nun wohl oder übel aus dem Bett hieven und sich fertig machen. Nachdem sie sich geduscht und angezogen hatte, klappte sie ihr Handy auf und wählte den Kontakt ‚Tardis'. Die Nummer wurde gewählt, doch es ging keiner ran. Das hieß wohl, dass er nicht in der Tardis oder zumindest nicht im Kontrollraum war. Am Ende sprach sie auf den Anrufbeantworter: „Hallo, ich bin's. Ähm... Meine Tante ist da zu Besuch und jetzt soll ich für sie und ihre Freundinnen Stadtführer spielen. Ich werde also irgendwo in der Stadt sein. Sie... können mich ja anrufen... Oder Sie werden mich schon finden. Aber bitte beeilen Sie sich." Dann legte sie auf und seuzfte. Das konnte ja unheimlich spaßig werden.


Jessi und Betty waren, wie es sich im Laufe des Tages herausstellte, gar nicht so übel. Vielleicht etwas laut und ungeniert, aber sonst ganz in Ordnung. Seltsamerweise verfiel Ruby in ihrer Nähe in einen amerikanischen Akzent. Sobald Nina dies feststellte, musste sie sich ein Grinsen unterdrücken.

Mit der U-Bahn führte Nina die gackernde Clique nach Westminster. Sie sahen sich das London Eye an und den Big Ben, der nochmal viel interessanter wurde, da schließlich dort vor drei Jahren angeblich ein Raumschiff eingeschlagen war. Auch hier verhielt sich ihre Tante wie die amerikanische Touristin schlechthin. Sie schien schier beeindruckt und war nahezu überwältigt. Als Nina sie darauf hinwies, dass sie das doch schon x-mal gesehen hätte, meinte Ruby nur: „Es war doch schon so lange her."

Um kurz nach Zwölf schlug Nina vor zum Trafalgar und Leicester Square zu gehen, doch Ruby versicherte ihr, dass sie das am Abend mit dem beiden machen würde. „Stimmt, ich habe fast vergessen, dass dort die ganzen Pubs sind", neckte Nina sie, woraufhin sie sich einen liebevollen Klaps auf den Arm einhandelte. Schließlich hatte sie ja recht.

„Wir wollen so richtig touristisch sein", gab Jessi, eine brünette Frau in einem etwas zu engem Kleid und Nylonstrumpfhosen, aufgeregt von sich. Also begaben sie sich zur Oxford Street. Selbstverständlich wollten die drei Damen shoppen gehen, also taten sie es zu viert. Sobald die Sonne unterging, verließ Nina das Grüppchen, das nun die Bars Londons unsicher machen wollte.

Als Nina zuhause ankam, suchte sie nach einer blauen Telefonzelle, fand aber keine. Sie setzte sich schließlich auf die Couch in ihr Wohnzimmer und prüfte ein letztes Mal ihr Handy. Den ganzen Tag über hatte sie dies immer mal wieder getan, um zu sehen, ob sie nicht doch einen Anruf oder eine Nachricht verpasst hatte. Nichtsdergleichen war der Fall gewesen. Der Doktor hatte sie schlicht und einfach weder gesucht noch kontaktiert. Vielleicht hatte er zu tun. Vermutlich war er sehr wohl auf ein Abenteuer gegangen und hatte einfach... Aber eigentlich sollte das kein Problem sein. Er hatte eine Zeitmaschine.

Frustriert stöhnte Nina auf, legte ihren Kopf in den Nacken und bedeckte ihre Augen mit den Armen. Sie spürte, wie die Tränen kamen. Sie wollte das nicht. Sie wollte nicht weinen, ohne zu wissen, ob es überhaupt einen Grund dafür gab.

Nachdem sie ein paar Minuten so dasaß, riss sie sich zusammen und ging ins Bett. Der Doktor würde sie nicht einfach so im Stich lassen. Nicht nach all dem, was sie in den letzten Monaten zusammen durchgemacht hatten.


Aber der Doktor kam nicht.

Einmal hatte Ninas Handy geklingelt, doch es war ihr Bruder gewesen. Sie hatte ihm gesagt, dass sie wieder in London sei. „Kein Doktor mehr?", hatte er nachgefragt. Nina hatte keine Antwort geben können.

Auch Tante Ruby hatte wissen wollen, wo denn ihr Freund bleibe.


Ihre Freundinnen Jessi und Betty flogen nach zwei Wochen wieder zurück nach Amerika.


Nina wartete.


Sie weinte.


Und nichts passierte.


Nach zwei Wochen wurde Nina gefragt, ob sie in ihrer alten Ballettschule aushelfen konnte. Fünf Tage später sagte sie zu.

Bald wurde dies zu ihrem einzigen, aber regelmäßigen Job, den sie hatte.


In Tante Rubys sechster Woche, die sie bei Nina blieb, berichtete sie ihr, dass sie für nächste Woche weitere Freunde eingeladen hatte. Ein verheiratetes Pärchen aus Amerika. Nina hatte keine Einwände.

Und kaum noch Hoffnung. Mit jedem Tag, der verstrich, fiel sie tiefer in ein dunkles Loch, in dem keine Fröhlichkeit herrschte.


Und der Doktor blieb weg.

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