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Der Tag zog sich heute noch mehr als sonst. Gefühlt jeder Lehrer, den wir heute hatte, berichtete, dass Michelle verschwunden war und wer etwas wusste, sollte sich sofort an die Polizei melden. Dies blendete ich jedoch aus, da meine Gedanken voll bei dem heutigen Treffen waren. Und je länger der Tag ging, desto aufgeregter war ich. Aber warum? Schließlich war ich doch nur da, um Ellie und Max bei ihrem Vortrag zu helfen. Und doch krampfte mein Bauch vor Aufregung als ich die Treppen runter ging und auf den Hof traf. Dort sah ich Ellie und Maxime, die an einer Laterne auf mich warteten. Ich trat zu ihnen und erwischte sie dabei, wie sie leise mit einander tuschelten. Doch leider verstand ich es nicht, da die anderen Schüler, die ebenfalls raus kamen, ebenfalls redeten.

"Wollt ihr mir sagen, was ihr verheimlicht?", fragte ich und sah befriedigt zu, wie beide zusammenzuckten und Maxime sogar rot wurde. "Wir haben uns nur schon mal unterhalten, wie wir das ganze angehen wollen", erklärte Ellie mit einer Geschwindigkeit, die darauf hindeutete, dass sie log. Aber bevor ich sie zur Rede stelle konnte, mischte ich Max ein: "Lasst uns lieber zu Will gehen, bevor er wütend wird." Und da war es wieder. Dieses seltsame Gefühl in meiner Brust. Es war ein Kribbeln und Ziehen gemischt mit einer Aufregung, die mir neu war. Ohne weiteren Kommentar folgte ich den beiden Mädchen und blendete ihr Geplapper aus. Schon von weitem sah ich ihm und musste schlucken. Er lehnte an sein Auto, die Lederjacke betonte seine muskulösen Arme und durch sein enges, weißes Shirt konnte man die Bauchmuskeln leicht erkennen. Will zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch wieder aus. Eigentlich hasste ich es, wenn jemand rauchte, aber bei Will sah es wahnsinnig gut aus. Er drehte sich zu uns, kniff die Augen zusammen und zog ein letztes Mal an der Zigarette, ehe er sie auf den Boden warf. "Da seid ihr ja endlich", brummte er leicht verärgert und seine tiefe Stimme jagte mir einen angenehmen Schauer über den Rücken. Maxime blinzelte unschuldig. "Ach komm schon, Will, so spät sind wir ja auch nicht. Cassy hatte jetzt erst Schluss." Zum ersten Mal wanderte sein Blick zu mir und schien mich zu mustern. Ich versuchte, dem Blick standzuhalten und lächelte entschuldigend, während es mir ganz warm wurde. "Steigt ein", sagte er nur, als er seinen Blick abwandte und um sein schwarzes Auto herum ging, um einzusteigen. Schnell rannte Maxime ebenfalls auf die andere Seite um hinten einzusteigen und Ellie setzte sich auf den anderen hinteren Platz. Somit hatte ich keine andere Wahl mehr, als mich neben Will zu setzten.

Mein Herz klopfte, als ich einstieg, meinen Rucksack zwischen meine Beine klemmte und mich anschnallte. Ellie und Maxime plapperten sofort irgendwas drauf los, doch ich versuchte nicht Will anzustarren. Stattdessen sah ich aus dem Fenster und staunte, was für eine ruhige Fahrweise Will hatte. Ich weiß nicht warum, aber ich hab immer gedacht, er wäre ein sehr stürmischer Fahrer. Tatsächlich ging die Fahrt schneller als gedacht und bald hielten wir vor einem schönen Haus, mit einem kleinem Vorgarten. Wir stiegen aus und Maxime rannte voraus, um die weiße Eingangstür aufzuschließen. Ellie rannte hinterher und wirkte wahnsinnig aufgeregt. Will und ich folgten und schon hatte Max die Tür aufgeschlossen. Uns erwartete ein schön, aber schlicht eingerichteter Flur. Behutsam zog ich meine Schuhe aus und trat ein. Rechts neben dem Tür war bereits das große, warm und modern zugleich eingerichtete Wohnzimmer. Ich sah hinein und erkannte, dass die Küche mit dem Wohnzimmer verbunden war. Dort stand am Herd eine rothaarige Frau, die verblüffende ähnlichkeiten mit Maxime hatte. Diese trat in das Wohnzimmer und rief: "Hallo, Mum! Wir sind da!" Die Frau blickte von ihrem Topf auf und lächelte. Sie hatte die selben weichen Gesichtszüge wie Max und auch ihre Augen hatte die selben Augen. Nur dass ihre Haare zu einem Topf gebunden waren und Max' ihre roten Locken einfach so offen ließ. "Ah, perfekt. Das Essen ist gerade fertig geworden. Könnt ihr schnell den Tisch decken?" "Das machen Will und Cassy, ich muss Ellie ganz dringend was zeigen!", antwortete Maxime, schnappte sich Ellie und rannte mir ihr die Treppe hinauf. 

"Ist das dein Ernst?", fragte Will mit einer verärgerten Stimme. Doch Ellie und Maxime waren bereits verschwunden und ließen uns beide hier alleine zurück. Verärgert dachte, dass die zwei das mit Absicht machten, damit ich bei Will blieb. Frau Baker sah Will entschuldigend an und meinte: "Wärst du so lieb, Will?" Dieser zuckte mit den Schultern und ging an mir vorbei. Ich stellte meine Tasche an die Tür und folgte ihm. "Ich kann auch helfen", sagte ich und sah Will heute zum ersten Mal in die Augen. Es waren schöne, braune Augen, die eine warme (wenn auch grimmige) Ausstrahlung hatten. "Das ist super lieb. Cassy, richtig?", antwortete Frau Baker. Ich nickte und erwiderte ihr herzliches Lächeln. Will hatte sich Währenddessen umgedreht, öffnete eine Tür am oberen Schrank und holte einige Teller heraus. "Isst Dad auch mit?" Ich zuckte aufgrund der Verachtung in seiner Stimme zusammen, als Will die Frage stellte. Auch Frau Baker verzog das Gesicht. Etwas schien zwischen Will und seinem Vater nicht in Ordnung zu sein. "Das weiß ich nicht, Schatz. Er meinte, er versucht heute eher da zu sein." Schweigend holte Will noch Teller heraus und überreichte sie  mir. "Könntest du sie auf dem Tisch verteilen?", fragte er mich in einer freundlicheren Tonart und deutete mit dem Kopf auf den Esstisch. "Klar", ich nahm sie an mich. Dabei berührten sich unsere Finger, was ein gutes Gefühl in mir auslöste. Doch zu schnell zog er seine Finger weg und fing an Besteck aus einer Schublade zu holen. Ich drehte mich um und fing an die Teller bei den Stühlen zu verteilen, dabei versuchte ich das angenehme Gefühl runterzuschlucken. Es war ein großer, weißer Tisch und ich fragte mich, ob sie wohl oft Besuch hatten. Den für mindestens 8 Personen war Platz und sie lebten, soweit ich weiß, nur zu viert da. Zumindest hat Max nur von Will und ihren Eltern erzählt. Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich zusammen zuckte, als plötzlich eine kleine Platte für den warmen Topf auf den Tisch landete. Ich fuhr herum und sah in Will's grinsendes Gesicht. "Nicht erschrecken, ich bin's nur." "Das hab ich mitbekommen", erwiderte ich und stockte, als er sich plötzlich zu mir beugte um Messer und Gabel an den Teller vor mir zu legen. Dabei kam er mir so nah, dass ich seine Wärme spürte und sein Deo, welches sehr angenehm duftete, aufnahm. Mein Herz schlug purzelte, als er die restlichen Teller ebenfalls verbreitete. Gerade als er das letzte Paar Besteck legte, kamen Ellie und Maxime ins Wohnzimmer. Beide strahlten und ich zog meine Augenbraue hoch. Was hatten sie jetzt wieder geplant? Frau Baker stellte den dampfenden Topf vor mich auf die Platte und strahlte. "Ihr kommt genau richtig, setzt euch schon mal." Sofort ließen sich die beiden nebeneinander nieder und flüsterten fleißig weiter. Leider verstand ich nicht, was sie sagten, da Will bereits die Gläser auf den Tisch stellte. Beim letzten Glas fiel mir beschämend ein, dass ich auch hätte helfen sollen. "Ich würde sagen, wir fangen jetzt an. Lucas kann dann dazustoßen", überlegte Frau Baker laut. Dann lächelte sie mich an und deutete auf den Platz gegenüber von Ellie, in der Mitte von der Seite. Will setzte sich zu meiner Überraschung neben mich. Während Frau Baker uns alles Chili Con Carne auf die Teller machte, fragte sie: "Wie war's den in der Schule?" "Öde, Mr. Caulfied hat uns wieder so viele Hausaufgaben aufgebrummt", stöhnte Maxime. Ellie nickte kräftig und stopfte sich einen Löffel Chili in den Mund. "Und Herr Müller hat rumgebrüllt, weil die Charlotte 10 Minuten nach Unterrichtsbeginn auf die Toilette wollte. Die Arme. Man hat ihr angesehen, dass sie am liebsten im Boden versunken wäre." Frau Baker sah ganz bedrückt aus. "Warum er überhaupt unterrichten darf, das versteh ich nicht. Selbst sein Unterricht wirkt nicht wie der beste." Das konnte ich aber auch bestätigen. Meist erzählte er einfach etwas oder wir sollten uns das Thema selber erarbeiten. Dabei schweifte er so oft ab, dass jeder Klasse mindestens 2 Themen bis zum Ende des Jahres fehlten. "Er ist der einzige Lehrer in dem Fach, sie haben keine andere Wahl als ihn zu behalten", warf Will ein und verdrehte die Augen. "Achso", fuhr er fort. "Ich begleite morgen Charly zum Training." Frau Baker nickte. "Klar, Schatz. Ich wünsch euch viel Spaß." Genau in dem Moment hörte ich, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde.

Dabei sah Max leicht besorgt zu Will und instinktiv sah auch ich ihn an. Plötzlich wirkte er total angespannt und der Appetit schien ihm ebenfalls vergangen zu sein, als er sich einen weiteren Löffel in den Mond schob und darauf rum kaute, als wäre es ein zäher Schleim. Frau Baker stand auf, als ein großer, sehr autoritär wirkender Mann zur Tür herein kam. Er trug einen Anzug, was in mir den Verdacht auslöste, er arbeitete in einer größeren Firma. Wenn ich es nicht wissen würde, hätte ich nie im Leben gewusst, dass dieser streng aussehende Mann Williams Vater war. Er hatte scharfe Gesichtszüge, kühle blaue Augen und ein markantes Kinn. Seine Haare waren dunkelbraun, mit einer Spur grau in den Strähnen. "Hallo, Liebling", begrüßte Frau Baker ihn. "Wir wussten nicht, wann du kommst, deswegen haben wir schon ohne dich angefangen." Herr Baker winkte ab und ließ sich auf den freien Stuhl sinken. Dabei lächelte er freundlich, doch ich merkte, wie das Lächeln seine Augen nicht erreichte. Mir schauderte es, er wirkte wie kein angenehmer Geselle.

"Hallo, Kinder. Hallo, Ellie", begrüßte er sie und wandte sich an mich. "Hallo, dich kenne ich ja gar nicht. Bist du Will's neue Freundin?" Sofort spürte ich, wie mir die Röte in die Wange trat, aber bevor ich das verneinen konnte, mischte sich Will mit ein. "Ach komm, tu nicht so, als würdest du dich für mich interessieren." Erschrocken sahen wir ihn an, nur Herr Baker schien zu platzen vor Wut. Will sah aber genauso wütend aus. "Natürlich interessiere ich mich für dich, was unterstellst du mir da?", brüllte Herr Baker fast. Das brachte bei Will scheinbar das Fass zum Überlaufen. Seine Hände ballten sich so fest zu Fäusten, dass die Knöchelchen weiß hervorstachen. "Ja, super. Dich interessiert es nur, was für ein jämmerlicher Versager ich doch bin. Alles andere geht dir am Arsch vorbei, egal, was es ist!" Herr Baker lief knallrot an, doch bevor er noch was sagen konnte, stand Will auf und ging wütend aus der Küche. "William!", brüllte sein Vater. "Komm sofort zurück!" Als Antwort bekam er den Knall der Eingangstür.

Stille trat in der Küche ein, auch wenn man die Wut in Herrn Bakers Körper regelrecht spüren konnte. Mir war der Appetit vergangen und ich konnte nur an Will's Gesicht denken. Es war so wutverzerrt gewesen, aber auch wahnsinnig traurig. Was auch immer mit ihm und seinem Vater war, er hatte damit sehr zu leiden. Nur widerwillig wiederstand ich dem Drang, aufzustehen und ihm zu folgen. Nie im Leben hab ich mit sowas gerechnet. Hoffentlich war es nur eine einmalige Auseinandersetzung, aber es war offensichtlich, dass dies leider nicht einmal war.

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