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Am nächsten Tag saß ich in der Mittagspause in der Schulbibliothek und suchte nach Informationen zur Tarnung verschiedener Tierarten, worüber ich nächste Woche in Biologie eine Präsentation halten musste. Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit erst angefangen, als Ellie vorbei kam. Zu meiner Überraschung nicht allein. Sie brachte Maxime mit, die kleine Stiefschwester von Will und eine gute Freundin von ihr. "Cassy, können wir dich um einen Gefallen bitten?" Ich sah von meinem Buch auf und zog meine Augenbraue hoch. Nur selten habe ich Ellie so stürmisch erlebt und ihr siegessicherer Blick bewies, dass sie etwas vorhatten. "Was denn?", fragte ich vorsichtig nach, woraufhin beide fett grinsen mussten. Was ist jetzt los?
"Wir brauchen deine Hilfe. Wie du weißt, bin ich nicht gut in Geschichte. Aber wir müssen nächste Woche Freitag einen Vortrag über den Einmarsch der Nazis nach Russland halten und Max ist auch nicht die beste in Geschichte." Sie stoppte und Maxime übernahm. "Wir möchten morgen zu mir gehen und es da machen. Hast du zufällig Zeit uns zu helfen?" Ich warf Ellie einen bösen Blick zu. Darum ging es also. Sie wollte, dass ich mich mit Will traf und gleichzeitig ihr bei den Hausaufgaben half. Sie würde damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Das Problem war, ich konnte nicht nein sagen. Und das wusste Ellie ganz genau. Doch wollte ich überhaupt Nein sagen? Irgendwas in mir sagte mir, ich soll mitgehen. Wie sonst sollte ich etwas von Will erfahren, wenn ich nicht versuche in seiner Nähe zu sein? Und eine andere Chance werde ich wahrscheinlich nie bekommen. Oh mein Gott, ich hörte mich total gruselig an. Als würde ich ihn stalken wollen. Dabei wollte ich nur herausfinden, wer er war. Wer er wirklich war. Ich hatte nämlich auch schon beim ersten Sehen das Gefühl, im inneren war er eine ganz andere Person. Und genau das machte ihn meinen Augen interessant.
"Gut, ich werde euch helfen. Wann?", stimmte ich also der Idee zu, worauf Ellie noch weiter Grinsen musste. Maxime übernahm wieder das sprechen. "Morgen, direkt nach der Schule. Will wird uns mitnehmen." Plötzlich fing mein Herz an zu klopfen und Aufregung machte sich in mir breit. Das ist meine Gelegenheit, ein Gespräch mit ihm zu führen. Ich nickte und freute mich mehr auf das Treffen, als ich eigentlich sollte. Wir treffen uns nur zum Hausaufgaben machen, redete ich mir selber ein und holte tief Luft um mein Herz zu beruhigen. Und das nicht mit Will, nur mit Ellie und Max. "Ich hoffe, bei euch gibt es leckeres Essen", meinte ich zu Maxime und lächelte ihr zu. "Natürlich", erwiderte sie und wandte sich an Ellie. "Lass uns wieder zurück gehen, du weißt, wie streng Herr Müller sein kann." Sofort erlosch Ellies Lächeln und sie wurde blass. "Ja, lass uns lieber gehen." Mitfühlend sah ich zu, wie die beiden Mädchen zwischen den Bücherregalen entlang nach draußen liefen. Ja, Herr Müller war sehr streng. Ursprünglich kam er aus Deutschland, ist laut eigenen Angaben vor 10 Jahren hergezogen. Er duldete keine Minute Verspätung und saß selber immer schon 10 Minuten eher in der Klasse, als er sollte. Selbst beim Lehrerwechsel stand er schon vor der Klassenzimmertür und wartete nur auf den Gong. Dazu wollte er unbedingt, dass wir ihn mit "Herr" ansprechen und nicht mit Mr. In seinen Stunden duldete er kein Wort Englisch und scheute sich auch nicht, mal eine schlechte Note zu verteilen, wenn man ein deutsches Wort nicht kennt. Ein ganz gruseliger Mann, der leider auch zu der Sorte gehörte, die nie krank war. Bei seinem Unterricht lernte man auch nix. Meistens redete er etwas auf deutsch, was kein Mensch verstand und überhaupt nichts mit dem Thema zu tun hatte.
Gerade als ich wieder meine Nase in das Buch schob um mich von dem seltsamen Gefühl in meiner Brust abzulenken, wurde meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Etwas weiter weg an einem Bücherregal, fast gegenüber von mir, standen zwei Mädchen aus der 7. Klasse. Aber das war nicht das, was mir auffiel. Ich wurde durch die besorgte Stimme aufmerksam, die leise meinte: "Ich frage mich, was mit ihr ist. Sonst fehlt sie nie und auf die Nachrichten antwortet sie auch nicht." Das andere Mädchen nickte und ihre blauen Augen glänzten wegen den unterdrückten Tränen. "Denkst du, ihr ist was passiert?" Das andere Mädchen zuckte mutlos mit den Schultern. "Ich hoffe nicht, Michelle ist sonst immer sehr vorsichtig."
Meine Warnsignale meldeten sich. Michelle Cooper. Seit sie auf dieser Schule war sie Klassenbeste der ganzen Klassenstufe. Nie hatte sie einen Fehltag gehabt oder war sonst irgendwie negativ aufgefallen. Mit Ehrgeiz und Zielstrebigkeit hat sie sich aktiv an der Schülerzeitung beteiligt und wurde von allen Lehrern geliebt. Es kann doch kein Zufall sein, das ausgerechnet sie einfach fehlte. Eigentlich konnte das alles bedeutet, etwas in der Familie oder dergleichen. Vielleicht war sie auch krank geworden. Deswegen blendete ich die zwei wieder aus und widmete mich meinen Recherchen. Ich schaffte es tatsächlich ziemlich viele Informationen zu bekommen als der Gong läutete und das Ende der Mittagspause ankündigte. Ich packte meine Notizen zusammen, legte die Bücher auf den Bücherwagen und ging aus der Bibliothek raus. Wir hatten gleich Englisch bei Miss Hartfield und da sie immer etwas später kam, ging ich die alten Flure nochmal zur Toilette. Seit ich die Bibliothek verlassen hatte, lag wieder diese seltsame Gefühl auf meiner Brust. Durch die Recherchen konnte ich es kurz abschütteln, aber nun war es wieder da. Was hatte es damit auf sich? Mein Herz pochte und der Schweiß sammelte sich in meinen Handinnenflächen. Im Bad ließ ich mir kaltes Wasser auf meine Hand fließen und betrachtete mich selber im Spiegel. Ein müdes Mädchen mit weichen Gesichtszügen und grünen Augen blickte mir entgegen. Einige Strähnen meiner braunen Haare fielen mir ins Gesicht und ich strich sie mit meinen nassen Fingern zur Seite.
Nein, ich fühlte mich gar nicht wohl. Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf und zu allem übel fingen die Narben oberhalb meines Unteratmes an zu jucken. Ich schluckte. Wahrscheinlich würden mich einige für eine doofe, abergläubische Person halten, aber jedes Mal, wenn die Schnitte an meinem Arm anfingen zu jucken, passierte etwas schlimmes. Diese Schnitte kamen aus der schlimmsten Zeit meines Lebens. Und sie sind Fehler, den ich bis heute bereute. Ich schluckte, wischte mir mit meinen nassen Händen das Gesicht ab und holte tief Luft. Ganz ruhig, Cassy. Die Stimme meiner Mutter drang in mein Bewusstsein, so wie immer, wenn ich mich aufregte. Schnell nahm ich mir die Einwegtücher und wischte mein Gesicht trocken. Wirklich helfen tat dies aber nicht. Besonders da sie nicht wirklich angenehm rochen.
Gerade als ich sie zusammen knüllte und in den Papierkorb warf, ging die Tür zum Badezimmer auf und Susanne, das reiche Blondinchen aus meiner Klasse, kam herein. Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu und stolzierte mit ihrer MC Tasche an mir vorbei. "Hallo, Cassy", flötete sie mit ihrer künstlichen hohen Stimme und betrachtete mich kritisch von oben bis unten. "Wann schnappst du dir eigentlich einen Freund?" Überrascht sah ich ihr in die Augen. Was sollte die Frage? Die grünen Augen, die mich an die einer Schlange erinnerten, blitzten gefährlich auf. Verstehe, sie möchte mich aufziehen. Mutiger als ich mich fühlte, verschränkte ich die Arme und sagte: "Hm, das ist eine gute Frage. Vielleicht mach ich mich an Charly rany wenn wir das nächste mal zusammen lernen." Susanne kniff die Augen zusammen und drehte sich weg. Charly ging in Williams Klasse und gehörte mit zur Clique. Ab und zu lernten wir zusammen, da wir ein Schüler helfen Schülern- Team ware. Eine Aktion von unserer Schule, wo sich zwei Schüler zusammentaten und sich gegenseitig halfen. Die ganze Schule wusste, dass Susanne auf ihn abfuhr, aber jedes Mal abserviert wurde. Sie verstand einfach nicht, das Charly kein Interesse an ihr hatte. Na gut, das war wahrscheinlich für das Blondchen, was nur mit dem Finger schnippsen musste um alles zu bekommen, unglaublich.
Prinzesschen sagte nichts mehr, drehte sich weg und marschierte mit ihren hohen Schuhen in eine Toilettenkabine. Ich konnte ein siegessicheres Grinsen nicht vermeiden und ging nun aus der Toilette raus, Richtung Klassenzimmer. Kurz vor der Tür traf ich auf Miss Hartfield, die gerade die Tür öffnen wollte. Als sie mich erblickte, musterte sie mich besorgt. Miss Hartfield war eine kleine und pummelige Frau mit einem runden Gesicht und kleinen Augen. Ihre Haare waren braun und gingen ihr etwa bis zu den Schultern. Sie war eine sehr liebe und empathische Person, deswegen entging es ihr auch nicht, dass mich etwas bedrückte.
"Cassandra? Ist alles gut? Du siehst so blass aus." Ich zwang mir ein Lächeln auf, etwas was ich über viele Jahre trainiert hatte, und schüttelte den Kopf. "Es ist alles bestens, ich hab nur etwas Kopfschmerzen." Miss Hartfield sah mich unsicher an. "Wenn du möchtest, kannst du dich ins Krankenzimmer legen", schlug sie vor, doch ich schüttelte den Kopf. Alleine dort zu sein, würde nur bedeuten, ich würde mir wieder Gedanken machen. Und zwar richtig viele Gedanken, die mich noch weiter ziehen würden. Und das wollte ich möglichst vermeiden. "Es geht schon, wirklich." Nun musste ich wirklich herzhaft lächeln, ansonsten würde sie mir nicht glauben. Zögernd sah sie mich weiter an, doch nickte nur und erlöste mich ins Klassenzimmer.
Ich trat in die Klasse und ignorierte die spöttischen Blicke meiner Klassenkameraden als ich an meinen Platz ging und mich setzte. Um nichts in der Welt wünschte ich mir jetzt Ellie her und die Einsamkeit packte mich mit voller Kraft, sodass mir fast die Tränen kamen. Warum konnte niemand da sein?
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