44.
Am nächsten Tag gegen Abend darf ich endlich heim. Als ich mein Zimmer betrete, fällt sofort ein kleines Steinchen von meinem Herzen, und ich kuschle mich in mein Bett. Nach nur kurzer Zeit bin ich tief und fest eingeschlafen.
Ich hasse es, mich in einem Spiegel betrachten zu müssen. Eigentlich müsste in der Mitte meines Körpers eine Wölbung zu sehen sein. Eigentlich. Aus diesem schmerzlichen Grund meide ich Ganzkörperspiegel. Als nach einer Nacht in meinem Elternhaus Manuel vor der Tür steht, bricht wieder einmal das totale Chaos aus.
"Manuel, es t-tut mir so leid!" Als ich ihn so dastehen sehe - komplett durchnässt vom Regen - fließen auch schon die ersten Tränen.
"Warum, Hannah? Hast du es vielleicht sogar abtreiben lassen?!"
"W-Was?!" Mit großen Augen starre ich ihn an. Das ist doch nicht sein Ernst! "Manuel, auf keinen Fall! Glaubst du wirklich, ich töte mein eigenes Kind? Ich bin von Anfang an für das Baby gewesen! Verdammt, ich kann doch nichts dafür! Wirf mir das jetzt nicht vor!" Meine Stimme zittert vor Ungläubig- und Fassungslosigkeit. Manuel scheint wie verwandelt. Er steht eindeutig unter Schock. Ihn hat es viel schlimmer getroffen, als mich, obwohl ich die Mutter bin, und somit am meisten Bezug zu dem Kind gehabt habe.
Plötzlich stürzt Manuel auf mich zu und rammt mich gegen die Wand hinter mir. Seine Hände umschließen meinen Hals. Ich kreische erschrocken auf, und schlage zusätzlich mit meinen Armen um mich. Das Schlucken fällt mir schwer, das Atmen ebenfalls. Ich versuche, seine Hände wegzudrücken, doch wieder einmal versagt es an meinen Kräften. Im richtigen Moment wird meine Mutter aufmerksam, und reißt Manuel von mir weg, dann brüllt sie ihn weiß Gott was für Schimpfwörter und Drohungen an den Kopf. Ich schnappe einstweilen nach Luft und ziehe die Haut an meiner Kehle nach unten, weil ich glaube, dadurch mehr Luft zu erwischen. Als Mum den Vater meines nicht mehr existierenden Kindes hinausbefördert, und die Haustür ins Schloss fällt, breche ich in einen Heulkrampf aus.
"Oh, Hannah, was hast du nur immer für ein Pech ... ", murmelt meine Mutter leise und zieht mich ins Wohnzimmer zur Couch, auf die ich mich sinken lasse. Mir ist noch immer schwindelig. Ich schließe meine Augen und hülle die gelbe, flauschige Decke um mich, die ich zu meinem ersten Geburtstag von meiner bereits verstorbenen Tante geschenkt bekommen habe.
"Schätzchen, trink vorher noch etwas. Du brauchst das jetzt." Ich fasse mir ständig an den Hals.
"Ich glaube, in den nächsten Tagen solltest du einen Schal tragen. Von dieser tollen Aktion ist dir ein Zeichen geblieben." Ich nehme einen kleinen Schluck Wasser, und lege mich dann wieder auf die rechte Seite; den Kopf bette ich auf Mamas Schoß. Die gleichmäßigen Bewegungen ihrer Hände auf meinem linken Oberarm, machen mich müde. Ich habe einen weiteren Freund verloren. Mit diesem Gedanken nicke ich ein.
"Hallo, ist hier jemand?"
"Hannah", flüstert eine Stimme. Sie klingt sehr hell und zerbrechlich.
"Wer bist du?" Eine weiße Gestalt erscheint vor mir. Es ist ein Art Engel, doch ich kann kein Gesicht und keine Konturen erkennen. Es ist einfach ein heller Schatten, der vor mir schwebt und wie durch ein Mikrofon mit Hall spricht.
"Bist du dir sicher, was du da tust?", ertönt wieder die schöne Stimme dieser geheimnisvollen Gestalt.
"Was meinst du?"
"Du musst dich entscheiden, welchen Weg du gehen möchtest. Du kannst nicht beides haben. Hör auf dein Herz."
Bevor ich etwas erwidern kann, verschwimmt das Bild und der helle Schein erlischt. Ich sehe nur schwarz, und realisiere dann, dass ich geträumt habe. Ich muss in meinem Bett liegen, da ich nicht mehr im Schoß meiner Mutter liege, und ein Kissen und eine Decke spüre. Ich erwische zufällig den kleinen Hund, den ich von meiner Mutter geschenkt bekommen habe, und drücke ihn fest an meine Brust. Ich soll auf mein Herz hören. Ich bin mir sicher, dass ich diesen Traum nicht ohne Grund gehabt habe.
Als ich hinunter in die Küche gehe, und Mama beim Kochen vorfinde, gehe ich zu ihr und schlinge meine Arme von hinten um sie.
"Schätzchen, du bist schon wach. Hast du Hunger?" Ich nicke nur. Ich spähe über ihre rechte Schulter und erkenne Pfannkuchen.
"Mhhh", mache ich und beginne den Tisch zu decken. Ich bin froh, den noch warmen Teig an meinem Gaumen zu spüren, und zu wissen, dass ich wenigstens von einer Person noch gemocht werde. Manuel beschuldigt mich schließlich für das, was geschehen ist.
"Mama, ich möchte die letzte Klasse wiederholen und somit den Abschluss machen, damit ich das Abitur habe. So hätte ich viel mehr Möglichkeiten."
"Ja, das habe ich mir schon gedacht. Dieses Jahr?"
"Ja, glaubst du geht sich das noch aus? Also die Anmeldung?"
"Ich schaue nachher im Internet, aber ich denke, dass die Frist noch nicht vorüber ist."
Als meine Mutter nach einer guten Stunde ihren Laptop eingeschaltet und sich über die Anmeldung schlau gemacht hat, ruft sie mich ins Wohnzimmer. Wenn ich vorher gewusst hätte, was für eine Nachricht mich erwartet, hätte ich sofort zu weinen begonnen. So passiert es zwei Minuten später.
"Hey."
"Hey", hauche ich. Nach einem intensiven Blickkontakt schlingen wir unsere Arme umeinander und ich kann nicht anders, als zu lächeln. Es tut so gut, wieder einmal aus Glück die Mundwinkel zu heben.
Als wir uns voneinander lösen, ist Renés erster Kommentar: "Irgendetwas ist komisch. Normalerweise sehen wir uns nur, wenn uns jemand verfolgt, ausnutzen, oder umbringen will. Und heute?" Nun grinsen wir beide.
"Ich kann es spüren, René." Ich blicke in seine rehbraunen Augen. "Alles wird gut, wir sind frei."
James, Tom und Anton sind verhaftet worden. Lebenslang. Vielleicht ändert es sich ja doch noch, aber auf jeden Fall ist es mir im Moment egal. Ich genieße die Zeit mit René. Wir sind nun wieder offiziell zusammen. Meine Mutter meint, wir benehmen uns wie frisch Verliebte (so kommt es mir auch vor).
Aber eine Sache steht mir noch bevor. Ich habe Manuel versprochen, ihm seine Leyla zurückzubringen. Auch wenn er mich erwürgen wollte, weiß ich, dass er es nicht selbst gemacht hat. Er ist in diesem Moment nicht er selber gewesen. René hält mich für verrückt. Ich mich auch, doch wenn ich das Versprechen breche, muss ich mit einem schlechten Gewissen weiterleben, und das ist es nicht wert.
Manuel hat mal erwähnt, dass sie ursprünglich Italienerin ist, und wahrscheinlich wieder zu ihrer Familie zurückgekehrt ist, nachdem Manuel die Beziehung beendet hat.
"Mama ich habe nachgedacht." Fragend sieht sie mich an und hebt eine Augenbraue.
"Ja? Ich glaube, du denkst in letzter Zeit viel nach."
"Ja sicher, aber du wolltest mit mir wohin fahren, und jetzt wäre ich bereit dafür. Lassen wir es uns einfach mal gut gehen!"
Skeptisch mustert Mum mich. "Du hast doch sicher etwas vor. Wieso solltest du auf einmal ..."
"Momentan bin ich halt glücklich. Wenn du nicht willst, dann okay."
"Nein schon gut. Es würde mich total freuen, mit meiner Tochter endlich wieder einmal in ein anderes Land zu reisen." Meine Mutter lächelt.
Schon in drei Tagen würden wir losfahren. Mit dem Zug nach Italien! Und natürlich habe ich einen Plan. Nur noch keinen, der funktionieren würde.
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