35.
Ein warmer Körper liegt hinter mir. Ich frage mich, seit wann ich wieder im Bett meiner Mutter schlafe. Dann erinnere ich mich. Langsam drehe ich mich um und sehe in Manuels schlafendes Gesicht. Ich denke an gestern. Ich habe es ihm erzählt, und anscheinend hat er keine Ahnung, wer ich bin.
"Hannah?" Ich zucke zusammen. Ich bin so vertieft in meine Gedanken gewesen, dass ich nicht bemerkt habe, wie Manuel mich anlächelt.
"Manuel?"
"Guten Morgen."
"Guten Morgen." Auch ich lächle jetzt.
Wir blicken uns in die Augen und bewegen uns nicht. "Ich hole Brötchen, okay?", flüstert mein Gegenüber und beginnt den Versuch, sich aus der Decke zu kämpfen. Ich muss bei diesem Schauspiel lachen und lasse mich zurück in das weiche Kissen fallen. Zehn Minuten später höre ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ich gähne genüsslich und stehe dann auch auf. Ich beschließe, den Tisch zu decken, damit Manuel nicht alles selbst machen muss. Am Weg in die kleine Küche, entdecke ich das Bild von gestern. Ich schaue es mir genauer an. Leyla hat schwarze, lange Haare und eisblaue Augen. Sie lächelt ziemlich glücklich in die Kamera. Und Manuel auch. Als hätte es in seinem Leben keinen schöneren Tag gegeben. Etwas muss schiefgelaufen sein, warum seine Freundin auf einmal fremdgegangen ist. Ein Anlass? Vielleicht eine alte Jugendliebe, die wieder aufgetaucht ist?
Ich suche die Schränke durch, bis ich endlich Teller, Kaffeetassen, Messer, Gabeln und Löffel gefunden habe. Ich koche Tee (obwohl das Geschirr für Kaffee gemacht wurde) und räume den Kühlschrank aus. Als ich einen Schlüssel klirren höre und kurz darauf die Tür aufgeht, lächle ich wieder. Manuel kommt herein und hat zwei Tüten in der Hand.
"Das Brot ist noch ganz warm." Ich gebe ihm das Brotkörbchen und er entleert seinen Einkauf. Danach setzen wir uns an den Tisch und grinsen uns an.
"Guten Appetit!", wünscht Manuel und bestreicht seine Semmel mit Nutella.
Heute nehme ich wieder einmal die Bahn, um in die Arbeit zu kommen. In Gedanken noch immer bei Manuel, verpasse ich beinahe meinen Ausstieg. Ich bin sowieso schon spät dran, deswegen laufe ich über die Brücke und dann in das Gebäude, in dem ich arbeite, hinein.
"Guten Morgen!", begrüßt mich eine Kollegin von mir freundlich. Das kommt auch nicht oft vor. Ich nicke ihr im Vorbeigehen zu und betrete den sich gerade schließenden Lift.
Ordner über Ordner türmen sich auf meinem Schreibtisch. Ich seufze und lasse mich auf meinen drehbaren Sessel sinken. Ich denke an früher. Es ist doch ein Wahnsinn, wie schnell es gehen kann, dass man nicht mehr in die Schule geht, sondern arbeiten muss! Und bei mir ist alles noch schneller gegangen.
"Frau Weingärtner? Ich habe hier noch ein paar Akte für Sie", meldet sich eine ältere Dame, die gerade zu meinem Schreibtisch gekommen ist.
"Oh, ähm. Ja natürlich, legen sie sie hier hin. Danke."
Dann fange ich mal am besten an!
Um halb drei packe ich meine Tasche und mache noch schnell einen Sprung in einen Supermarkt, weil unser Kühlschrank schon wieder ziemlich leer ist. Mama ist anscheinend im Moment im Stress, weshalb sie noch nicht zum Einkaufen gekommen ist.
Ein paar Minuten nachdem ich den Laden betreten habe, merke ich, dass mich dieses Regal an eine Situation erinnert. Ja genau! Hier habe ich René das erste Mal gesehen. Heute erblicke ich jedoch jemand anderes.
"Hannah? Du bist es ja wirklich!" Julian lächelt mich an. Vor ihm - also jetzt zwischen uns - steht ein Einkaufswagen, der bis oben mit Bierkisten angefüllt ist.
"Ähm..." Ich zeige auf seinen Einkauf. Er grinst. "Am Wochenende lass' ich eine fette Party steigen. Den anderen Alkohol hab ich schon gekauft; heute kommt das Bier dran." Ich nicke langsam. Seit wann ist er so der fette-Party-Schmeißer-Typ?
"Du kannst natürlich auch kommen, wenn du magst. Jeder ist eingeladen. Ich werde auf Facebook noch einen Beitrag posten, damit genug Leute aufkreuzen."
"Mal sehen. Im Moment hab ich's nicht so mit feiern und so. Aber trotzdem danke für die Einladung."
"Was gibt's denn?", will Jul da auch schon wissen.
Ich seufze. "Ach, nur ein paar kleine Probleme. Nichts Tragisches; keine Sorge. Womöglich komme ich ja doch." Ich setze ein gefaktes Lächeln auf und verabschiede mich dann von meinem Ex.
Als ich das Geschäft verlasse, rechne ich beinahe damit, von drei Männern überfallen zu werden, doch alles bleibt ruhig. Die Autos parken weiterhin ein und aus, Menschen betreten den Supermarkt und hin und wieder schreit ein Kind, weil es irgendwelche Süßigkeiten nicht bekommen hat. Nichts Außergewöhnliches also. Schade eigentlich; sonst hätte ich höchstwahrscheinlich René gesehen.
Am Abend in meinem Zimmer sehe ich den Post von Julian. Ich bin seit Monaten nicht mehr online gewesen. Ich habe dreiundzwanzig Benachrichtigungen und fünf Freundschaftsanfragen.
Am Samstag Party bei mir zu Hause! Jeder ist erwünscht! Genug Alkohol ist vorhanden ;)
Bis dann Leute!
Darunter steht noch seine Adresse. Das ist das Dümmste, was man machen kann. Warum tut er so etwas?!
Als ich hinunter in die Küche schlendere, erblicke ich Mama, wie sie ins Bad verschwindet. Ich habe kurz ihr rotes Gesicht gesehen.
"Mum?" Ich höre Schritte, die schneller werden. Ich laufe ihr nach.
"Mama?!" Ich höre einen Schluchzer. Endlich erreiche ich meine Mutter.
"Mum, was ist los?"
Sie sieht armselig aus. Tränen fließen ihre Wangen entlang Richtung Boden.
"Lass mich, bitte!", ruft sie mit kratziger Stimme und schmeißt die Tür zu. Verwirrt stehe ich davor. Was hat sie denn?
Ich betrete das Wohnzimmer und schalte den laufenden Fernseher aus. Dann setze ich mich auf das Sofa und warte, bis Mama wieder kommt.
Es dauert eine Viertelstunde, bis ich leise Schritte höre. Ich drehe mich um und betrachtete meine Mutter.
"Sag schon, was ist denn? Warum weinst du?"
Doch wie es scheint, fühlt sie sich nicht bereit dazu, mir ihr Problem zu erzählen. Ich denke mir, dass Papa in wenigen Minuten nach Hause kommen müsste, und er sich dann um seine Frau kümmern soll. Vielleicht sagt sie es ihm ja.
Heute liege ich schon um neun Uhr im Bett. Doch aus irgendeinem Grund kann ich nicht einschlafen. Auf einmal höre ich laute Stimmen. Das ist eindeutig Mama. Wahrscheinlich hat sie das, was sie bedrückt, Dad erzählt. Aber muss sie denn schreien?
Ich öffne meine Zimmertür und lausche.
"Ich hab es doch gesehen! Lüg mich nicht an, verdammt! Warum soll ich dir noch glauben, nachdem du mir so ins Gesicht schwindelst? Wieso tust du mir das an?! Was ist so toll an diesem Flittchen?"
"Linda ist kein Flittchen, Eva! Du kennst sie doch gar nicht!"
"Das will ich auch nicht, ehrlich gesagt! Sie könnte deine Tochter sein! Wie alt ist sie? Zweiundzwanzig? Das ist schrecklich! Hannah ist zwei Jahre älter!"
Ich bin verwirrt. Was läuft denn hier?
"Es tut mir leid, Eva! Es war nur ein einziges Mal! Außerdem will ich nichts mehr von Linda! Du bist doch meine Frau, und nicht sie!" Ich höre, wie Mum wieder zu weinen beginnt.
"Musstest du das jetzt wirklich sagen? Du hast unsere Ehe zerstört! Ich kann dir nicht mehr vertrauen, wenn du mir fremdgehst!" Es fühlt sich an, als würde jemand meine Kehle zusammendrücken. Was hat sie gerade gesagt?!
"Du kannst mir aber trauen! Ich mache das nie wieder." Papas Stimme wird leiser. "Bitte, Eva. Vergessen wir diese Geschichte einfach, okay? Ich liebe dich doch."
Meine Mutter gibt einen verzweifelten Ton von sich. Wenige Sekunden später höre ich, wie sie die Treppe heraufkommt. Dad folgt ihr mit wenig Abstand. Keiner beachtet mich.
Mum scheint einen Koffer genommen zu haben, denn mein Vater meldet sich wieder zu Wort:
"Was machst du da? Packst du jetzt, oder was?!"
"Ja. Für dich. Damit du sofort zu deiner Linda abhauen kannst. Und wehe du stehst in ein paar Tagen wieder vor meiner Haustür, weil sie dich ersetzt hat! Mich wundert es sowieso, dass sie sich so einen Alten wie dich sucht!" Papa wird wütend, aber er kommt gar nicht dazu, etwas zu sagen, denn Mama huscht mit dem Koffer schon bei ihm vorbei und rumpelt die Stufen hinunter. Papa wieder hinten nach. Ich schleiche bis zum Treppenansatz. So habe ich die beiden im Blick.
"Und jetzt hau ab!" Sie wirft den schwarzen Koffer vor die Tür, sodass er die drei Stufen auf den Gehweg hinunterpoltert. Danach schiebt sie ihren Mann nach und lässt die Tür hinter ihm ins Schloss fallen. Sie sieht ziemlich aufgebracht aus. Wahrscheinlich hätte sie im Moment jemanden töten können. Ich will ihr nicht zu nahe kommen.
Noch immer fassungslos stehe ich da und spiele die ganze Szene durch. Mein Dad hat Mama betrogen? Und sie hat es auf eigene Faust erfahren? Ach du Scheiße. Ich bemerke, dass mich meine Mutter ansieht. Ich erstarre erneut.
"Hannah?", flüstert sie mit erbärmlicher Stimme. "Bitte sag mir, dass das ein Traum ist."
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