32.
Am nächsten Morgen finde ich einen kleinen Zettel in meiner Jackentasche. Darauf steht eine Nummer. Ich kann mir schon denken, von wem sie stammt. Doch ich beschließe, noch etwas zu warten. Er ist mir ein wenig zu direkt und dann anscheinend auch nur auf das Eine aus.
Ich schaue mich im Haus um. Es ist heute so still. Wo sind denn alle hin?! Als ich einen Blick durch das Schlüsselloch zum Zimmer meiner Eltern werfe, sehe ich die beiden. Sie scheinen noch tief und fest zu schlafen. Ich beschließe, ihnen das Frühstück ans Bett zu bringen.
Also koche ich Eier, schneide Brot, lege Wurst und Käse auf ein Teller und kämpfe mich mit der blöden Kaffeemaschine ab, bis ich es dann doch hinkriege, braune Flüssigkeit in zwei Tassen rinnen zu lassen. Ich stelle Zucker und ein Tässchen Milch auf das Tablett und nehme es danach vorsichtig.
Bitte wirf es nicht runter, Hannah, denke ich nervös. Das nächste Problem kommt auch schon. Wie soll ich die Tür aufmachen? Ich stelle das Tablett etwas ungeschickt auf dem Boden ab und drücke die Klinke hinunter. Sie schlafen noch immer. Gut.
Als ich ihr Bett erreicht habe, rufe ich mit sanfter Stimme: "Mama, Papa!"
Sie bewegen sich und blinzeln mich schließlich an.
"Hannah?"
"Vorsicht, das Tablett!", erfährt es mir erschrocken, als meine Mutter beinahe ihr Frühstück hinuntergeleert hätte.
"Oh, hast du das extra gemacht? Obwohl du gestern so lange weg warst?" Mum lächelt glücklich. Die beiden beginnen zu essen, während ich ihnen zuschaue. Ich bin so froh, dass ich wieder hier bin. Ganze fünf Jahre habe ich versäumt mit diesen wunderbaren Menschen. Dafür habe ich René kennengelernt.
Sofort werde ich traurig und nachdenklich. Ich verdränge die Gedanken an ihn und konzentriere mich auf meine Eltern. Nachdem sie aufgegessen haben, räume ich alles weg und schalte mein Handy ein. Ein entgangener Anruf von Felicia. Ich melde mich nur wenige Minuten später bei ihr und empfange die Nachricht, dass sie dringend mit mir sprechen müsste.
Wir wollen uns in einer Stunde in einem Café treffen. Bis dahin verschwinde ich im Bad.
Vier Tage sind vergangen, seit ich mich mit meiner besten Freundin getroffen habe. Als ich im Café angekommen bin, hat Feli bedrückt geguckt und irgendwohin gestarrt. Die Ärzte vermuten, dass ihre Mutter Krebs hat. Sie hat Angst. Ich kann sie verstehen.
Unentschlossen tippe ich auf Manuels Kontakt und drücke dann wieder zurück. Soll ich ihn wirklich anrufen? Oder genügt eine SMS? Ich entscheide mich für Ersteres.
Es läutet lange.
"Hallo?", ertönt eine müde, krächzende Stimme.
"Oh, tut mir leid, ich kann später noch mal anrufen. Ich wollte dich nicht aufwecken."
"Wer bist du denn überhaupt?"
"Hannah."
Schweigen. Ich will gerade zu einer Erklärung ansetzen, als es ihm scheinbar wieder einfällt.
"Ah, ja! Diese Hannah! Aus der Disco, oder?" Er ist sofort hellwach.
"Ja, genau die bin ich."
"Ich habe nicht erwartet, dass du dich noch meldest."
"Ja ... Sorry." Womöglich hätte ich es mir aufgrund seiner sexuellen Aktion letztens nochmal überlegen sollen.
"Warum bist du um zwölf Uhr mittags schon wach?"
Ich lache kurz. "Weil ich Hunger habe und vielleicht nicht ewig Zeit habe, zu chillen, so wie du anscheinend."
"Wo arbeitest du denn?"
"In einem Büro." In einem sehr Unbekannten. Hauptsache, ich verdiene ein bisschen Geld. Ich habe vor, das Abi nachzuholen, und mir dann etwas Besseres zu suchen.
"Mhm. Ich studiere noch, falls es dich interessiert." Ich muss daran denken, wie er die Zeit zwischen siebzehn und zweiundzwanzig verbracht hat. Die Oberstufe erfolgreich abgeschlossen, einen Studiengang gesucht und sich dann an einer Uni angemeldet. Und jetzt steckt er gerade mitten drin. Und ich? Ich komme mir vor, als hätte ich eine Lehre gemacht, obwohl ich die siebte Klasse noch beendet habe. Die letzte fehlt mir noch. Womöglich schaffe ich es ja im Herbst, diese Klasse nachzuholen.
"Cool. Wollen wir uns treffen?" Die Frage kommt ganz abrupt, und ich weiß nicht, warum ich sie gestellt habe. Vielleicht, weil ich Ablenkung brauche?
"Sicher." Ich kann das Grinsen von Manuel förmlich spüren. "Bis dann!"
Ich lege das Handy beiseite und nehme es sogleich wieder. Ich lese mir den Chat von René und mir durch. Es sind nicht viele SMS, aber doch genug, um die Sehnsucht nach ihm wieder anzukurbeln und unerträglich zu machen. Energisch stehe ich auf und werfe das Handy in meine kleine Umhängetasche, die ich mir vor kurzem mit Felicia gekauft habe.
"Mama, ich bin dann mal weg! Wartet nicht auf mich mit dem Essen; es könnte später werden!", rufe ich, bevor die Haustür hinter mir ins Schloss fällt.
Manuel und ich wollen uns in einem etwas entfernten Park treffen. Es sind nur wenige Leute hier. Ich erblicke ihn auf der Stelle. Lächelnd kommt er auf mich zu. Heute habe ich nicht vor, so eingeschüchtert und vorsichtig zu sein. Wenn er es tun will, dann soll er es machen! Es ist sowieso egal!
Zur Begrüßung umarmt er mich. Ich bin etwas überrascht, denke aber gleich an meine Gedanken, die noch vor dreißig Sekunden mein Gehirn besetzt haben.
Ich erwidere. So stehen wir da. Miteinander vertraut seit ungefähr fünf Tagen. Wie alte Freunde stehen wir da, in diesem Park, der fast leer ist. Dann fängt es auch noch an, zu regnen. Es ist so ein Regen, bei dem man nicht verhindern kann, dass man nass wird bis auf die Haut. Er wird immer stärker. Manuel hält mich immer noch fest. Ich schließe meine Augen und höre den Regentropfen zu, wie sie auf dem Boden aufkommen. Irgendwo raschelt es. Ich schaue in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist. Ein Eichkätzchen saust von einem Baum herunter und fixiert sich auf eine Nuss, die im nun nassen Gras liegt.
Da merke ich, dass ich weine. Ich lehne meinen Kopf gegen Manuels Brust und höre, trotz des Regens, das regelmäßige Klopfen seines Herzens. Ich könnte ewig so verweilen. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und im Nacken. Ich friere, weil meine Kleidung so durchnässt ist, als hätte ich sie in einen Fluss geworfen und danach gleich angezogen. Ohne ein einziges Wort zu sagen, zieht Manuel seine Jacke aus und legt sie um meine Schultern, dann drückt er mich noch fester an sich. Ich weine leise vor mich hin. Er fragt nicht; er nimmt es einfach so hin, wie es ist.
Nach einer Weile entfernt sich der Mann vor mir etwas und betrachtet mich.
"Komm, gehen wir irgendwohin, wo es warm ist." Ich nicke und folge ihm. Nach ein paar Metern ergreift er meine Hand und drückt sie. Manuel lächelt leicht.
Wir haben uns in einem Café niedergelassen. Der grüne Tee schmeckt etwas seltsam; nicht wie der typische Tee, den wir immer zu Hause haben. Ich trinke ihn trotzdem, damit mir endlich wärmer wird.
"Geht's wieder?", will Manuel nach ein paar Minuten der Stille wissen. Ich nicke.
Ich frage mich, ob er weiß, wer ich bin. Er kennt schließlich meinen Nachnamen nicht.
"Was bringt dich so zum Nachdenken?"
Ich rühre langsam in meiner Tasse um und schaue den dabei entstehenden Wellen zu.
"Ein Mensch."
"Was ist passiert?" Er sieht mich ernst an.
Ich seufze. "Ich habe ihn bereits erwähnt. René." Manuel scheint kurz nachzudenken, dann geht ihm ein Licht auf.
"Ah ja."
"Ich bin mir nicht sicher, ob wir noch zusammen sind. Im Moment hören wir nichts voneinander und ... na ja. Ich bin auf ein paar Sachen draufgekommen, die nicht sehr schön sind."
Manuel nickt langsam. "Willst du mir davon erzählen, oder ist dir das zu privat?", fragt er vorsichtig.
Ich schmunzle. "Es ist nicht so wichtig."
Mein Gegenüber mustert mich. "Wie du meinst."
Nachdem wir unsere Getränke ausgetrunken haben, und Manuel alles bezahlt hat, gehen wir wieder. Vor dem kleinen Café bleiben wir stehen und sehen uns an.
"Ich muss dann leider los. Ich hab noch etwas zu erledigen. Es war sehr schön mit dir." Er lächelt wieder. Ich ebenfalls.
"Ach ja, und es tut mir leid wegen letztens. Ich wollte dich nicht so bedrängen. Ich hab einfach nur ein bisschen zu viel getrunken und nicht nachgedacht, was ich da sage. Das war einfach... der Männerinstinkt, wenn du verstehst, was ich meine." Ich nicke.
Als ich wieder daheim ankomme, sitzt Felicia auf den Stufen, die zur Haustür führen.
"Feli? Was machst du hier im Regen?" Ich fange an zu laufen und setze mich neben meine beste Freundin. Sie weint. Sofort bekomme ich ein ungutes Gefühl.
Ich lege meinen rechten Arm um ihre Schultern und drücke die sanft an mich.
"Was ist los?", flüstere ich.
"Sie ist tot!", schreit Felicia. Ich habe ihre Mutter nicht oft gesehen, da sie meistens arbeiten musste, doch trotzdem kann ich Feli nur zu gut verstehen. Es ist ziemlich schnell gegangen. Doch so ist das Leben.
Ich sage nichts. Es hätte sowieso nichts gebracht, da Worte keine gebrochenen Herzen heilen können. Wir sitzen lange auf dieser Stufe, die nass und kalt ist. Heute habe ich mich bestimmt erkältet.
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Hallo!
Was denkt ihr denn von Manuel? Glaubt ihr, dass er mit James, Tom und Georg verbündet ist, oder dass er vielleicht gar nichts von der ganzen Sache weiß? Ich würde mich über eure Meinung und Feedback freuen!
Eure Lina_Cel_❤❤
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