30.

"Geh weg!", schreie ich mit angsterfüllter Stimme und laufe um mein Leben. Zumindest kommt es mir so vor. René ist mir dicht auf den Fersen. Ich keuche und schnaufe schon vor Anstrengung, doch aufhören kann ich jetzt auf keinen Fall. Vielleicht kommt er auf die Idee, mich auch noch zu töten!

"Hannah, bleib stehen! Wir müssen reden!", ruft er mit lauter Stimme, die mir auf einmal Angst macht.

Ich laufe dadurch nur umso schneller. Doch es genügt nicht. Nach nur wenigen Metern überwältigt mich das Seitenstechen, und ich werde etwas langsamer. Und schon reißt mich René zu Boden. Ich schreie und will mich befreien, doch er hält meine Arme über meinem Kopf fest. Ich schaue ihn panisch an.

"Hannah! Beruhige dich! Du weißt doch, dass ich nicht ... normal bin." Er keucht ebenfalls. Wir sehen aus, als wären wir einen Marathon gerannt.

"Geh von mir runter", presse ich zwischen meinen Zähnen hervor.

"Es tut mir leid, dass du das sehen musstest, aber ich musste schnell handeln."

"Ach ja? Und ihn gleich umbringen? Willst du unbedingt ins Gefängnis zurück?!"

"Ne, aber ..." Er steht mit einem Ruck auf und geht von links nach rechts und wieder zurück. Das Ganze wiederholt sich ein paar Mal, bis er vor mir stehen bleibt und auf mich heruntersieht.

"Hannah, bitte hab keine Angst. Ich würde dir nie im Leben wehtun, auch nicht, wenn mich jemand zwingt." Ich starre ihn mit großen Augen an. Die Panik wird langsam schwächer und meine Atmung normalisiert sich. Ich schlucke und schließe meine Augen.

"Kommst du? Suchen wir uns eine Bleibe." Er hält mir seine linke Hand hin, die ich zögernd ergreife. Er zieht mich hoch, danach stehen wir voreinander und sehen uns in die Augen. Er nimmt meine Hände und mustert mich mit einem intensiven Blick.

"Hab keine Angst. Es ist alles gut. Ich werde das nicht wieder tun, okay?", flüstert René. Ich senke meinen Blick und atme ein paar Mal tief ein und aus.

"Okay."

Gemeinsam verschwinden wir von hier und suchen uns ein Hotel. Nur wenige Zeit später entdecken wir eines und buchen ein Zimmer mit Doppelbett. Wir sind beide ziemlich müde und deswegen lassen wir uns, als wir auf unserem Zimmer ankommen, auch gleich auf das Bett fallen. Dabei zerstören wir die schönen Handtuchfiguren, die das Bett verziert haben.

Wir liegen beide am Rücken und sehen uns an. Renés Kopf ist nach rechts geneigt, meiner nach links.

"Warum machst du das?"

"Was meinst du?"

"One-Night-Stands, Entführungen von Frauen, Menschen töten...", erkläre ich ihm mit leiser Stimme. Er seufzt.

"Ich habe nichts anderes gelernt."

Ich schnaube. Ich mag diesen René nicht. Er hat mich schließlich auch entführt. Und das verheißt nichts Gutes.

"Wie schon gesagt, ich mache es nicht wieder. Nichts von dem ganzen Scheiß, den du gerade aufgezählt hast." Ich starre an die Decke. Ein seltsames Gefühl hat sich in meiner Magengegend ausgebreitet.

"Ist alles in Ordnung? Du siehst so bleich aus", bemerkte mein Freund und stützt sich auf seinen rechten Ellenbogen.

"Mir ist nur ein wenig s-schlecht. Sonst nichts", stottere ich und stehe auf. Es dreht sich auf einmal alles. Ich wanke ins Bad und schaue mein Spiegelbild an. Ich sehe schrecklich aus. Ich schließe die Tür und steige unter die Dusche.

Das warme Wasser prasselt auf meinen Körper. Ich fixiere einen Punkt vor mir und vergesse komplett, dass ich den Duschkopf in der Hand halte. Krachend fällt er zu Boden und ich werde aus meiner Trance gerissen. Erschrocken schaue ich hinunter.

RENÉ

Ich zucke zusammen, als plötzlich ein lautes Geräusch aus dem Bad ertönt. Ich springe auf und reiße die Tür auf. Ich atme erleichtert auf, als ich sehe, dass es nur der Duschkopf gewesen ist. Doch Hannah macht mir ernsthafte Sorgen. Sie starrt auf die Duschtasse, als wäre sie das Interessanteste auf der Welt.

"Hannah?", frage ich und gehe zur Glasscheibe. Sie reagiert nicht.

"Hannah!"

Langsam dreht sie ihren Kopf zu mir. Es kommt mir so vor, als würde sie durch mich hindurchsehen. Mit ihren wunderschönen, aber im Moment leeren Augen schaut sie mich an.

Mir wird unwohl zumute und ich öffne die Tür, um meine Freundin aus der Dusche zu holen. Schlaff lässt sie sich in meine Arme sinken. Als sie auf dem Bett liegt, hat sie die Augen bereits geschlossen. Ich setze mich auf die Bettkante und beobachte Hannah besorgt. So viel hält sie wohl doch nicht aus. Aber sie kapiert es einfach nicht! Ich bin kriminell, und so schnell wird sich das nicht ändern. Ich kann das nicht abstellen, als wäre ich ein Roboter. Es tut mir so leid, dass ich damals genau Hannah ausgewählt habe in dem Supermarkt, und nicht irgendeine Nutte oder so, die sowieso nichts mit ihrem Leben anfängt. Ich habe Hannahs Zukunft versaut. Wahrscheinlich hatte sie konkrete Pläne mit ihrem Freund und steuerte eine bestimmte Karriere an, doch ich habe alles zerstört.

Ich lasse meinen Kopf in meine Hände sinken und balle meine Hände an meiner Stirn zu Fäusten.

"Fuck!", zische ich wütend und verzweifelt zugleich. Sie liegt noch immer in der gleichen Position wie vorhin. Was ist gerade mit ihr los gewesen? Sie ist einfach zusammengebrochen ... wegen mir. Scheiße! Ratlos stehe ich auf und tigere im Raum herum, bis ich schließlich das Zimmer verlasse und einfach irgendwo hinlaufe.

HANNAH

Meine Gliedmaßen sind schwer und zuerst glaube ich, sie nicht mal einen Millimeter heben zu können, aber dann schaffe ich es doch. Ich sehe mich mit zusammengekniffenen Augen um. Wo ist René? Ich rutsche langsam zur Bettkante und versuche, aufzustehen. Was ist eigentlich passiert? Ich weiß nur noch, dass plötzlich alles schwarz wurde und ich irgendwie duschen oder so gewesen bin.

Ich betrete das kleine Badezimmer und betrachte mich im Spiegel. Ich sehe aus, als hätte ich eine Woche nicht geschlafen. Dunkle Ringe unter den Augen, fettige, verstrubbelte Haare, verschmiertes Make-Up und kreidebleiche Haut. Ich brauche mich nicht auszuziehen, weil ich eigentlich schon duschen gewesen bin. Beim zweiten Versuch bin ich nun aber erfolgreich.
Sorgfältig massiere ich das bereits im Hotel vorhandene Shampoo in meine Haare ein und spüle es anschließend wieder aus. Der Abfluss scheint verstopft zu sein, denn das Wasser rinnt nur ganz langsam weg. Na wenigstens ist der Boden der Dusche etwas tiefer, sodass der Wasserspiegel ruhig etwas steigen kann, ohne dass ich gleich Angst haben muss, es könnte überlaufen.

Ein paar Sekunden genieße ich noch das heiße Wasser, dann drücke ich den Hebel nach hinten und es wird leise. Nachdem ich wieder angezogen bin, föhne ich mich noch kurz. Als ich das Bad verlasse, weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich suche erst einmal mein Handy. Aber es ist nicht hier. Ich runzle meine Stirn, als ich Renés iPhone sehe. Ich schalte das Display ein und sehe, dass er drei neue Nachrichten hat. Ich habe zuvor noch nie auf seinem Handy herumgeschnüffelt, oder es auch nur angefasst, aber jetzt kann ich einfach nicht anders. Ich ziehe mit meinem Daumen den Entsperrungsbalken nach links und öffne die erste SMS.

Von James (19:16)

Du bist so ein Arschloch, René. Wir werden dich und unser Mädchen schon noch finden! Das verspreche ich dir. So auffällig jemanden im Ausland zu töten, ist nicht gerade klug.

Ich lösche diese Nachricht und mache dafür die Zweite auf. Ein Mädchen hat geschrieben. Verwirrt lese ich die Zeilen durch.

Von Nadine (18:37)

René, wie lange hast du dich jetzt schon nicht mehr gemeldet? Wo warst du denn in den letzten Jahren? Ich vermisse dich, und dein Sohn ebenfalls! Er kann sich schon gar nicht mehr an dich erinnern. :(
Wahrscheinlich weißt du nicht einmal mehr, wie alt er ist. So nebenbei: Er ist vier.

Bitte melde dich endlich, ja? Ich liebe dich noch immer!

Ich starre auf den Bildschirm und verstehe rein gar nichts. Ich muss mir die SMS noch drei Mal durchlesen, bis ich kapiere, was das bedeutet. "Er ... Er hat einen S-Sohn?", flüstere ich geschockt. Das heißt, dass er vor vier Jahren ein Kind mit einer Frau gezeugt hat, während ich bei diesem Schwein namens Anton gefangen gewesen bin. Damit er auch diese Nachricht nicht lesen wird, werfe ich sie ebenfalls in den Papierkorb.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Dritte wirklich öffnen will. Aber die Neugier siegt.

Von Nadine (18:40)

Gut, du schreibst mir sowieso nicht zurück. Ich frage dich nicht, sondern fordere dich dazu auf, dass du dich mit mir triffst. Und zwar morgen um vierzehn Uhr!

Da ihr noch immer niemand zurückgeschrieben hat, fängt das IPhone auf einmal zu vibrieren an und auf dem Display steht: Nadine ruft an ...

Ich habe zwar keine besondere Lust, mit dieser Frau zu reden, aber wieder einmal bin ich viel zu neugierig.

"Hallo?"

"Ähm, hi", ertönt eine hohe Stimme.

"Was wollen Sie?"

"Mit wem spreche ich denn?"

"Mit ... ähm ... Wintersberger." Ich ziehe eine Grimasse bei meiner schlechten Lüge.

"Aha, und warum haben Sie das Handy von René?"

"Tut mir leid, aber ich kenne keinen René. Da müssen Sie sich verwählt haben. Waren Sie das etwa mit den komischen SMS? Ich hab mich schon gewundert."

"Oh, ähm. Entschuldigung", murmelt die Frau am anderen Ende der Leitung.

"Schon gut. Jetzt wissen Sie wenigstens, dass sie eine falsche Nummer von ihrem René haben", sage ich und schaue dabei aus dem Fenster. Sie ist mir jetzt schon unsympathisch.

"Okay, dann ... Auf Wiedersehen!" Und schon hat sie aufgelegt. In dem Moment höre ich ein Klicken und die Tür geht auf. Schnell verstecke ich das iPhone hinter meinem Rücken und mustere René. Er sieht verzweifelt aus. Er hat geweint.

"Hannah? Es tut mir leid. Alles, ich habe keinen Plan, was ich machen soll, damit ich dir dein vollständiges, altes Leben wieder zurückgeben kann." Er kommt ein paar Schritte näher. Ich bin komplett starr und perplex. "Ich habe dir alles gestohlen, was einst nur Dein war, und ich kann es dir nicht zurückgeben. Ich habe deine Familie auseinandergerissen, deine Eltern in Verzweiflung gestürzt und die Beziehung zwischen dir und deinem Freund ruiniert. Scheiße, verdammt! Du musst verschwinden, bevor ich dir noch mehr antue! Bitte, geh! Vergiss mich!" Tränen glänzen in seinen rehbraunen Augen.

"Hau ab, Hannah! Du hast es doch selbst gesehen; ich bin ein Mörder, ein Krimineller! Das kann ich nicht abschalten!" Er brüllt mich richtig an, doch ich merke, dass es nicht nur Wut ist, sondern auch tiefe Verzweiflung. Plötzlich wird es still. Tränen laufen Renés Wangen hinunter. Mir auch. Er dreht sich von mir weg und lässt sich gegen die Wand fallen. Er hat Recht. Ich muss abhauen. Er ist Vater eines vierjährigen Jungen, den er schon längst zu vergessen haben scheint. Bei mir wird es wahrscheinlich auch so sein. Er wird mich nach einiger Zeit aus seinen Gedanken verbannen und dann ist es aus. Jetzt, in diesem Augenblick ist es aus. Zumindest für mich. Was René macht, ist mir egal, ich werfe sein Handy auf das Bett und laufe davon, weit weg, damit ich nicht mehr in Gefahr schwebe, so wie ich es schon seit sieben Jahren tue. Endlich wird mein Leben wieder normal. Doch ich habe Angst vor der Zukunft. Wie wird sie aussehen? Ich kenne meine Vergangenheit doch gar nicht mehr! Alles dreht sich nur noch um René!

Mein Weg führt zum Flughafen. Irgendwie schaffe ich es, mir ein Ticket nach Deutschland zu besorgen. Alles geschieht wie in Trance, als würde ich das alles gar nicht selber machen. Als ich endlich im Flieger sitze, kann ich es nicht mehr länger zurückhalten. Die Tränen bahnen sich ihren Weg meine Wangen hinunter und ein Schluchzer entfährt mir. Es ist vorbei. Endgültig. Ich werde ihn nie wieder sehen müssen, alles wird gut. Ich werde meine Eltern und Felicia wieder sehen und dann kann ich alles in Ruhe vergessen, was in den letzten sieben Jahren passiert ist. Endlich kann ich damit abschließen. Es wird gut tun. Ich werde wieder die alte Hannah sein, die mit ihren Freunden auf Partys geht und ordentlich feiert und nicht wie eine Besessene einem Kriminellen hinterher läuft. Alles wird rosig und schön, da bin ich mir sicher. Zumindest glaube ich das. Oder auch nicht.

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Hallo, Leute! :)

Was glaubt ihr denn, wie es in Zukunft weitergehen wird? Trennen sich nun wirklich ihre Wege, oder ist es nur momentan? Schreibt mir eure Ideen doch in die Kommentare! :D

Eure Lina_Cel_♥♥

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