T R E C E
„Paris, wir müssen reden!"
Levin hatte sich nicht gerade den besten Moment ausgesucht, um ein Gespräch mit mir zu führen. Schließlich standen wir gerade direkt vor dem Gerichtssaal.
Also zumindest vor dessen Tür.
Richtig gelesen, nur noch eine Tür trennte mich von meinen unschuldigen Eltern.
„Bitte, es ist wichtig!" Levins Blick sah mich flehend an.
Generell hatte er sich ganz anders verhalten, als ich ihn mir vorgestellt hatte.
Denn am Telefon hatte er witzig und charmant gewirkt.
Im Flugzeug hingegen, war er still und nachdenklich gewesen und hatte kein einziges Mal gelacht.
„Ich bringe ganz kurz die Beweismittel zum Richter und dann können wir in aller Ruhe reden."
Man sah Levin deutlich an, dass er noch etwas sagen wollte.
Doch dafür hatte ich nun wirklich keine Zeit! Wir waren eh schon viel zu spät dran.
Überschwänglich öffnete ich die Tür.
Und erstarrte.
Der Hammer des Richters schwebte in der Luft und war kurz davor, auf den Tisch geklopft zu werden.
„Warten Sie!" Hastig schritt ich durch den Saal.
Meine Augen fixierten den Richter. Alles andere blendete ich aus.
„Meine Eltern sind unschuldig! Hier, ich bringe den Beweis."
Zuversichtlich reichte ich dem Richter den USB-Stick mit den Videos von Pablos Geständnis und den Vorfällen in der Lagerhalle.
„Unser Pizzabote hat die Drogen unter der Tanzfläche versteckt. Er hatte den Haustürschlüssel und ist immer rein und rausgegangen, als wir schliefen."
Lächelnd drehte ich mich zu meinen Eltern um.
Sie würden stolz auf mich sein und mich umarmen. Alles würde wieder wie früher werden!
Mein Lächeln erstarb, als ich meine mamá weinen sah.
Mein padre stand wütend neben ihr.
„Was verstehst du an den Worten halte dich fern, bis das alles vorbei ist nicht?", knurrte er, sein Gesicht rot vor Wut.
„Ich habe den Täter gefunden, der uns Drogenhandel in die Schuhe schieben wollte", flüsterte ich geschockt.
„Mir wurden Schusswaffen an den Kopf gehalten! Wie wäre es mit ein bisschen Dankbarkeit?"
Meine Stimme wurde unbewusst lauter und schriller.
Dusch.
Die Tür wurde wieder aufgerissen und Levin stolperte rein.
„Paris, wir müssen jetzt wirklich ganz dringend reden!"
Verwirrt sah ich zwischen Levin, meinen Eltern und dem Richter hin und her.
„Der Prozess wegen der Drogen findet erst in einer Woche statt", erklärte der Richter. Sein Gesicht sah mitleidig aus.
„Und was ist das dann für ein Prozess?"
Unbehagen breitete sich in mir aus.
Was ist hier los?
„El señor Valencia und la señora Valencia wird vorgeworfen, ein Baby ihrer Freundin adoptiert zu haben, im Wissen, dass dieses Baby entführt worden war."
Die Worte schienen im Raum widerzuhallen.
Mein Gehirn ratterte und benötigte einen Moment, um diese Aussage zu verarbeiten.
Die Adaption eines Babys, dass unfreiwillig einer Mutter entrissen wurde ...
Levin packte mich jetzt bestimmter am Arm und zog mich Richtung Ausgang.
„Und anscheinend ist es wahr."
Der Richter holte abermals mit dem Holzhammer aus.
„Darf ich deine Papiere sehen?"
Betäubt schüttelte ich den Kopf. „Ich habe keine."
Der Richter nickte. „Weder Pass, noch Schülerausweis."
Dumpf.
Der Hammer schlug auf den Tisch.
Der Richter verkündete: „Das Gericht verkündet sein Urteilt: Fünf Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von dreitausend Euro. Zur Begründung ..."
Während mich Levin und mittlerweile auch Boston von dem Geschehen wegzogen, sah ich nur das weinende Gesicht meiner mamá und den vorwurfsvollen Blick meines padres.
Dabei wusste ich genau, was er dachte.
Es war meine Schuld.
Wäre ich hier nicht aufgekreuzt, dann hätten sie keinerlei Beweise gehabt, irgendjemanden adoptiert zu haben.
Nichtmal meine Nachbarn kannten mich, schließlich schlief ich ja immer, wenn diese am Tag lebten.
Es ist meine Schuld.
Inzwischen hatten wir den Ausgang erreicht.
Fünf Jahre.
Levin schloss die Tür.
Dreitausend Euro.
Schluchzend brach ich in Bostons Armen zusammen.
Es war meine Schuld.
-
„Was hast du damit zu tun?"
Total überfordert, drehte ich mich zu Levin um, welcher mir nur schweigend ein Foto reichte.
Als ich es näher betrachtete, stockte mir der Atem.
Denn darauf war ein Gesicht abgebildet, das zwar nicht meines war, doch meinem sehr ähnlich sah.
Zu ähnlich, meiner Meinung nach.
„Als Baby hat die niñera meiner Schwester mal kurz nicht aufgepasst. Sie war mit ihr und mir in der Stadt gewesen. Genauer gesagt am Spielplatz. Meine Schwester hatte neue Kinder zum Spielen kennengelernt und da ich unbedingt die Rennautos auf der anderen Straßenseite angucken wollte, ließ die niñera meine Schwester mit den anderen Kindern kurz alleine."
Während Levin erzählte, wurden seine Augen glasig.
„Es waren nur zwei Minuten. Ich war auch stinksauer, dass ich nur zwei Minuten diesen coolen Wagen bewundern durfte."
Auch seine Stimme klang zerbrechlich.
„Es waren zwei Minuten zu viel. Denn als wir wiederkamen, sahen wir in der Ferne einen Mann, der sie auf seinen Schultern wegtrug. Zu den anderen Eltern hatte er gesagt, er sei der Vater."
Nun sah er mich an.
„Wir haben nie aufgehört, sie zu suchen! Den Entführer fanden wir schnell, auf jeder einzelnen Überwachungskamera in der Stadt sah man sein Gesicht klar und deutlich! Doch als die Polizei das Haus des Täters stürmte, fand man diesen tot am Boden vor. In seiner Brust steckte ein Messer und meine Schwester war nicht mehr da."
Seine Geschichte berührte mich.
Trotzdem verstand ich nicht, was das alles mit mir zu tun haben sollte.
„Meine Eltern haben nie aufgehört, sie zu suchen. Auch ich habe jeden einzelnen verdammten Tag nach ihr Ausschau gehalten und mir jährlich von einer Agentur ein Bild machen lassen, wie sie anhand ihrer genetischen Veranlagung aktuell aussehen könnte."
Leicht deutete sein Kopf auf das Foto.
„Als ich dich in der Lagerhalle sah, kamst du mir unglaublich bekannt vor. Im Flugzeug wurde mir auch klar, warum. Doch ich war mir nicht sicher und wollte nichts überstürzen ..."
Sowohl Boston, als auch Levin sahen mich an.
Dann Stille.
„Ach du heiliger Bimbam, das würde ja bedeuten, dass ich deine Schwester bin!"
Misstrauisch musterte ich Levin von oben bis unten, während Bostons Augen sich erschrocken weiteten.
Levin brauchte zum Glück einen Moment länger, um diese Aussage zu verarbeiten.
„Also das war jetzt nicht so gemeint", schob ich schnell hinterher.
„Aber du hast überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass ich sie bin!"
Ich lachte ein wenig.
Das war doch überhaupt nicht möglich!
Wie wahrscheinlich war es denn, dass Levin seiner verschollenen Schwester einfach so über den Weg lief? Sie sogar rettete, da sie gerade einen Drogendealer stellte?!
Meine rechte Seite bekam einen kleinen Schubs von Boston, der zu dem Foto nickte.
„Was?!" Widerstrebend sah ich mir dieses kleine Bild nochmal an.
„Es gibt bestimmt noch viele andere Menschen auf dieser Welt, die dieses Gesicht haben. Außerdem könnte sich deine Schwester auch die Nase operiert haben, weil sie ihr zu kantig war oder ihre Lippen mit Botox vollgepumpt haben! Tattoos, Piercings, was weiß ich, was Jugendliche alles machen, wenn sie in der Pubertät Selbstzweifel haben?"
Trotzig verschränkte ich meine Arme. Ich war nicht Levins Schwester ... Das konnte einfach nicht wahr sein!
Aus dem Gerichtssaal strömten nun Menschen. Unbewusst fuhr ich mir durch die Haare.
Sofort richtete sich Levin kerzengerade auf. „Das hat sie auch immer gemacht!"
Augenverdrehend konzentrierte ich mich wieder auf Levin.
„Ich bin in einem Club aufgewachsen, was erwartest du?"
„Du bist was?!"
Mit einer Mischung aus Entsetzen und Überraschung sah mich mein potentieller Verwandter an.
„Nicht so wichtig", entgegnete ich nuschelnd. Meine ganze Lebensgeschichte musste ich jetzt auch nicht unbedingt vor dem Gerichtssaal und zwischen einer Traube von Menschen erzählen.
„Gibt es sonst noch irgendetwas, was du mir erzählen willst? Zum Beispiel das Boston mein Cousin ist oder so?"
Ironisch sah ich ihn an.
Boston legte währenddessen instinktiv seinen Arm um meine Taille.
„Wenn du eine Garantie haben möchtest, nicht mit Boston verwandt zu sein, dann musst du mich als deinen Bruder annehmen."
Seufzend zuckte mein Blick zwischen Levin und dem Gerichtssaal hin und her.
Von meinen Eltern war keine Spur zu sehen. Was sie im Gerichtssaal jedoch gesagt hatten, könnte doch irgendwie zu Levins Geschichte passen.
„Wie auch immer."
Aus einem Instinkt heraus umarmte ich Levin und klopfte ihm unbeholfen auf die Schultern.
Dann löste ich mich wieder von ihm. „Ich will trotzdem einen DNA-Test!"
„Du wirst nicht die Einzige sein, die den haben möchte."
Gleichzeitig schauten wir alle drei zu dem Richter, der mit langen Schritten aus dem Gericht gestürmt kam.
-
„Wer von uns Spasten hatte nochmal die Idee hierher zurückzukommen?"
Unschlüssig standen Olivia, Carlo, Boston und ich vor den mächtigen Toren der Schule.
Keiner von uns traute sich, den ersten Schritt zu machen.
„Jetzt können wir noch umdrehen und keiner würde es bemerken", versuchte Boston ganz beiläufig zu erwähnen, während er seine Arme um meine Schultern legte.
„Jetzt stellt euch nicht so an."
Selbstbewusst ging Olivia vor. Wie sich herausstellen würde, lohnte sich die kleine Überwindung.
Kaum waren wir in unserer Klasse angekommen, wurden wir schon von unseren aufgeregten Mitschülern in Empfang genommen.
„Schnell, schnell", rief einer.
Ein anderer schob uns in die Klasse, während wiederum eine andere einen Schraubenzieher zückte.
„Wir haben so 'nen Praktikanten bekommen und der hat uns letztes Mal mega beleidigt!", erklärte Dylan, der Typ, der dauernd aß.
Keiner von uns vier antwortete, dafür waren wir einfach viel zu geschockt, als wir einem Mädchen dabei zusahen, wie sie den Türhenkel von der äußeren Seite der Tür abmontierte.
„Schnell, schnell! Alle auf die Plätze."
Jeder einzelne setzte sich auf seinen Platz.
Einer stellte den Beamer an, auf dem das Sichtbild einer Kamera erschien, die unsere Klassentür ohne Türhenkel von oben filmte.
Das Mädchen, das diese Tat vollbracht hatte, schmiss den Türgriff auf den Lehrertisch und setzte sich ebenfalls hin.
Keine drei Sekunden später sahen wir über den Beamer einen jungen Mann völlig zerstreut auf unser Klassenzimmer zu stolpern.
Gedankenverloren griff er nach dem Türhenkel und somit ins Leere.
Kichernd lehnte ich mich zu Boston zurück und machte es mir an seiner Schulter bequem.
Das konnte ja noch ein bisschen dauern ...
Klopf, klopf.
Der arme Praktikant klopfte erst zaghaft, dann fester an der Tür.
Doch anstatt die Tür zu öffnen, kicherten wir nur.
„Hat jemand Popcorn?"
Ohne sich umdrehen zu müssen, wusste jeder in der Klasse, dass Dylan diese Frage gestellt hatte.
Der Praktikant sah sich währenddessen hilfesuchend um.
Ein paar weitere Minuten klopfte er weiter an unsere Tür und rief sogar nach uns, doch wir Schüler taten so, als würden wir ihn nicht hören.
Dann verschwand er aus dem Sichtfeld der Kamera.
„Was hat er eigentlich genau getan, damit der Arme das verdient hat?", fragte ich lachend in die Runde, nachdem wir uns alle wieder ein bisschen eingekriegt hatten.
„Nun ja, es waren immer so Kleinigkeiten. Doch ausschlaggebend war eigentlich die Aussage, dass wir ideal ungeeignet sind."
Das Wasser, das ich soeben trinken wollte, schoss mit voller Kraft aus meinem Mund raus.
Prustend, hustend, aber vor allem fassungslos, sah ich Alex an.
„Soll das ein Witz sein?"
Ihr seid nämlich wirklich alle ideal ungeeignet.
Verwirrt sah mich Alex an und versuchte sich dabei, unauffällig meinen Speichel von seinem T-Shirt wegzuputzen.
„Wie meinst du das?", hackte er nach.
„Das war doch bestimmt nicht ernst gemeint, dass ihr ideal ungeeignet seid!"
„Aber uns anfauchen und fragen, ob wir unsere Weisheit aus der Luft holen, wenn wir mal kurz nicht aufpassen ... das war bestimmt ernst gemeint!"
Kopfschüttelnd schnappte ich mir den Türgriff und den Schraubenzieher und marschierte damit zur Tür.
Erst öffnete ich diese nur einen Spalt.
Als ich sicher gegangen war, dass die Luft rein war, schwang ich sie auf und machte den Streich wieder rückgängig.
Zumindest hatte ich das vor ...
Doch einen Türhenkel abschrauben ging schneller, als ihn wieder anzuschrauben.
Mühselig stopfte ich die Schraube zum fünften Mal wieder in das Loch.
Dabei fluchte ich, was das Zeug hielt.
Ein Finger, der fest an meine Schulter tippte, ließ mich innehalten.
Langsam drehte ich mich um und blickte direkt in das wütende Gesicht des Praktikanten, das feuerrot angelaufen war.
Perfekt. Gleich mal wieder einen tollen ersten Eindruck hinterlassen.
Hinter ihm stand ein älterer Lehrer, den ich noch nicht kannte.
„Ähm ... ich ... bin von der Feuerwehr."
Stolz, so schnell eine plausible Ausrede gefunden zu haben, strahlte ich die beiden Männer an.
Doch mein Stottern musste die Glaubwürdigkeit meiner tollen Ausrede geraubt haben.
Anders konnte ich mir zumindest nicht erklären, warum ich drei Minuten später vor der Direktorin saß.
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