N U E V E

„Also, du Superhirn! Die Idee an sich finde ich ja ganz gut, aber ich bin ein Mensch und kein Oktopus ... Und du glaube ich auch nicht." 

Kritisch musterte ich Bostons athletische Statur. 

„Oder?" 

Als ob ich mir nicht ganz sicher wäre, zählte ich seine Hände nach. „Eins."

Seine Mundwinkel hoben sich.

„Und ..." Suchend schweifte mein Zeigefinger zu seiner zweiten Hand. 

„Zwei ... Wie willst du damit dreihundert Eisbecher zur Schule transportieren?!"

Mehr als einen vielsagenden Blick bekam ich nicht. Dafür den besten Anblick meines Lebens, als Boston den armen Eisverkäufer ernsthaft nach dreihundert Schokoladeneiskugeln fragte.

Trescientos?!" Ungläubig sah der Eisverkäufer Boston an. „Soll das ein Witz sein?"

„Nein, ganz im Gegenteil!"

Beschwichtigend hob Boston seine Hände. 

„Aber lasst uns mal rechnen: Eine Kugel kostest 1,50, folglich kosten dreihundert Kugeln 450 Euro. Ich lege einen Hunderter drauf, wenn Sie uns ihren Eiswagen für eine Stunde leihen. Meinen Wagen ..." 

Vielsagend deutete Boston auf seine teure Maschine am anderen Ende der Straße und legte die dazugehörigen Autoschlüssel auf den Tresen. 

„... lasse ich als Absicherung für Sie hier. Das ist eine eindeutige Win-Win Situation! Sie verkaufen mehr Eis, als in einem ganzen Monat und ich lade meine ganze Schule auf ein Eis ein!"

Und fasse damit einen Drogendealer, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Sind Sie dabei?" Entwaffnend lächelte Boston.

Keine Ahnung, wie er den armen Kerl schlussendlich überzeugt hatte. Auf jeden Fall saßen wir nach zehn Minuten in einem waschechten Eiswagen und fuhren zurück in die Schule.

Ich betone: In einem Eiswagen!

„Es war mein Lächeln", erklärte Boston, als ich nach geraumer Zeit immer noch verblüfft ins Leere starrte.

„Pfff ..." Neckend sah ich ihn von der Seite her an. „Du kannst definitiv schöner lächeln."

„Stimmt ..." Unbekümmert bog Boston nach links ab. 

„Dem Eisverkäufer habe ich nur mein zweitschönstes Lächeln geschenkt", sagte er ohne zu zögern. 

„Das Schönste bekommst nur du zu sehen."

Würde er nicht am Steuer sitzen, hätte ich ihm wahrscheinlich einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben.

„Hör auf, mir so viele Komplimente zu machen!", jammerte ich und wendete meinen Blick zurück auf die Straße.

„Wieso?", fragte er.

„Weil ich damit nicht umgehen kann."

„Du kannst mit Komplimenten nicht umgehen?"

„Ja", murrte ich und sah ausweichend weg. 

Dass mir in siebzehn Jahren niemand Komplimente gemacht hatte – wer denn auch, außer meiner mamá –, darüber wollte ich nun wirklich nicht sprechen!

Schnell wechselte ich das Thema: „Du hast definitiv zu viel Geld"

„Ich bin dafür, dass wir dich nach der ganzen Aktion von einem Therapeuten untersuchen lassen. Du musst ein ich-habe-zu-viel-Geld-und-gebe-es-deswegen-gerne-aus-Syndrom haben!"

„Puh", bestürzt sah mich Boston an. 

„Kaum zwei Stunden zusammen und schon will sie mich zum Therapeuten schicken, ts, ts, ts."

Kopfschüttelnd und bis über beide Ohren grinsend beschleunigte er.

„Vielleicht hast du auch einen Geldesel Zuhause ...", philosophierte ich weiter.

„Deine Theorien sind durchaus amüsant." Rumpelnd kam der Wagen am Pausenhof zum Stehen. 

„Noch drei Minuten bis zur großen Pause, perfecto." 

Boston kramte in seinem Rucksack, während er das sagte.

Gerade wollte ich ihn fragen, wonach er denn suchte, als er mir auch schon eine orange Tube in die Hand drückte.

Eine 50er Sonnencreme.

„Jetzt kann's losgehen!", sagte er zufrieden und machte sich daran, alles aufzubauen.

Gerührt und gleichzeitig überfordert von seiner Fürsorge, nahm ich die Creme und schmierte mich ein.

Und so kam es, dass wir nach drei Minuten ein Ehrlichkeits-Projekt an unserer Schule starteten: Leute, die überhaupt noch nie etwas mit Drogen zu tun gehabt hatten, stellten sich links vom Eiswagen an und die anderen rechts.

Natürlich bekam jeder sein Eis und das Boston die Schüler auf der rechten Seite ein bisschen ausfragte, schien niemanden zu stören.

Dafür war die Freude über eine Abkühlung bei diesem Wetter zu groß und die Musik im Hintergrund zu stimmungsvoll.


-


„Gute Neuigkeiten!"

Olivia setzte sich mit Schwung zu uns auf das Sofa und schwenkte eine Liste fröhlich mit der Hand rum.

„Es sind tatsächlich nur noch 54 Personen übrig. Fünfzehn davon gehören zu unserer Schule, die anderen sind Bostons Freunde."

Ich saß auf Bostons Schoß und sah nachdenklich zu ihm auf. „Wie vertrauenswürdig sind deine Freunde?"

„Worauf willst du hinaus?", fragte er und spielte weiterhin mit meinen Haaren. Seine Stimme war rau und sein Atem warm.

Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken.

„Naja, vielleicht kennst du manche sehr gut und kannst dir ziemlich sicher sein, dass sie nichts mit alldem zu tun haben. Vielleicht sind manche deiner Freunde ebenfalls sehr wohlhabend und hätten es nicht nötig oder so ..."

Tatsächlich strich Boston ein paar Namen auf der Liste durch.

„Wie viele haben wir noch?", fragte Carlo aufgeregt.

„46."

„Olivia und ich kümmern uns um die Leute aus unserer Schule und ihr um die restlichen!", entschied Carlo bestimmt.

„Von ein paar kenne ich den Wohnort, da können wir sofort hinfahren."

Begeistert stand Olivia auf und lief Richtung Tür.

Carlo folgte ihr, drehte sich im letzten Moment jedoch nochmal um.

Leise flüsterte er in mein Ohr: „Hat Olivia irgendetwas gesagt?"

Fragend hob ich meine Augenbraue.

„Über mich, oder so?"

Carlos Blick wirkte hoffnungsvoll.

Leicht schüttelte ich den Kopf und Boston gab sich größte Mühe, sich sein Lachen zu verkneifen.

„Ach, egal." Ein bisschen geknickt verschwand Carlo.

„Was war das denn?" 

Ehrlich verwirrt sah ich zu Boston. Mit Carlos Reaktion konnte ich nicht wirklich etwas anfangen.

„Er ist verliebt."

„Niemals."

„Willst du wetten?"

„Um was?"

„Ein Date." Herausfordernd wackelte Boston mit seiner Augenbraue.

„Wenn ich gewinne, musst du Heuschrecken mit Schokolade essen", teste ich seine Komfort-Zone.

„Bin dabei."

Ungläubig starrte ich ihn auf. „Kann ich das bitte schriftlich haben?"

Die Haustüre schwang auf und Olivia und Carlo kamen hereinspaziert.

Ihre Hände waren ineinander verschränkt.

„Ach ja, Leute. Es gibt da noch etwas, was wir euch sagen müssen und wir machen es lieber jetzt als nie ..."

Bostons Blick schwenkte triumphierend zu mir. „Nicht nötig. Ich freue mich auf heute Abend, señora Valencia."

„Das habt ihr untereinander ausgemacht!"

Empört schlug ich ihm auf den Arm. Dann stand ich ungläubig auf. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Boston das erahnt hatte!

„Ich kenne meinen besten Freund einfach nur länger als du", widersprach Boston.

„Schummler!"

„Acht Uhr, ich hole dich ab!"

„Und tschüss." Hinter mir, schlug die Haustüre zu.

Rums.

Arme Tür.

Dabei bekam ich am Rande noch mit, wie Carlo rief: „Willst du denn gar nicht wissen, was wir zu sagen haben?!"

Die Schmetterlinge kamen wieder und auf dem Weg nach Hause musste ich die ganze Zeit lächeln.


-


Fieberhaft stocherte ich in meinem Obstsalat rum.

Noch zwei Stunden bis Boston mich abholen würde.

Nervosität machte sich in mir breit.

Was würden wir machen? 

Würde es anders sein als bei den Treffen mit Carlo und Olivia? 

Und wie zur Hölle konnte ich dieses komische Bauchflattern abstellen, wann immer ich an ihn dachte?!

Schauen wir doch mal, was die üblichen Teenager Klatschzeitungen so vorschlagen.

Auch wenn ich – laut meinem padre – keine normale Jugendliche war, hatte ich bisher doch genug Schulerfahrung gesammelt, um die gängigsten Namen der billigen Zeitschriften zu kennen.

Also schnappte ich mir den Laptop, der am Esstisch stand und browste im Internet.

„Was zieht man zum ersten Date an?", las ich laut vor.

Langweilig.

Augenverdrehend las ich weiter: „Gesprächsthemen fürs erste Date und ... Gesprächsthemen?!"

Entsetzt las ich die Überschrift nochmal.

Als ob man jemanden braucht, der einen einweist, worüber man bei einem Date reden kann ...

Leicht verstört machte ich weiter: „Anleitung: Von der Begrüßung bis zum Kuss beim ersten Date ... äh, wheu?"

Keine Ahnung was ich erwartet hatte, aber ganz bestimmt nicht das.

Drumsch.

Erschrocken schlug ich den Laptop zu, als mein padre in die Küche gestürzt kam.

„Meine Güte, musst du mich so erschrecken?"

Vorwurfsvoll betrachtete ich ihn, wie er keuchend vor mir stand.

„Hast du Sport gemacht oder warum bist du so außer Atem?"

Langsam kam mein padre wieder zu sich. 

„Hast du mamá besucht?", japste er zwischen zwei Atemzügen.

„Jaaaa?" Unsicher sah ich ihn an. Er wirkte gestresst und irgendwie ... ängstlich?

Sofort rappelte sich mein padre auf und schüttelte mich heftig an meinen Schultern.

„Sie haben dich gesehen und dann das Krankenhaus! Irgendein Vollpfosten hat das überprüft. Paris, du musst sofort verschwinden!"

Wie bitte?! Was ist los mit ihm? Hat er etwa irgendetwas zu sich genommen?

„Beruhige dich erstmal, padre. Was ist denn überhaupt los?"

„Die Polizei wird bestimmt bald hier sein und sie dürfen dich unter keinen Umständen sehen! Sie wissen weder deinen Namen, noch haben sie irgendetwas in der Hand ..."

„Stopp! Du machst mir Angst, was ist los?"

Eingeschüchtert trat ich ein paar Schritte zurück.

„Für die Beamten existierst du nicht. Dein ganzes Leben hast du in mamás Club verbracht, das war nie ein Problem. Du hast nie einen Pass oder irgendwelche Papiere benötigt, sie wussten einfach nicht, dass es dich gibt."

Seine Stimme war leise, seine Augen starrten auf die Wand hinter mir.

„Was soll das heißen, ich habe keine Papiere?!"

Mein Herz schlug schneller und ich war aufgewühlt. „Ich gehe doch auch in die Schule!"

„Dort kenne ich jemanden und habe versprochen, ihm die Ausweise nachzubringen. Außerdem ..."

Klopf, klopf.

Alarmiert erstarrte mein padre.

„Polizei, öffnen Sie." Die bestimmte Stimme schallte unüberhörbar durch die Haustüre.

Scheiße, was geht hier vor sich?

Hastig lief mein padre zu einer Kommode neben dem Sofa.

„Einen Moment bitte, ich suche nur kurz die Schlüssel!"

Er kramte in den Schubladen herum, doch statt den Haustürschlüsseln, holte er eine Kreditkarte heraus.

„Der Code ist eins, vier, sieben, drei", flüsterte hektisch und sah mich eindringlich ein.

„Sie werden mich verhaften, aber bald wieder frei lassen müssen."

„Machen Sie die Tür auf!", brüllte jemand von draußen.

„Einen Moment noch, ich habe nur eine Unterhose an", rief padre und drehte sich dann wieder zu mir um.

„Tauch unter. Von mir aus, gehe noch in die Schule, sie kennen deinen Namen nicht, aber halte dich gefälligst von der Polizei fern!"

Erst jetzt kapierte ich, was hier vor sich ging.

„Du schmeißt mich raus?" Baff starrte ich ihn an.

„Wenn sie dich sehen, stecken sie dich in eine Pflegefamilie. Wenn du aber verschwindest, brav Zeitung liest und wir uns erst wiedersehen, wenn ich wieder auf freiem Fuß bin, dann wird alles wieder wie früher!"

„Ich gebe Ihnen noch dreißig Sekunden!", bellte die Männerstimme vor der Tür.

„Hast du etwas verbrochen oder warum wollen sie dich einsperren?"

Während er mir die Kreditkarte in die Hand drückte, flüsterte er: „Wahrscheinlich wollen sie mich nur mitnehmen, weil ich durch die Beziehung mit mamá auch wegen Drogenhandels unter Verdacht stehe ..."

„Aber mamá hat nichts mit den Drogen zu tun und du auch nicht!"

Alles zog sich in mir zusammen und meine Hände ballten sich instinktiv zu Fäusten.

„Das weiß die Polizei aber nicht und wenn die herausfinden, dass wir ein Kind ohne Papiere haben, verdächtigen sie uns erst recht!"

„Zehn!", kam es von draußen.

Hektisch rannte padre zum Fenster und deutete auf die Regenrinne.

„Miete dir irgendein billiges Zimmer in einer kleinen Pension ... vergiss nicht: Eins, vier, sieben, drei ..."

Tränen füllten meine Augen. „Das kann ..."

„Wir machen jetzt die Tür auf!"

Brusch, dusch.

Die Tür wackelte und es war kaum zu überhören, dass jemand darauf einschlug.

Zu spät erst bemerkte ich, dass padre mich durch das Fenster geschoben hatte und es nun wieder zuschlug.

Ich hämmerte dagegen, versuchte es zu öffnen, doch padre hatte es verriegelt.

Tränen liefen mir über die Wangen, mein Mund begann salzig zu schmecken.

Mein eigener Vater setzt mich vor die Tür. 

Oder vor das Fenster, das traf es wohl besser.

Heulend schrie ich ihn an, das Fenster wieder zu öffnen, doch er drehte sich nur weg und stellte sich direkt vor das Fenster, damit die Schatten an der Tür mich nicht sehen konnten.

Padre!

Wie ich es in meinem Zustand geschafft hatte, die Regenrinne herunterzuklettern und in den engen spanischen Gassen unterzutauchen, wusste ich nicht mehr.

Alles geschah wie in Trance. Mein Innerstes verstand die Situation nicht. 

Warum durfte die Polizei mich nicht sehen? Warum hatte ich keinen Pass?

Mit jedem Schritt verengte sich mein Brustkorb mehr.

Letzte Woche hatte ich noch fröhlich im Club getanzt und Jackson bei der Bar geholfen.

Heute stand ich mit einer Kreditkarte in der Hand auf einer fremden Straße mitten in Toledo.

Hätte dieser Dealer seine Drogen nicht irgendwo anders verstecken können?!

Ein mir unbekanntes Gefühl machte sich in mir breit. 

Es wurde größer und langsam fand ich das richtige Wort dafür: Hass. 

Blanker Hass durchströmte mich.

Ich musste diesen Idioten finden, der uns das alles eingebrockt hatte!

Der Hass kroch weiter durch meine Adern und ohne zu wissen, wohin, rannte ich.

Hauptsache weg von hier.

Erst wenn sich der richtige Täter zu erkennen gegeben hatte, würde uns die Polizei in Ruhe lassen ...

Obwohl ich nicht mehr konnte, rannte ich weiter.

Die Rennerei beruhigte mich, baute die ganzen Emotionen ab und hinderte mich daran, zu viel nachzudenken – mir zu viele Sorgen zu machen, den Hass ganz zuzulassen.

Ssssum.

Auf einmal verlor ich den Halt und landete unsanft auf dem harten Asphalt.

So weit war ich gerannt und jetzt lag ich da.

Erschöpft und regungslos.

Und ich blieb liegen. Schließlich hatte ich nichts mehr vor. Ich hatte ja grundsätzlich nichts mehr.

Wen interessiert schon ein Mädchen, das es offiziell gar nicht gibt?

„Mich."

Müde hob ich meinen schweren Kopf. „Habe ich schon wieder meine Gedanken laut ausgesprochen?"

„Ja."

„Gott, ich muss aufhören, das zu tun ...!"

Patsch.

Erschöpft ließ ich meine Stirn auf den harten Asphalt fallen.

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