D I E C I S É I S
„Bist du sicher, dass du das durchziehen willst?
Wie das letzte Mal saß ich in einem Auto, das nicht mir gehörte, vor einer großen Villa und sollte mich reichen Erwachsenen vorstellen.
Nur, dass heute nicht Levin neben mir saß, sondern Boston.
Und dass es sich nicht um meine Eltern handelte, sondern um seine.
„Was soll denn schon passieren?"
Nachdem ich so etwas schon einmal hinter mich gebracht hatte, war ich sehr optimistisch gestimmt.
Aufmunternd nahm ich seine Hand.
Liebevoll strich er mir mit der anderen durch meine Haare.
„Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie sehr ich dich liebe?"
„Schon hundertmal", kicherte ich und gab ihm einen Kuss.
„Zeit, daraus hundertundein Mal zu machen", wisperte er mir mit seiner rauchigen Stimme ins Ohr.
„Ich liebe dich."
Gänsehaut bildete sich auf meinem Rücken.
„Was hast du gesagt?"
Natürlich hatte ich ihn verstanden, aber es tat so gut diese drei Wörter zu hören.
Gespielt schwerhörig hielt ich mir meine Hand ans Ohr.
„Ich verstehe dich nicht, wenn du so nuschelst ..."
Boston trat einen Schritt zurück und streckte euphorisch seine Arme aus.
Dann schrie er: „ICH LIEBE DICH, PARIS!"
Lachend drehte er sich um seine eigene Achse.
Im richtigen Moment nahm ich Anlauf und hüpfte auf seinen Rücken.
„ICH LIEBE DICH NOCH VIEL MEHR!", brüllte ich und legte meinen Kopf lachend auf seine Schulter.
Es war ein unglaublich schöner Moment.
Wahrscheinlich hätten wir noch weiter so herumgeblödelt, wenn nicht die Haustür der Villa plötzlich aufgeschwungen wäre.
Rums.
Im Türrahmen stand eine bildhübsche Frau, deren Schönheit jedoch durch ihren ernsten Gesichtsausdruck nicht zur Geltung kam.
„Boston, was ist das für ein Lärm hier?"
Von Wolke sieben wieder auf dem Boden gelandet, ging ich höflich zu der Frau hin und hielt ihr meine Hand hin.
„Guten Tag Señora Lopez Garcia, ich bin Paris Valencia."
Dass mein neuer Nachname jetzt Martini war, vergaß ich in der Aufregung völlig, doch das spielte ja eigentlich eh keine Rolle.
Statt meine Hand anzunehmen, sah die Frau ihren Sohn an: „Ist das das Mädchen aus dem Club?"
Beschützend stellte sich Boston neben mich hin und legte seinen Arm um meine Schulter. „Genau. Mama, das ist meine Freundin Paris."
Wenn diese Frau zuvor auch nur einen Funken Sympathie für mich empfunden hatte, war dieser nun von einem Moment auf den anderen vollständig ausgelöscht.
Scharf sah sie zwischen mir und Boston hin und her.
„Eine Freundin oder deine Freundin?"
Verständnislos starrte Boston seine Mama an.
Dennoch sprach er selbstbewusst und dafür zollte ich ihm den höchsten Respekt: „Meine Freundin, wo liegt das Problem?"
„Du ..." Ihre Stimme stockte. „Du ... bist schon verheiratet, da liegt das Problem."
Stille.
Eine tödliche Stille breitete sich aus.
Für einen ewigen Moment lang war nur das Gezwitscher der Vögel zu hören.
„Wie bitte?!" Bostons Augen weiteten sich.
„Mama, was redest du da?!"
Es war offensichtlich, dass er seine ganze Kraft benötigte, um halbwegs ruhig zu bleiben.
Beruhigend legte ich meine Hand auf seinen Arm, sagte jedoch nichts.
„Bisher war das nie ein Problem, da deine Verlobte ... wie soll ich sagen ... im Ausland war. Doch vor kurzem haben dein Vater und ich erfahren, dass sie wieder da ist. Ihr könnt euch also demnächst kennenlernen."
Freudig fing das Gesicht Bostons Mama an zu strahlen.
Bostons Kiefermuskeln spannten sich währenddessen an.
„Was soll der Blödsinn? Ich bin achtzehn, wieso um Himmelswillen sollte ich schon verheiratet sein?! Beziehungsweise, wieso kommst du jetzt damit an?! Jetzt, wo ich die Liebe meines Lebens gefunden habe?"
Die Liebe meines Lebens ...
Die Frau, die Bostons Mama war, musterte mich eisig.
„Ihr seid jung, ihr verändert euch noch. Bitte, Boston, wir hatten unsere Gründe."
Ein empörter Laut drang aus meiner Kehle.
Ohne dass ich es gewollt hatte, mischte sich mein voreiliges Mundwerk ein: „Hallo? Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert! Der Trend, dass Eltern Partner für ihre Kinder aussuchen, ist schon lange vorbei!"
Der Gesichtsausdruck der Frau wurde noch härter.
„Diese Familie besitzt eben Tradition." Nun wendete sich Bostons Mama wieder ihrem Sohn zu: „Außerdem hat dein Schwiegervater deinem Vater das Leben gerettet. Diese Ehe bringt beiden Familien nur etwas Gutes. Deine Verlobte ist mehr als gut genug für dich."
Geschockt, fassungslos und unglaublich wütend stand ich neben meinem Freund.
Was fällt dieser eingebildeten Schnepfe eigentlich ein?
„Alles ist vor langer Zeit auf Papier besiegelt worden", fuhr die Frau kühl fort.
„Es ist besser, ihr macht sofort Schluss, bevor ihr euch einbildet, dass es etwas Ernstes ist."
Mit diesen Worten brachte sie das Fass zum Überlaufen.
Gerade setzte ich zu einer explosiven Schimpftirade an, als Boston wortlos am Absatz kehrt machte.
Irritiert sah ich ihm dabei zu, wie er zu seinem Auto lief, erstmal heftig dagegentrat und dann wütend gegen die Motorhaube trommelte.
„Boston, warte!" Seine Mama war mir in dem Moment ziemlich egal.
Hastig rannte ich Boston hinterher und umarmte ihn.
„Wir kriegen das hin", flüsterte ich.
„Es gibt bestimmt irgendein Gesetz, womit man diesen bescheuerten Vertrag auflösen kann!"
Meine Stimme klang verzweifelt, über meine Wange rann eine Träne der Hoffnungslosigkeit.
„Ich schlage vor, jetzt reinzukommen", ertönte die emotionslose Stimme der Frau hinter uns.
Boston atmete heftig ein und aus. Sein Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell.
„Du bist achtzehn, sie können dir nichts vorschreiben!"
Angespannt sah Boston zwischen mir und seiner Mama hin und her.
„Ich brauche mal einen Moment für mich."
Fluchtartig sprang er in seinen Wagen.
Verzweifelt wollte ich ihm folgen, doch er trat aufs Gas, bevor ich auch nur die Tür öffnen konnte.
Brrrrrruuummm.
„Boston!"
Eine Antwort bekam ich nicht, nur das Geräusch einer knallenden Haustüre hinter mir.
Rums.
Dass diese nun verschlossen war, wusste ich auch, ohne mich umzudrehen.
„Boston ..."
Gebrochen stand ich da – ein schmerzendes Gefühl in meiner Brust, der salzige Geschmack von heißen Tränen auf meinen Lippen.
-
Dreiundvierzig Stunden.
Umgerechnet 2 580 Minuten.
Oder auch 154 800 Sekunden.
Solange schon war Boston wie vom Erdboden verschluckt.
Weder ich noch Carlo, Olivia, geschweige denn seine Eltern, wussten, wo er steckte.
Dass die Familie Lopez Garcia sein Verschwinden mir in die Schuhe schob, war schon schlimm genug.
Doch dass er nicht einmal meine Nachrichten las, fühlte sich noch tausendmal schlimmer an.
Wo steckst du nur?
„Jetzt leg doch endlich mal das Handy weg!"
Genervt und zugleich besorgt schnippte Olivia mit ihrer Hand vor meinem Gesicht.
„Dadurch, dass du hier im Elend versinkst, wird er auch nicht schneller wiederkommen."
Warnend stupste Carlo sie an.
Sein Blick signalisierte, dass sie mir noch ein bisschen mehr Zeit geben sollte.
„Weißt du was, ich hole uns noch einen großen Becher Eis", teilte Olivia schließlich mit und machte sich auf den Weg zur Bar des Cafés.
Carlo nutzte die Gelegenheit, um den Berufstraum Therapeut auszuprobieren.
„Hey." Aufmunternd nahm er meine Hände.
„Wenn Boston ausnahmsweise mal nicht weiß, was er tun soll, zieht er sich immer gerne zurück. Doch wenn er eine Lösung gefunden hat, dann kommt er wieder. Das war schon immer so und das wird auch dieses Mal so sein, versprochen."
Niedergeschlagen sah ich ihn an. „Aber er muss das doch nicht alleine durchstehen! Ich liebe ihn, ich bin für ihn da! Ich kann ihm helfen, eine Lösung zu finden!"
Olivia kehrte mit zwei riesigen Eisbechern zurück und was auch immer da drin war, verwandelte meine Trauer auf jeden Fall in Wut.
„Was ist er eigentlich für ein Idiot?!"
Erschrocken von meiner abrupten Stimmungsschwankung zuckten Carlo zusammen. Olivia fiel fast der Löffel aus der Hand.
Ihre Blicke zeigten deutlich, dass sie sich fragten, ob ich schwanger sei.
Aufgelöst schnappte ich mir mein Handy.
Auf meine besorgten Nachrichten, wo er denn sei und wie es ihm ginge, folgten nun ein paar Neue:
Du bist echt egoistisch!
Du blöder Frosch!!!
Hier gibt es Leute, die sich tatsächlich Sorgen um dich machen!!!
Aber wenn dir dein Stolz so wichtig ist, dann will ich wenigstens meinen Stuhl wiederhaben! Der liegt nämlich immer noch in deinem Auto!!!
Also meld dich endlich, du Spast !!!
Carlo hatte mir über die Schulter geguckt.
„Willst du das wirklich abschicken?", fragte er unsicher.
„Das könntest du mal bereuen", gab auch Olivia zu bedenken.
Meine Finger drückte auf Senden und meine große Klappe brummte: „Ich brauch mal einen Moment für mich."
Schon halb war ich aus dem Café rausgerannt, als mir auffiel, dass ich die gleichen Abschiedsworte wie Boston verwendet hatte.
„Das habe ich nicht gesagt!", rief ich laut meinen Freunden – wie die letzte Verrückte – durch das ganze Café zu.
„Ich meinte natürlich, dass ich frische Luft schnappen gehe!"
Als ich die verschreckten Gesichter der anderen Gäste bemerkte, war ich von mir selbst angewidert.
Ich hatte mich tatsächlich verändert.
Geschockt rannte ich los.
Wieder einmal ohne ein Ziel.
Hauptsache, ich wurde ein bisschen Energie und Wut los.
Seit wann bin ich überhaupt so emotional?
Schluchzend rannte ich zu einem abgelegenen Wald. Meine Turnschuhe rutschten über den Kiesweg und mein Atem wurde flacher.
Meine Beine wurden schwer wie Blei.
Ich hatte keine Kraft mehr.
Und doch rannte ich weiter.
Baum, Amsel, Moos, Steine.
Dieser Wald sah aus wie jeder andere.
Spechtgetrommel, Vogelgezwitscher, das leise Rauschen des Windes.
Dieser Wald hörte sich auch an wie jeder anderer.
Baum, Amsel Nummer zwei und ...
Überrascht blieb ich stehen, als ich den See erkannte, den mir Boston vor nicht allzu langer Zeit gezeigt hatte.
Das schmerzvolle Ziehen in meiner Brust machte sich wieder bemerkbar. Hier hatten wir den Wolf auf seiner Motorhaube gesehen und in dem kleinen Holzboot am Ufer gepicknickt.
„Ich habe mir doch auch von dir helfen lassen!", schluchzte ich.
„Scheißdreck!"
Bis ins Innerste gekränkt schlug ich gegen den nächstbesten Baum.
„Wieso kannst du dir nicht auch helfen lassen?"
Blind rannte ich durch das Gebüsch, die Brennnesseln und die Dornen nahm ich nicht wahr.
„Ich liebe dich doch, du Idiot", jammerte ich. „Komm zurück!"
Der Schrei hallte durch den ganzen Wald.
„Boston!" Mein zweiter Schrei erstickte in meiner Kehle, als ich endlich mal bewusst nach vorne sah.
Entsetzt versuchte ich das Bild, das sich mir bot, zu realisieren.
Dann tippte ich wie betäubt eine Handynummer ein.
Lange musste ich nicht warten. Nach nur kurzer Zeit meldete sich das, inzwischen nur allzu bekannte, Gezeter von Bostons Mama.
„Er ist immer noch nicht da und das ist alles deine Schuld!"
Irgendwie konnte ich ihr nicht böse sein.
Sie empfand den gleichen Schmerz, wie ich.
„Alles deine, deine, deine Schuld!"
Im Gegensatz zu unseren letzten Gesprächen schwieg ich.
„Boston hat sich nie für andere Mädchen interessiert. Alle sahen nur sein Geld und nicht ihn, deshalb hat sich ..."
Sie bemerkte, dass ich mich dieses Mal nicht verteidigte. „Bist du noch dran?"
Langsam sah ich mich nochmal an dem Schauplatz um.
„Rufen Sie die Polizei", sagte ich dann mit belegter Stimme in das Telefon.
„Ich habe Bostons Auto im Wald gefunden."
Ohne dass ich es wollte, begann ich zu zittern.
„Es steht hier einfach mitten am Weg und schaut ... nicht gut aus."
Eingeschüchtert betrachte ich das ehemalige Prachtstück.
„Es ist ganz zerbeult und sieht aus wie ein Schrotthaufen."
„Ganz bestimmt nicht! Das Auto ist Bostons Baby. Möge er noch so wütend sein, er würde es nie zu Schrott fahren", keifte die Stimme am anderen Ende des Telefons.
„Das glaube ich Ihnen aufs Wort ..."
Meine Stimme erstickte. Heiße Tränen brachen aus mir raus.
Leise wimmerte ich: „Da sind Löcher in seiner Windschutzscheibe. Schusslöcher."
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