D I E C I O C H O

Als ich das kleine eingeritzte Zeichen am Fuße der Parkbank sah, überschwemmten mich Erinnerungen. 

Auf einmal saß ich wieder mit Boston im Theater. Mein erstes klassisches Konzert.

Natürlich war das Bostons Idee gewesen und nur seiner Überredungskunst war es zu verdanken, dass ich mich nun entspannt in einem riesigen Theatersaal an sein glattes Sakko schmiegen konnte.

„Ich werde das bereuen", schmunzelte ich und näherte mich unbewusst seinen Lippen.

Anfangs schienen seine mir auch näherzukommen, doch im letzten Moment drehte er seinen Kopf weg, sodass ich mit Schwung seine Wange küsste.

Überrascht wich ich zurück, während er mich leise auslachte.

„Blödmann", schmollte ich und konzentrierte mich übertrieben gespannt auf das Orchester, das bereits vor der Bühne Platz genommen hatte.

Inzwischen waren auch die anderen, schön gekleideten Besucher ruhiger geworden.

Das Licht dimmte nicht, doch die Streicher begannen trotzdem schon zu spielen.

Anfangs klang es ziemlich dissonant, doch je mehr Zeit verstrich, desto harmonischer wurde auch die letzte verstimmte Geige.

Dann wurden die Musiker immer leiser und das Licht ging aus.

Zwar kam mir das irgendwie komisch vor – in der Disco war der Ablauf genau andersherum – doch Boston zu Liebe versuchte ich, begeistert zu sein.

Laut klatschend stand ich auf und jubelte. „Bravo!"

Als ich von Boston grob zurück auf den Sitz gezerrt wurde, fiel mir auf, dass ich als Einzige geklatscht hatte.

Wieso sind die anderen denn bitte alle so unhöflich?

Aus Bostons vorwurfsvollen Blick wurde ich irgendwie nicht schlau.

„Sind Konzerte immer so kurz?", fragte ich ihn leise.

„Paris." Aus vollem Herzen lachte er. 

„Die haben noch nicht angefangen! Das Orchester hat gerade erst gestimmt!"

Als wir drei Stunden später in der Stadt auf einer Parkbank saßen, war mein Kopf immer noch tiefrot vor Scham.

„Aye, ich glaube du hast einen Sonnenbrand von den blitzenden Augen der anderen Konzertbesucher bekommen", zog Boston mich grinsend auf.

Gerade wollte ich zu einem Konter ansetzen, als meine Aufmerksamkeit auf einen älteren Mann gelenkt wurde, der unsicher in den Blumenladen auf der anderen Straßenseite schlich. 

Jeder Volltrottel hätte sofort an seinem Gang erkannt, dass er sich unwohl fühlte.

„Eine ganze Rose bitte", krächzte er leise zur Blumenverkäuferin.

Schmunzelnd tauschten Boston und ich Blicke aus.

„Schenkst du mir eine halbe?", fragte ich ihn augenklimpernd.

„Wofür?" Liebevoll sah er mich an. 

„Für die achthundert Besucher, die uns am liebsten im hohen Bogen aus dem Konzertsaal geworfen hätten?"

Schmollend schob ich meine Unterlippe vor. „Danke für ..."

... nichts.

Das hatte ich zumindest sagen wollen, doch Boston unterbrach mich: „Ich habe etwas viel Besseres für dich."

Flink hob er einen Stein vom Boden auf und ritzte neben seinen Füßen herum, während ich ihm neugierig über die Schulter guckte.

Achtzehnjähriger im Smoking ritzt mit Steinen Striche in den Boden, als würden es sich bei ihnen um Kreide handeln.

Kichernd beobachtete ich Boston.

Wo ist mein Handy, das wäre ein Foto wert!

Nach einer Weile drehte er sich strahlend, bis über beide Ohren zu mir um. Als ich ihn jedoch nur zweifelnd ansah, seufzte er: „Das bist du."

Lachend warf ich meinen Kopf in den Nacken. „Du siehst in mir also ein Dreieck mit einem fetten Kreis oben drauf?"

Mit einem unterdrückten Grinsen sah Boston sich sein Werk nochmal genauer an. 

„Du hast die Ellipse auf dem Kreis, also deinem Kopf vergessen." 

Nun ebenfalls lachend kamen seine Lippen meinen gefährlich nahe.

Das Schmetterlingskribbeln in meinem Bauch setzte sofort wieder ein und als unsere Lippen sich tatsächlich streiften, setzte mein Herz für einen Moment vor Freude aus.

„Wenn du mir jetzt noch erklärst, dass das ein Heiligenschein und kein Hut ist, dann ist das das schönste Geschenk, das mir jemals in meinem ganzen Leben gemacht worden ist, du großer kleiner Picasso", hauchte ich verliebt und versank in seinen schönen tiefblauen Augen.

„Das sollten eigentlich deine Haare sein."

Ruckartig trat ich einen Schritt von ihm zurück und drehte mich weg.

„Du bist ja ein richtiger Komplimente-King." 

Ironisch lächelte ich ihn an. „Diese Information hättest du auch einfach für dich behalten können ..."

Boston lächelte hinterhältig zurück.

Oh oh, was hat er jetzt vor?

Ein paar Sekunden später stand er neben mir, packte mich an der Taille und hob mich auf seine starken Schultern.

„Ah!" Erschrocken zappelte ich lachend zwischen seinen Händen hin und her, die mich entschlossen festhielten.

„Ich liebe dich", sagte er über seine Schultern zu mir.

Als Antwort spürte ich einen Regentropfen auf meinem Gesicht. 

Aus einem wurden mehr und dann fing es heftig an zu schütten.

Das Wasser störte uns jedoch kein bisschen.

Liebevoll wuschelte ich durch seine Haare. 

„Der Himmeln weint schon, so unglaublich ungeschickt hast du deine Worte gewählt, du Komplimente-King."

„Ganz im Gegenteil, er feiert uns."

Mit einem rauen Lachen rannte er los.

Ich jauchzte auf seinen Schultern vor Freude auf.

Seine Schritte wurden schneller und schneller. Alles schien perfekt zu sein – Außer die Wurzel in der Wiese, die passte nicht ganz in das Konzept des Perfekt-Seins.

Boston stolperte darüber und landete mit mir im hohen Bogen auf der aufgeweichten Wiese.

Erst weiteten sich unsere Augen geschockt, dann lachten wir gleichzeitig los.

„Regen ist Konfetti vom Himmel", flüsterte er.

Ich hingegen, rollte mich durch den Schlamm und löschte somit die letzten Meter Abstand zwischen uns aus.

„Lass mich nie wieder allein." Sentimental stützte ich meine Hände rechts und links von ihm ab.

Bling. Ding.

Mein Handy meldete sich aus Bostons Hosentasche.

Genervt streckte ich meine Hand fordernd danach aus und Boston zog seufzend mein Handy aus seiner Tasche.

„Hoffentlich ist es wichtig, sonst kann der Typ etwas erleben!" 

Ein Blick auf das Display und seine Mundwinkel zogen sich nach oben.

„Was ist?" Neugierig wollte ich mein Handy aus Bostons Hand nehmen, doch er streckte es nur provozierend von mir weg.

„Wer hat geschrieben?", hakte ich quengelnd nach.

Langsam und äußerst genüsslich nahm er das Smartphone wieder zu sich.

„Olivia hat geschrieben. Sie wollte doch mit Carlo auf diese eine Hausparty gehen ..." Er sprach nicht weiter.

„Und?"

Wieso muss er es immer so spannend machen?

„Wie du dir vorstellen kannst, hat sich Carlo mal wieder übernommen und ein bisschen zu viel getrunken ..."

Komm zum Punkt!

Boston las sich die Nachricht nochmal leise durch, während ich vor Neugier fast platzte.

Der hat vielleicht Nerven, dass er alles so in die Länge zieht!

„Sie hat ihn auf eine Couch gesetzt und wollte ihn küssen, doch Carlo hat sie weggedrückt und gesagt, er hätte schon eine Freundin. Ich zitiere, was Olivia geschrieben hat: Boah, chica, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie stolz ich auf ihn bin. Er liebt mich wirklich!"

Bei dem letzten Satz sprach er langsamer.

„Muss ich auch betrunken sein, damit du dir sicher bist, dass ich dich wirklich liebe?" 

Gespielt ängstlich sah Boston mich an.

„Das weiß ich doch schon längst."

Mit halbgeschlossenen Augen streckte ich meine Hand nach ihm aus und er zog mich zu sich ran.

„Verlass mich einfach nicht, das würde ich nicht überleben."

Mitten im Schlamm kuschelten wir uns in unserer Abendgarderobe aneinander.

„Niemals. Das verspreche ich dir, niemals."

Sanft hauchte er einen leichten Kuss auf meinen Scheitel.


„Was meinst du mit er war hier?"

Mr. Unsympathisch riss mich mit seiner hektischen Stimme wieder zurück in die Gegenwart.

„Das da ..." 

Völlig benommen deutete ich auf die kleine Zeichnung am Boden, die ebenfalls mit einem Stein eingeritzt worden war. 

„So etwas kann nur Boston gezeichnet haben."

„Ich soll zur Spurensicherung gehen und sagen, dass so etwas nur er zeichnen könne?!" Fassungslos sah mich Mr. Unsympathisch an.

„Einen Kreis mit einer Ellipse und einem Dreieck oben drauf?!"

Es gab keinen Zweifel, dass mich der Typ für komplett verrückt hielt.

Wütend funkelte ich ihn an. „Wissen Sie was? Machen Sie doch, was Sie wollen!"

Eingeschnappt, doch vor allem erzürnt verließ ich den Park. 

Allerdings weigerte ich mich, nach Hause zu gehen, schließlich wusste ich, dass Boston hier gewesen war. 

So streifte ich also ziellos in der Gegend herum, in der Hoffnung, auf ein Wunder zu stoßen.

Die Zeit verstrich.

Ich fand nichts.

Es wurde dunkel.

Mein Handy summte.

Wo bleibst du, Schatz?

Diese Nachricht kam von meiner Mama. Also von meiner echten Mama. Die Andere saß ja im Knast.

Muss ich mir Sorgen machen? Bitte ruf an!

Eigentlich wollte ich hier nicht weg. 

Dass Boston tatsächlich hier in der Nähe war, war sehr unwahrscheinlich. 

Doch vielleicht hatte ich ja doch noch irgendeinen Hinweis von ihm übersehen?

Trotzdem plagte mich das schlechte Gewissen. 

Meine neuen Eltern hatte mich noch gar nicht so lange wieder und jetzt war ich schon wieder ohne irgendetwas zu sagen, einfach verschwunden.

Meine Finger wollten gerade auf die Telefonnummer meiner Mama tippen, als ...

Bum.

Erschrocken zuckte ich zusammen. 

Mein Handy krachte mit einem splitternden Geräusch zu Boden. 

Irgendwo in der Nähe hatte es einen heftigen Knall gegeben, der mich furchterregend gut an ein Schussgeräusch erinnert hatte.

Unbehaglich drehte ich mich um. Niemand war in der Dämmerung zu sehen. Die schmalen Gassen des eher unbeliebten Viertels der Stadt waren wie ausgestorben.

Auch Mr. Unsympathisch war weg.

Mr. Unsympathisch!

Zwar widerstrebte es mir, ihn anzurufen, doch er würde am schnellsten hier sein, wenn der Schuss tatsächlich etwas mit Boston zu tun hatte.

Ein Bild blitzte in meinem Kopf auf: Das Bild von Bostons durchlöcherter Windschutzscheibe. Löcher, die durch Schüsse entstanden waren.

Hastig hob ich mein Handy wieder vom Boden auf und tippte wie wild eine Nummer ein.

„Ja?" Die glatte Stimme gehörte eindeutig Mr. Unsympathisch.

„Mr. Privatdetektiv oder wie auch immer sie heißen ..."

Beklommen scannte ich nochmal meine Umgebung und flüsterte: „Ich habe gerade einen Schuss gehört, in dem Viertel auf der südlichen Seite von dem Park und ..."

„Geh sofort zurück in den Park, ich komme!", unterbrach er mich.

„Nein, ich muss ..."

„Du musst gar nichts! Ich informiere die Polizei."

Dut, dut.

Mr. Unsympathisch hatte aufgelegt.

„Pff ... Sie haben mir gar nichts zu sagen!", motzte ich, obwohl er mich natürlich nicht mehr hören konnte.

Dock.

Erschrocken riss ich den Kopf herum.

Am Ende der Gasse sah ich, wie ein Schatten hinter einer Hausecke verschwand.

Wenn die Polizei mit Blaulicht hier eintrifft, scheuchen sie jeden auf, bevor sie sich auch nur in der Nähe von diesem Viertel befinden!

Überrascht über meine eigene, äußerst intelligente Erkenntnis, machten sich meine Beine selbstständig.

Wie in Trance rannte ich zu der Ecke, in der der Schatten verschwunden war. 

Dort fand ich eine Tür, die nur halb geschlossen war.

Zögernd öffnete ich diese. Dahinter befand sich ein dunkler Gang. Dieser war leer.

Ohne nachzudenken, durchquerte ich den Gang. 

Ich kam an vielen verschiedenen Türen vorbei und schlussendlich an einem Innenhof heraus. 

Dieser war ebenfalls kaum beleuchtet, doch durch das sanfte Licht des Mondscheins konnte ich einen Brunnen in der Mitte des Innenhofs erkennen. Davor ...

Ein dunkler Sack ...?

Ich vergewisserte mich, dass sich sonst niemand in dem Innenhof befand und bewegte mich langsam auf den Brunnen und auf das Etwas davor zu.

Ist das ein Schuh?

Eine dunkle Vorahnung schlich sich in meinen Kopf.

Unbehaglich näherte ich mich dem Etwas.

Genauer gesagt einer zusammengekauerten Gestalt.

Einer männlichen Gestalt.

Ein ...

Düdada. Düdada.

Laute Sirenen schallten aus weiter Ferne zu mir. Erschrocken zuckte ich zusammen.

Die Gestalt vor mir hob langsam den Kopf.

Sofort blieb mein Herz stehen. „Oh. Mein. Gott ..." 

Voller Adrenalin lief ich auf die Gestalt zu. „Boston!"

Vor Angst erstarrt und weinend hob ich sein Kinn leicht nach oben. 

Er ließ es regungslos über sich ergehen.

Sein Gesicht war voller Blut und blauer Flecken, seine Hände waren zusammengebunden.

„Träume ich?", stöhnte er schmerzerfüllt und blinzelte angestrengt.

Erst da wurde mir der Ernst der Lage bewusst.

„Scheiße, Boston!" Verzweifelt versuchte ich, ihn wachzurütteln.

„Wir müssen von hier verschwinden, bevor die Person wiederkommt, die dir das angetan hat!"

Wieder blinzelte Boston. Doch irgendwie schien er an mir vorbei ins Leere zu schauen, als ob er betäubt wäre. 

Panisch rüttelte ich an seinen muskulösen Schultern. 

Irgendwann gab ich es auf und riss stattdessen an seinen Fesseln herum. 

Als ich diese endlich von seinen Handgelenken runtergezogen hatte, versuchte ich, ihn hochzustemmen.

Keine Chance. Er war zu groß. Er war zu schwer.

Mein Handy – der Privatdetektiv soll kommen!

Hastig tastete ich nach meinem Handy.

Nichts.

Zu meiner Panik gesellte sich nun Erschütterung und Verzweiflung. 

Ich konnte mein Handy nicht finden. Egal, wie oft ich durch meine Taschen wühlte, das Handy war nicht mehr da.

Adrenalin schoss durch meine Adern und meine Panik verwandelte sich in Entschlossenheit. Dabei ging es mir gar nicht wirklich um mich, sondern eher um Boston.

„Ok." Kämpferisch legte ich meine Hände an seine Wangen. 

„Erinnerst du dich an unsere Diskussion, wo du mich immer Kleine genannt hast?"

Boston reagierte nicht und sah immer noch an mir vorbei, ins Leere.

„Ich sagte zu dir, dass du aufhören sollst, mich so zu nennen, doch du hast dich nur über mich lustig gemacht."

In der Ferne waren nun Rufe zu hören. Sofort wurde mir klar, dass keine Zeit sein würde, die ganze Geschichte zu erzählen.

„Schlussendlich wurde aus Kleine dann Kleine Kriegerin, worauf meine Antwort war, dass eine Kriegerin etwas braucht, wofür sie kämpfen kann. Wofür sie bereit ist, ihr Leben zu opfern. Und das bist VERDAMMT NOCHMAL DU!!! Also was auch immer mit dir passiert ist, lass mich für dich kämpfen!"

Fast schon hysterisch drückte ich ihn mit aller Kraft nach oben. 

Er konnte zwar nicht stehen, doch immerhin beschwerte er sich nicht, als ich ihn dicht an mich gepresst zu dem langen Gang schleifte.

Überrascht, dass wir es schon soweit geschafft hatten, durchströmten mich neue Glücksgefühle. 

Wir würden es schaffen! Es war nicht mehr weit.

Neue Energie durchströmte mich.

„Komm schon", keuchte ich. 

Noch drei Schritte bis zur Tür.

Drei Worte, drei Schritte.

„Ich ..." Angestrengt schleifte ich uns einen Schritt nach vorne. 

Sein ganzes Gewicht befand sich immer noch auf meinem Rücken und meinen Schultern.

„Liebe ..." Der zweite Schritt fühlte sich wie der Aufstieg einer senkrechten Wand an.

„Dich!" Das letzte Wort klang genauso erschöpft, wie es der letzte Schritt war.

Stöhnend und weinend zugleich stieß ich die rote Holztür auf.

Endlich in Sicherheit!

Der Park war nicht mehr weit.

Nur eine Front an bewaffneten Gestalten trennte uns noch von dem sicheren Park.

Waffen, die direkt auf uns gerichtet waren.

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