8 | She's a fool

Auch einen Tag später bereue ich es nicht, diese Typveränderung gewagt zu haben, ganz im Gegenteil: Ich fühle mich wie ein neuer Mensch. In der Schule bleibt meine neue Frisur natürlich nicht lange unbemerkt. Überall, wo ich hingehe, spüre ich die Blicke der anderen im Nacken und das nur, weil ich jetzt ein paar Haare weniger auf dem Kopf habe. Zumindest glaube ich, dass die anderen deshalb glotzen. Vielleicht fragen sie sich aber auch nur, ob ich heute statt einer Batman-Unterhose einen Superman-Slip trage.

Da ich es längst gewohnt bin, von meinen Mitschülern dumm angeguckt zu werden, stört mich das nicht weiter, genauso wenig wie das ständige, leise Getuschel hinter meinem Rücken. Mit mir von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, traut sich hingegen keiner – abgesehen von Ezra, der in Sachen Asozialität seinem Kumpel Reece nachzueifern scheint.

Nach Unterrichtsende taucht er plötzlich hinter mir auf dem Treppenabsatz auf. „Na, Albie?", sagt er laut, während ein Feixen seine Mundwinkel verzerrt. „Bist ja über Nacht 'n richtiger Motherfucker geworden, hm?" Ehe ich irgendwas dazu sagen kann, klatscht er mir mit der flachen Hand auf den Hinterkopf und rempelt mich anschließend fast die Treppe runter. Vollidiot.

Zum Glück lässt er mich danach in Ruhe und ich kann das Schulgebäude unbehelligt verlassen. Gemächlich überquere ich den Hof, der sich nach und nach leert. Während ich auf den angrenzenden Parkplatz zusteuere, halte ich Ausschau nach meiner Mutter, die ja angekündigt hat, mich heute abholen zu wollen. Allerdings scheint sie noch nicht da zu sein. Wie ich sie kenne, wird sie sich um ein paar Minuten verspäten, weshalb ich beschließe, an Ort und Stelle auf sie zu warten.

„Albie?" In dem Moment, als ich diese vertraute und gleichzeitig immer noch fremde Stimme hinter mir höre, zucke ich heftig zusammen. Ich drehe mich um und starre Georgia, die nur wenige Meter von mir entfernt steht, ungläubig an. Hat sie mich gerade wirklich angesprochen? Wenn das ein Traum ist, möchte ich jetzt auf keinen Fall aufwachen.

„Oh, tut mir leid, habe ich dich erschreckt?", fragt sie mit einem unsicheren Lächeln, weil ihr mein Zusammenzucken offenbar nicht entgangen ist.

„Passt schon", entgegne ich hastig und bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck, während mir eine plötzliche Hitze in die Wangen schießt. „Was, ähm ... was gibt's denn?" Gott, rede doch einfach normal, Junge.

„Nichts Besonderes", antwortet sie verlegen und kommt ein paar Schritte näher. „Ich wollte eigentlich nur wissen, wie's dir geht."

Innerhalb weniger Sekunden ist die Distanz zwischen uns soweit geschrumpft, dass ich ihr süßliches Parfum riechen kann. Es duftet irgendwie weihnachtlich – nach Lebkuchen, Honig oder Zimt. Oder alles auf einmal? Keine Ahnung, jedenfalls widerstehe ich nur mühsam dem Drang, tief durch die Nase einzuatmen. Ich schätze, das würde etwas verstörend rüberkommen. Unauffällig schüttele ich den Kopf, um mich wieder auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren.

„Ähm, mir geht's gut", antworte ich und kann nicht verhindern, dass ich ziemlich überrascht klinge. „Wieso fragst du?"

„Na ja ..." Georgia errötet leicht und streicht sich eine rötlich schimmernde Haarsträhne hinters Ohr. „Wegen der Sache im Matheunterricht. Ich dachte, du fühlst dich vielleicht schlecht deswegen."

„Ach so", erwidere ich leichthin, als würde mir das überhaupt nichts ausmachen. „War schon ziemlich peinlich, aber was soll's. Ändern kann ich's ja sowieso nicht mehr." Leider.

„Ich weiß", sagt sie bedauernd und mitfühlend zugleich. „Es tut mir leid, dass alle über dich gelacht haben. Das war echt scheiße von den anderen."

Wenn sie wüsste, wie sehr es mich freut, dass sie sich meinetwegen solche Gedanken macht. Damit hätte ich im Leben nicht gerechnet. „Ist schon okay", sage ich lächelnd. „Dir muss überhaupt nichts leidtun. Du kannst ja nichts dafür." Selbstverständlich erinnere ich mich daran, dass sie die Einzige war, die mich nicht ausgelacht hat.

Zaghaft erwidert Georgia mein Lächeln und mir fällt wieder einmal auf, wie hübsch dieses Mädchen ist. „Tja, ich muss dann auch mal los", sagt sie entschuldigend. „Wir sehen uns bestimmt morgen wieder. Und übrigens – deine neue Frisur steht dir richtig gut!"

Oh mein Gott. Hat sie nicht gesagt. „Danke", bringe ich strahlend hervor und nachdem wir uns verabschiedet haben, bin ich kurz davor, einen kleinen Freudentanz aufzuführen. Allerdings komme ich nicht dazu, denn im selben Augenblick rollt der knallrote Mini meiner Mum auf den Parkplatz.

Ihr Blick trifft mich durch die Windschutzscheibe und ich sehe, wie sie sich erschrocken eine Hand vor den Mund schlägt. Im Gegensatz zu Georgia scheint sie keinen Gefallen an meinem Haarschnitt zu finden. Zügig gehe ich zu ihrem Auto, öffne die Beifahrertür und steige ein. „Hi, Mum", begrüße ich sie ungerührt. „Alles klar bei dir?"

Meine Mutter sieht aus, als hätte sie gerade der Schlag getroffen. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht?", fragt sie entsetzt und mustert mich wie einen Außerirdischen. „Das ist doch hoffentlich nur ein Scherz, oder?"

„Nee, eigentlich nicht", entgegne ich gelassen und verkneife mir ein Grinsen. Mit ihren weit aufgerissenen Augen und dem offenen, knallrot geschminkten Mund erinnert sie mich entfernt an ein Cartoon. Fehlt nur noch das dicke Ausrufezeichen über ihrem Kopf.

Kopfschüttelnd wendet Mum sich ab, murmelt leise „Oh mein Gott" und manövriert ihren Wagen langsam vom Parkplatz. Es dauert eine Weile, bis sie sich von ihrem Schock erholt hat. „Ich habe einen Tisch für uns reserviert, beim Italiener hier um die Ecke", sagt sie förmlich, ohne ihren Blick von der Straße abzuwenden. „Ist etwas teurer dort, aber zur Feier des Tages darf das ja ruhig mal sein."

„Was gibt's denn eigentlich zu feiern?", frage ich misstrauisch, weil mir diese Geheimniskrämerei total auf den Sack geht. Falls sie schwanger ist, soll sie es mir lieber jetzt sagen, damit ich mir das Essen sparen kann.

Doch Mum lässt sich kein einziges Wörtchen entlocken und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu gedulden. Eine Viertelstunde später sitzen wir bei besagtem Italiener, der mehr als nur „ein bisschen teuer" wirkt. Im Prinzip ist es einer dieser Schickimicki-Läden für Superreiche, in die ich normalerweise niemals einen Fuß setzen würde, aber solange meine Mutter zahlt, soll's mir recht sein.

Ich atme erleichtert auf, als sie für uns beide eine Flasche Sekt bestellt. Schwanger ist sie also nicht. Zum Glück. Aber was ist dann der Grund für ihr Theater? „Mum, sag jetzt endlich, was los ist", platzt es ungeduldig aus mir heraus. „Du weißt, ich hasse Geheimnisse."

„Na gut", sagt sie geziert kichernd und wartet, bis der Kellner wieder abgezischt ist. Dann beugt sie sich leicht vor und flötet mit glockenheller Stimme: „Bruce hat mir einen Heiratsantrag gemacht. Wir sind jetzt verlobt!"

Ihr Ernst? Dafür hat sie mich hierher geschleift? „Glückwünsch", sage ich mit einem gezwungenen Lächeln. „Das ist ja schön für dich und Bruce." Im selben Moment bemerke ich den fetten Diamantklunker, der an ihrer linken Hand glitzert. Gar nicht protzig oder so.

„Danke, mein Herz", trällert Mum strahlend und kneift mir über den Tisch hinweg in die Wange. „Lass uns darauf anstoßen!"

Nachdenklich nippe ich an meinem Sektglas und versuche, meine Gedanken zu sortieren. Eigentlich würde ich mich gerne für meine Mutter freuen, aber das geht nicht, weil es Bruce ist. Ich kann diesen aufgeblasenen Schnösel einfach nicht leiden. Falls sie hofft, ich würde auf ihrer Hochzeit als Trauzeuge oder Blumenkind in Erscheinung treten, muss ich sie enttäuschen. Ebenso werde ich einen Teufel tun und Doktor Frankenstein fortan wie meinen Vater behandeln.

„Ich muss ihn aber nicht „Dad" nennen, sobald ihr verheiratet seid, oder?", frage ich trocken, während ich mir den letzten Rest Sekt von den Lippen lecke. Wenn sie das von mir verlangen sollte, war's das mit unserer soliden Mutter-Sohn-Beziehung.

Mums glückseliges Lächeln verblasst ein wenig. „Tu dir keinen Zwang an", sagt sie spitz und genehmigt sich einen weiteren Schluck Sekt. „Apropos „Dad" – wie geht's eigentlich Everard? Hat er seinen Knacks mittlerweile überwunden?"

Ihr abschätziger Unterton stößt mir sauer auf, doch ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. „Er ist auf dem Weg der Besserung", flunkere ich stattdessen, weil ich ihr nicht noch mehr Grund zum Lästern geben möchte.

Meine Mutter gibt einen missbilligenden Zischlaut von sich. „Dieser Mann gehört in die Geschlossene", behauptet sie eiskalt und scheint spontan vergessen zu haben, dass sie ihn einmal geliebt hat. „Er ist gebrochen, labil und als Psychotherapeut vollkommen ungeeignet!"

„Seine Patienten waren immer sehr zufrieden mit seiner Arbeit", knirsche ich gereizt, aber mit ruhiger, entschlossener Stimme. „Dad hat immer alles für andere gegeben, ohne auf sich selbst zu achten. Nur deshalb ist er überhaupt erst in dieses Loch gefallen."

„Du musst es ja wissen", schnaubt Mum ungehalten, die den Blick fürs Wesentliche verloren zu haben scheint, seit sie ihrer wandelnden Botoxspritze namens Bruce hoffnungslos verfallen ist.

„Weiß ich auch", entgegne ich knapp und winke einen der Kellner herbei. „Ich hätte gerne Spaghetti Carbonara und dazu die Crostini mit Thunfisch. Ach, und wenn wir schon dabei sind – das Tiramisu als Nachspeise wäre auch nicht schlecht."

Lasst mir gerne ein Vote & Kommentare da, wenn's euch gefallen hat ;)

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