4 | Bad ass and blind
Auch eine Woche später habe ich noch nicht mit Georgia gesprochen. Das ist traurig, aber immerhin hat sie meine Existenz mittlerweile zur Kenntnis genommen. Zumindest glaube ich das. Zwei-, dreimal haben sich unsere Blicke gekreuzt – zufällig und jeweils nur für wenige Sekunden, doch sie hat mich angeschaut. Wahrscheinlich ist es lächerlich, aber diese Kleinigkeit verschafft mir ein zwischenzeitliches Hochgefühl, das sich mit nichts anderem vergleichen lässt.
Inzwischen weiß ich außerdem, dass Georgias Mutter als Grundschullehrerin arbeitet und nach York versetzt wurde, weshalb die Familie hierher umgezogen ist. Vorher haben sie in Bridlington gewohnt, einer kleinen Stadt an der Nordseeküste. All diese Informationen kenne ich nur, weil ich neulich in der Mensa zufällig hinter Georgia in der Schlange stand und gelauscht habe, als sie sich mit einer Mitschülerin darüber unterhalten hat.
Obwohl sie noch nicht lange bei uns ist, scheint sie sich bereits bestens eingelebt zu haben. Das freut mich zwar für sie, allerdings stört es mich zunehmend, dass sie ständig mit Reece und seinen blöden Kumpels abhängt. Offenbar hat sich Georgia mit ihnen angefreundet – warum auch immer. Reeces überhebliche, sexistische Art und sein ihm vorauseilender, schlechter Ruf scheinen sie nicht im Geringsten abzuschrecken, im Gegenteil. Vielleicht muss ich auch ein Arschloch werden, damit sie sich für mich interessiert.
Dass ich mit meiner Meinung über Reece und seine Freunde genau richtig liege, stellen sie heute während des Sportunterrichts einmal mehr unter Beweis. Unser Sportlehrer Mr. Blackmore, ein klassischer, grobschlächtiger Kasernenhof-Typ, der uns gerne durch die Halle scheucht wie Karnickel und stets brüllend kommuniziert, hat offenbar keine Lust, sich an den Lehrplan zu halten, denn er lässt uns kurzerhand Fußball spielen, statt sich unserem eigentlichen Thema Leichtathletik zu widmen.
Abwechselnd treten Jungen und Mädchen gegeneinander an und weil Mr. Blackmore plötzlich einfällt, dass vielleicht doch so etwas wie ein Gentleman in ihm steckt, beschließt er, die Mädels zuerst spielen zu lassen – ganz nach dem Motto „Ladies first". Fußball an sich interessiert mich eigentlich wenig, aber ich genieße es dennoch, Georgia von der Bank aus dabei zu beobachten, wie sie ihr Bestes gibt. Selbst in Jogginghose und T-Shirt macht sie eine überragende Figur. Ihre Wangen sind vor Anstrengung leicht gerötet und ein paar kupferfarbene Locken hängen ihr in die Stirn. Sie hat noch nie schöner ausgesehen.
Viel zu schnell ist das Spiel der Mädchen vorbei und wir Jungs sind an der Reihe. Mr. Blackmore wählt zwei Kapitäne aus, die ihre Teams zusammenstellen sollen – natürlich entscheidet er sich für Reece und Kim, die beiden sportbegeisterten Möchtegern-Bodybuilder, die jeweils an die eins neunzig groß sind und so aussehen, als würden sie jede freie Minute im Fitnessstudio verbringen. Rein von ihrer Statur her könnten sie problemlos als Türsteher arbeiten.
Wie erwartet wählen sie zuerst ihre Freunde aus und teilen danach die übrigen, halbwegs sportlichen Jungen unter sich auf. Da ich weder mit Reece, noch mit Kim befreundet bin und Sport auch nicht gerade mein Lieblingsfach ist, bleibe ich folgerichtig als Letzter übrig. Wirklich überraschend finde ich das nicht, es ist schließlich nicht das erste Mal.
Kims Blick streift mich und sein Mund verzieht sich zu einem mitleidigen Grinsen. „Das tut mir jetzt echt leid, Mann, aber unsere Ersatzbank ist leider schon voll", lässt er mich spöttisch wissen, während Ezra und Parker hinter ihm feixen. Vollidioten.
„Na schön", schaltet sich Reece achselzuckend ein und mustert mich ohne besondere Begeisterung. „Dann bist du halt in meinem Team, Alfred oder wie du heißt. Tu mir einen Gefallen und verkack es nicht, okay?"
Noch bevor ich ihm erklären kann, dass ich Albie heiße und keine Ahnung von Fußball habe, fordert Mr. Blackmore uns lautstark dazu auf, endlich mit dem Spiel zu beginnen. Nur wenige Augenblicke später ertönt der Anpfiff, ohne dass mir vorher jemand gesagt hat, was ich tun soll. Ich erinnere mich daran, dass Georgia zuschaut und sie ist wirklich die letzte Person, vor der ich mich zum Affen machen möchte. Dementsprechend bleibt mir nichts anderes übrig, als zu improvisieren.
Notgedrungen täusche ich Engagement vor, renne dem Ball hinterher, versuche, mich an meinen Mitspielern zu orientieren und befolge sogar Reeces arrogante Anweisungen, die er mir alle paar Minuten zubrüllt. Seine Rolle als Kapitän ist ihm offenbar schnell zu Kopf gestiegen, denn er kommandiert nicht nur mich herum, sondern auch die anderen Mitglieder seines selbst gewählten Teams. Leider kann er sich das problemlos erlauben, weil er von uns allen der mit Abstand beste Spieler ist.
Höchstens Kim kann ihm das Wasser reichen, aber er spielt im gegnerischen Team – sehr zu meinem Leidwesen. Von Beginn an lässt er nicht den geringsten Zweifel daran, dass er auf Fair Play scheißt. Jeder, der sich ihm in den Weg stellt, wird gnadenlos abgeräumt, entweder durch den Einsatz seiner Ellenbogen oder mithilfe äußerst brutaler Grätschen, die in jedem richtigen Spiel eine glatte rote Karte bedeuten würden. Einmal schaffe ich es nicht, ihm rechtzeitig auszuweichen und werde rücksichtslos von ihm umgenietet – danach spüre ich meine linke Arschbacke nicht mehr.
„Sorry, hab dich nicht gesehen!", ruft Kim mir mit gespieltem Bedauern zu, doch das fiese Glitzern in seinen Augen verrät ihn. Mühsam presse ich die Lippen aufeinander, damit mir keine bösen Worte entschlüpfen.
Letztendlich endet das Spiel unentschieden mit einem Stand von 2:2. Reece regt sich fürchterlich darüber auf und schnauzt uns alle der Reihe nach an, weil er offensichtlich lieber gewonnen hätte. Mir ist sein Gemotze jedoch herzlich egal, ich bin einfach nur froh, dass ich dieses blöde Spiel ohne größere Verletzungen überstanden habe. Ziemlich außer Atem schleppe ich mich an den Hallenrand und lasse mich dort zu Boden sinken, um ein wenig zu verschnaufen.
Die Ruhe währt allerdings nicht lange, denn schon wenige Minuten später taucht plötzlich kein Geringerer als Reece vor mir auf. Die Zornesröte in seinem Gesicht verblasst langsam und natürlich sieht er kein bisschen geschafft aus. Zu meiner Überraschung streckt er mir seine Hand entgegen. „Komm schon", sagt er im Befehlston. „Steh auf, stell dich nicht so an!"
Eigentlich habe ich keine Lust, das zu tun, was er sagt, doch ich will auch nicht vor ihm auf dem Boden sitzen wie ein Loser, während er auf mich herabschaut. Also greife ich widerstrebend nach seiner verschwitzten Hand und lasse mich von ihm hochziehen, wobei er mir fast die Schulter auskugelt. „Danke", murmle ich kurz angebunden, obwohl ich keine Ahnung habe, was er überhaupt von mir möchte.
„Du warst vorhin gar nicht so schlecht", sagt Reece ohne jegliche Überleitung und schenkt mir so etwas wie ein anerkennendes Nicken. „Wir haben zwar nicht gewonnen, aber du hast dir wirklich Mühe gegeben. Respekt, Alfred, ich dachte, du könntest nicht einmal geradeaus laufen."
Na, herzlichen Dank auch. „Ich heiße Albie", entgegne ich zähneknirschend, ohne mich für das fragwürdige Lob zu bedanken. „Oder Albert, um genau zu sein." Shit. Warum habe ich das gesagt?
„Albert?", wiederholt Reece mit zuckenden Mundwinkeln. „Ach du Scheiße. Du tust mir echt leid, Junge. Muss ja voll ätzend sein, so zu heißen."
Noch bevor mir eine passende Antwort darauf einfällt, werden wir unterbrochen. Auf einmal steht Georgia zwischen uns und mir wird schlagartig warm. Sie lächelt uns beide an, doch mir entgeht nicht, dass ihre braunen Augen regelrecht strahlen in dem Moment, als sie Reece anschaut. „Du hast super gespielt", sagt sie und berührt wie zufällig seinen gestählten Oberarm.
Warum tue ich mir das hier eigentlich an? Ich wende meinen Blick ab, damit keiner der beiden merkt, wie unangenehm berührt ich bin. Nur Sekunden später ergreift Georgia erneut das Wort. „Und du natürlich auch", sagt sie freundlich und meint damit offensichtlich mich.
Ungläubig starre ich sie an. Träume ich oder redet sie wirklich mit mir? „Ich ... danke", antworte ich stotternd und spüre, wie mir das Blut ins Gesicht schießt. Vermutlich leuchtet mein Kopf gerade so rot wie ein Pavianarsch. Einfach. Nur. Peinlich.
Während ich immer noch nicht darauf klarkomme, dass sie tatsächlich mit mir gesprochen hat, grinst Reece süffisant und legt seinen Arm um Georgias Taille. „Nur weil du zugeschaut hast, Babe", säuselt er mit ungewöhnlich rauer Stimme, woraufhin ihr Lächeln noch eine Spur breiter wird. „Lass uns gehen, ja? Ich muss dringend duschen."
Ohne sich voneinander zu lösen, entfernen sich die beiden und ich bleibe alleine am Rand der Halle zurück. Mein eben noch dagewesenes Glücksgefühl hat sich innerhalb kürzester Zeit wieder verflüchtigt. Ich habe ja schon mitbekommen, dass Georgia auf Reece abfährt und umgekehrt, aber es ist schon sehr hart, dabei zusehen zu müssen, wie er sie direkt vor meiner Nase antatscht und ihr irgendwelche peinlichen Kosenamen ins Ohr seufzt. Die Tatsache, dass sie seine Avancen zu genießen scheint, macht es noch ungefähr zehntausendmal schlimmer.
„Goldsborough!", trompetet Mr. Blackmore quer durch die Halle und winkt mich energisch zu sich. „Komm gefälligst her und hilf mir, die Tore wegzuräumen. Heute noch, wenn's geht!"
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