3 | You've got a friend in me
Seit unserer gemeinsamen Grundschulzeit ist Lorcan O'Casey mein bester Freund. Genau genommen habe ich außer ihm auch keine anderen Freunde, aber ist kein Problem für mich, denn ich weiß, dass ich mich jederzeit hundertprozentig auf ihn verlassen kann. Nur in der Schule muss ich leider ohne ihn zurechtkommen, denn aufgrund seiner besonderen mathematischen Begabung besucht er eine andere High School als ich.
Meistens treffen wir uns am Nachmittag – die Tatsache, dass wir nicht weit voneinander entfernt wohnen, erleichtert uns dabei einiges. Heute hat sich Lorcan extra etwas Zeit freigeschaufelt, obwohl er eigentlich für irgendeine wichtige Prüfung lernen muss, die in den nächsten Tagen ansteht. Dass er meinetwegen sogar seine geliebten mathematischen Formeln links liegen lässt, rechne ich ihm hoch an.
Heute sind wir in einem nahegelegenen Park verabredet, der inoffiziell auch bekannt ist als Yorks größte Hundetoilette. Wenn man nicht genau auf den Weg achtet, kann es nur allzu leicht passieren, dass man eine der unzähligen Tretminen erwischt, die dort überall herumliegen. Es ist also ständige Vorsicht geboten. Nichtsdestotrotz gehe ich gerne in diesen Park, weil er so schön grün ist und sich hervorragend für kleinere Spaziergänge eignet.
Ich erreiche die Grünanlage als Erster, doch lange muss ich nicht auf meinen Freund warten. Nur wenige Minuten später taucht Lorcan auf und grinst mich schon von weitem an. Wie üblich trägt er seine Chucks, deren Schnürsenkel gefährlich locker sitzen und seine braunen Haare sind etwas zerzaust, dabei ist es heute überhaupt nicht windig. Ich glaube, Lorcan ist der einzige Mensch, der es schafft, zu jeder Tages-und Nachtzeit so auszusehen, als hätte er gerade einen abenteuerlichen Fallschirmsprung hinter sich.
„Hey, Albie", begrüßt er mich fröhlich, sobald er die morsche Bank erreicht hat, auf der ich sitze. „Na, wie geht's? Alles klar?" Da seine Familie ursprünglich aus Irland stammt, spricht er mit einem leichten Akzent, der mal mehr, mal weniger deutlich zu hören ist. Mir persönlich fällt es schon gar nicht mehr auf, weil ich mich mit der Zeit so sehr daran gewöhnt habe.
„Wie man's nimmt", antworte ich achselzuckend und stehe auf, weil ich nicht vorhabe, hier sitzen zu bleiben. „Gehen wir ein Stück? Dann erzähl ich dir alles in Ruhe."
Wenig später schlendern wir Seite an Seite die kiesigen Pfade entlang und weichen gelegentlich stinkenden Hundehaufen aus, während ich Lorcan von meinem Tag berichte. Anders als geplant erwähne ich Georgia nur am Rande und rede stattdessen umso mehr über meinen Dad, dessen Zustand mir immer mehr zusetzt.
Anfangs war ich lediglich besorgt um ihn, aber inzwischen ist es weitaus mehr als das. Ich habe Angst. Angst davor, dass er versehentlich eine Überdosis nehmen könnte. Angst davor, dass er nie wieder so sein wird, wie er früher war. Angst vor der Zukunft, die momentan ungewisser scheint denn je.
„Was ist eigentlich mit deiner Mum?", fragt Lorcan irgendwann, nachdem er sich fast eine Viertelstunde lang geduldig meine Klagen angehört hat. „Juckt es sie gar nicht, was bei euch los ist?"
Beim Gedanken an meine Mutter verdrehe ich automatisch die Augen. „Nö", brumme ich missmutig und trete frustriert gegen einen großen Kieselstein, der raschelnd im Gebüsch landet. „Die denkt nur an sich und ihren komischen Doktor Frankenstein. Weißt du doch."
„Doktor Frankenstein" heißt eigentlich Bruce und ist Mums derzeitiger Lebensabschnittsgefährte. Meine Eltern sind schon seit Jahren getrennt und nach mehreren, kurzweiligen Beziehungen mit verschiedenen Männern hat sie vor etwa drei, vier Monaten auf einmal diesen Typen angeschleppt. Bruce, seines Zeichens Schönheitschirurg, ist ganze siebzehn Jahre älter als meine Mutter und war insgesamt schon dreimal verheiratet. Woran seine Ehen gescheitert sind, weiß ich natürlich nicht, aber dennoch bezweifle ich stark, dass die Romanze zwischen ihm und Mum von langer Dauer ist.
Ich für meinen Teil hätte nichts dagegen, wenn sie sich bald wieder trennen. Von all den Männern, die Mum mir bisher vorgestellt hat, ist Bruce mit Abstand der Unangenehmste. Ständig versucht er, sich meine Zuneigung zu erkaufen, indem er mir teure Geschenke macht. Neulich wollte er mir sogar ein neues Handy spendieren. Einfach so. Ich habe abgelehnt, weil ich erstens schon ein Handy besitze und zweitens möchte, dass er endlich aufwacht. Ich bin nicht käuflich und daran wird sich auch nichts ändern. Da kann Bruce sich meinetwegen auf den Kopf stellen.
„Der Typ nervt tierisch", maule ich, während Lorcan sich ein Grinsen nicht verkneifen kann. „Aber meine Mum auch. Mit ihm zusammen ist sie immer so schräg drauf." So schräg, dass ich es in ihrer Gegenwart kaum aushalte. Jedes Mal, wenn ich sie besuche und Bruce auch da ist, fühle ich mich wie in einer bescheuerten Sitcom mit dem Titel „Meine Mum, ihr Sugardaddy und ich".
„Kopf hoch, Albie", sagt Lorcan aufmunternd und klatscht mir unsanft auf die Schulter. „Mit ein bisschen Glück lösen sich deine Probleme bald von alleine. Du musst halt geduldig sein."
„Das sagst du so einfach", entgegne ich pessimistisch, hoffe aber insgeheim, dass er Recht behält. Ich wünschte, ich könnte mir von seiner positiven Art eine Scheibe abschneiden.
„Du kriegst das schon hin", meint er mit einem zuversichtlichen Lächeln. „Und jetzt erzähl mir mehr von dieser Georgia. Wie sieht sie aus? Haarfarbe? Augenfarbe? Schuhgröße?" Je schneller er spricht, desto stärker schimmert sein Akzent durch.
Schmunzelnd beantworte ich ihm seine Fragen, doch so viel gibt es gar nicht zu erwähnen, schließlich kenne ich Georgia erst seit einem Tag und bisher habe ich noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt. Trotzdem taucht ihr schönes, sommersprossiges Gesicht immer wieder vor meinem geistigen Auge auf. Ich bilde mir ein, den Klang ihrer Stimme zu hören und male mir aus, wie es wäre, mit ihr zu reden. Mir ist klar, dass das total bescheuert ist, aber irgendwie kann ich nicht anders.
„Wie süß", säuselt Lorcan, dem selbstverständlich nicht entgeht, wie fasziniert ich von ihr bin. „Albie ist verknallt!" Sein breites Feixen reicht von einem Ohr zum anderen.
„Gar nicht", behaupte ich halbherzig und seufze im nächsten Moment ergeben. „Selbst wenn's so wäre – ich hätte sowieso keine Chancen bei ihr."
„Warum denn nicht?", gackert er, während sein Grinsen noch eine Spur breiter wird. „Guck dich doch mal an. Du siehst aus wie der junge Brad Pitt!" Übermütig rempelt er mich an, woraufhin ich das Gleichgewicht verliere und einen Ausfallschritt mache, um nicht auf dem Boden zu landen.
Ein widerliches, schmatzendes Geräusch ertönt und ich spüre etwas Weiches unter meiner linken Schuhsohle. Sekunden später steigt mir ein ekelerregender Gestank in die Nase. „Fuck!", schimpfe ich und unterdrücke ein Würgen. Gleichzeitig versuche ich mehr schlecht als recht, die Hundekacke auf einem Grasbüschel am Wegrand abzuschmieren.
„Sorry, war keine Absicht", sagt Lorcan mit zuckenden Mundwinkeln, doch wirklich ernst bleiben kann er nicht. „Wenn ich du wäre, würde ich die Dinger morgen auf keinen Fall anziehen. Scheiße unterm Schuh kommt bei Georgia bestimmt nicht gut an."
Ich schnaube und würde am liebsten sauer auf ihn sein, aber natürlich funktioniert das nicht. „Danke für den Tipp, Lori", sage ich deshalb ruhig, wobei ich das letzte Wort besonders betone. Er hasst diesen Spitznamen, weil sein älterer Bruder ihn seit Kindheitstagen damit aufzieht.
„Gern geschehen, Albert", antwortet er mit einem frechen Grinsen. „Lass uns langsam nach Hause gehen. Dann kann ich noch ein bisschen lernen und du kannst deine Schuhe sauber machen."
Einen Freund wie Lorcan braucht jeder. Wer stimmt mir zu? :D
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