20 | Stand by me
Albie (7:21 Uhr): Hey, hier ist gestern was passiert ... bleibe heute zuhause, weil ich Dad nicht alleine lassen will.
Georgia (7:45 Uhr): Okay, ich hoffe, dir geht's soweit gut. Wenn was ist oder du reden möchtest, ruf mich einfach an oder schreib mir!
Ihre Antwort habe ich noch gelesen, danach bin ich anscheinend wieder eingeschlafen. Als ich aufwache, ist es nämlich schon Viertel nach zehn. Schlaftrunken richte ich mich im Bett auf, reibe mir die Augen und lasse zu, dass nach und nach die Erinnerungen an den gestrigen Tag zurückkehren. Das Treffen mit Georgia war wirklich wunderschön und nahezu perfekt. Währenddessen und auch danach war ich so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Niemals hätte ich damit gerechnet, dass dieser rundum geniale Nachmittag wenig später in einer Beinahe-Katastrophe enden würde. Obwohl es nicht kalt in meinem Zimmer ist, bekomme ich eine Gänsehaut, als ich daran denke, wie ich gestern in den Hausflur gestürmt bin und wegen des dichten Rauchs erst mal einen Hustenanfall bekommen habe. Irgendwie ist es mir trotzdem gelungen, mich in die Küche durchzukämpfen, die ich schnell als Quelle des Übels identifizieren konnte.
Ich weiß noch, wie ich fluchend den Backofen ausgeschaltet und alle Fenster weit aufgerissen habe, um mich und die anderen Bewohner des Hauses vor dem sicheren Erstickungstod oder einer Rauchvergiftung zu bewahren. Im Ofen bin ich dann auf etwas gestoßen, das früher vermutlich mal eine Tiefkühlpizza war. Die verkohlten, schwarzen Überreste habe ich weggeschmissen und mich dabei über Dad geärgert, der beinahe sich selbst und unser Haus in Brand gesteckt hätte.
Ihn habe ich kurz darauf im Wohnzimmer auf der Couch gefunden – schlafend, mit einer angebrochenen Medikamentenpackung neben sich. Offenbar hatte er wieder zu viele von den Dingern intus und ist eingepennt, ohne vorher die Pizza aus dem Ofen zu holen. Was passiert wäre, wenn meine Verabredung mit Georgia noch länger gedauert hätte, möchte ich mir gar nicht ausmalen.
Mir ist klar, dass ich ein ernstes Wörtchen mit meinem Vater reden muss. So kann es nicht weitergehen. Wenn wir jetzt nicht handeln, bringt er sich womöglich eines Tages aus Versehen um. Seufzend stehe ich auf, gehe kurz ins Bad, um mir wenigstens das Gesicht zu waschen und mache mich anschließend auf den Weg ins Erdgeschoss. Unten auf der letzten Treppenstufe hockt Steven, der mich leise gurrend begrüßt.
Den gestrigen Schock scheint der Kater mittlerweile überwunden zu haben – ich glaube, ganze drei Katzensticks waren nötig, um ihn unter meinem Bett hervor zu locken. Dort hat er sich nämlich vor dem Rauch versteckt. Ich nehme Stevie auf den Arm und gehe mit ihm ins Wohnzimmer. Auf der Türschwelle bleibe ich jedoch wie angewurzelt stehen und lasse mein unschuldiges Haustier vor Überraschung beinahe fallen.
Anders als sonst schläft Dad nicht, sondern er sitzt mit seinem Laptop auf der Couch, vor ihm auf dem Tisch steht eine dampfende Tasse Kaffee. Er ist ordentlich angezogen, hat sich zum ersten Mal seit Monaten wieder seine Haare vernünftig frisiert und den Bart getrimmt. Als er den Kopf hebt und mich ansieht, ist sein Blick nicht wie sonst vernebelt, sondern klar, fokussiert und vor allem ziemlich ernst. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er heute noch keine Medikamente genommen hat.
„Schön, dass du wach bist, Albert", sagt Dad mit einem traurigen Lächeln, wobei er geflissentlich die Tatsache ignoriert, dass ich um diese Zeit längst in der Schule sein sollte. „Würdest du dich kurz zu mir setzen? Ich muss etwas mit dir besprechen."
Sein Tonfall lässt keinen Zweifel daran, dass es sich um etwas sehr Wichtiges handelt. Stumm setze ich Stevie auf einem der Sessel ab und nehme selbst neben meinem Vater auf der Couch Platz. Noch bevor er zu sprechen beginnt, fällt mein Blick auf den Laptop. Offenbar tauscht sich Dad gerade per E-Mail mit seinem behandelnden Arzt aus.
„Der Vorfall gestern hat mir die Augen geöffnet." Er redet nicht lange um den heißen Brei herum, sondern kommt direkt zur Sache. „Ich kann nicht weiter hier zuhause rumliegen, meine Pillen schlucken und darauf hoffen, dass sich etwas ändert. Das wäre nicht nur falsch, sondern auch unverantwortlich." Ein kurzes Räuspern, ehe er fortfährt. „Deshalb habe ich beschlossen, zu handeln."
Mit offenem Mund starre ich ihn an. Das habe ich nicht kommen sehen. „Was hast du vor?", frage ich nach ein paar Sekunden, während mein Hirn noch dabei ist, die unerwarteten Neuigkeiten zu verarbeiten.
Dad räuspert sich erneut. „Es gibt eine Kurklinik in Cornwall, die einen ausgezeichneten Ruf genießt. Ich habe oft genug Patienten von mir dorthin geschickt und ich glaube, nun ist es an der Zeit, dass ich mich selber vor Ort behandeln lasse. Mein Arzt hat mir schon sein Okay gegeben. Jetzt würde ich gerne wissen, wie du dazu stehst."
Ich schlucke, weil ich von seinem plötzlichen Sinneswandel immer noch völlig überwältigt bin. Dennoch weiß ich ganz genau, wie ich zu seinen Plänen stehe. „Das ist eine gute Idee", höre ich mich langsam sagen. „Dort wird man dir bestimmt helfen können, Dad." Hoffentlich.
Seiner Miene nach zu urteilen, ist er sehr erleichtert angesichts meiner Reaktion. „Schön, dass du einverstanden bist", antwortet er dankbar, bevor er verlegen zu Boden schaut. „Die Frage ist nur, was aus dir wird, während ich weg bin. Ich dachte, du könntest vielleicht bei deiner Mutter unterkommen. Susan hätte bestimmt nichts dagegen. Schon klar, du magst diesen Brian nicht besonders gerne, aber es wäre ja nur für sechs Wochen."
Schmunzelnd verkneife ich es mir, Dad darauf hinzuweisen, dass Brian eigentlich Bruce heißt und es darüber hinaus eine ziemliche Untertreibung ist, zu behaupten, ich würde ihn „nicht besonders mögen". Stattdessen überlege ich, ob es nicht doch eine andere Möglichkeit für mich gibt. „Ich könnte auch solange bei Lorcan wohnen", schlage ich vor. „Connor und Keira hätten bestimmt nichts dagegen." Seine Eltern haben schon häufiger darüber gescherzt, dass ich quasi ihr dritter Sohn bin, so oft, wie ich bei ihnen zuhause rumhänge.
„Von mir aus gerne." Dad nickt eifrig vor sich hin. „Sobald alles andere geklärt ist, werde ich mit den beiden sprechen. Weißt du, ich bin wirklich stolz auf dich, mein Sohn. Du gehst so erwachsen mit dieser Situation um – eigentlich könnte ich mir von dir noch eine Scheibe abschneiden."
Ich kann mich nicht erinnern, wann mein Vater zuletzt so klar und reflektiert gewirkt hat. Jetzt gerade fühlt es sich beinahe so an, als säße der Mann neben mir, der er vor seinem Zusammenbruch war. „Du wirst mir fehlen, wenn du weg bist", gebe ich ehrlich zu. „Aber ich möchte, dass du wieder gesund wirst. Das wäre mein größter Wunsch."
Dad legt einen Arm um meine Schultern und drückt mich kurz an sich. „Meiner auch, Albie. Ich verspreche dir, dass ich an mir arbeiten werde. Nicht nur für mich, sondern in erster Linie für dich, damit ich dir wieder ein gutes Vorbild sein kann."
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