2 | My dad's gone crazy

Nachmittags fahre ich wie immer mit dem Bus nach Hause. Die Eastwood High befindet sich im historischen Zentrum von York, unweit der berühmten, gotischen Kathedrale York Minster. Da ich jedoch etwas außerhalb wohne, ist es mir leider nicht möglich, meinen Schulweg zu Fuß zurückzulegen. Früher hat mein Dad mich manchmal zur Schule gefahren und auch wieder abgeholt, aber dieser Luxus gehört längst der Vergangenheit an.

Unser Zuhause befindet sich am äußersten Stadtrand, mitten in einer ruhigen, wenn nicht gar spießigen Wohngegend. Hier leben überwiegend Rentner oder Familien mit Kindern, die Wert darauf legen, dass ihre Blagen in einem möglichst sicheren Umfeld aufwachsen. Ich frage mich, ob sie ahnen, dass ein Großteil der Jugendlichen im Nachbarviertel regelmäßig mit Gras und anderen Drogen dealt.

Mir wollten sie auch schon mal etwas andrehen, aber ich habe dankend abgelehnt. Es reicht schon, dass mein Vater sich ständig Pillen einwirft, als wären es Hustenbonbons. Eigentlich sollen ihm die Dinger dabei helfen, wieder auf sein Leben klarzukommen, aber ich habe schon länger den Eindruck, dass sie genau das Gegenteil bewirken. Aus diesem Grund lasse ich lieber die Finger von Medikamenten – völlig egal, ob legal oder illegal.

Mit langen Schritten biege ich in die Seitenstraße namens Prior's Walk ein, an deren Ende sich unser Haus befindet. In der Nachbarschaft ist es bekannt als das sogenannte „Suicide House", weil der Vorbesitzer, ein gewisser Mr. Brewster, sich dort einst selbst das Leben genommen hat. Angeblich war er ein alleinstehender, depressiver Alkoholiker und noch immer wird viel spekuliert über die Art und Weise, wie er zu Tode gekommen ist.

Einige munkeln, er habe sich mit seinem eigenen Gürtel am Dachbalken aufgehängt. Andere wiederum behaupten, er sei im Vollrausch aus dem Fenster gesprungen und anschließend gestorben. Was wirklich passiert ist, weiß letztendlich niemand – außer natürlich Mr. Brewster selbst, der die wahre Geschichte über sein Ableben jedoch keinem mehr anvertrauen kann. In unserem Garten steht ein kleines, hölzernes Gedenkkreuz für ihn. Wenn es draußen stürmisch ist, kippt es manchmal um, aber ich stelle es immer wieder auf, weil ich mich ansonsten irgendwie mies fühlen würde.

Mein Dad ist selbstverständlich zuhause, als ich heimkomme, doch er scheint mich nicht unbedingt erwartet zu haben. Wie so oft sitzt er im Wohnzimmer auf dem Sofa, der Fernseher läuft, doch der Ton ist stummgeschaltet. Dads Blick wirkt vernebelt und er schaut nicht auf den Bildschirm, sondern in irgendwelche nicht vorhandenen Ecken des Zimmers, in denen er offenbar etwas Interessantes zu sehen glaubt. Ein verträumtes, duseliges Lächeln liegt auf seinem Gesicht.

„Hallo, Dad", begrüße ich ihn wohlwollend, während ich das Wohnzimmer betrete und prompt nach der Fernbedienung greife, um den Kasten auszuschalten. Er verfolgt das Programm ja ohnehin nicht.

„Oh ... hallo, Albert", erwidert er geistesabwesend, ohne mich wirklich anzusehen. „Seit wann bist du denn schon hier?"

„Seit gerade eben", antworte ich geduldig und überhöre den Namen „Albert" geflissentlich. Dad ist neben meinen Lehrern der einzige Mensch, der mich so nennt und das ist auch gut so.

Bis heute frage ich mich, wie er und meine Mutter auf die bescheuerte Idee gekommen sind, mich nach meinen beiden Großvätern zu benennen, die ich leider nie kennenlernen konnte, weil sie bereits vor meiner Geburt verstorben sind. Ich glaube, ihnen ist nach wie vor nicht bewusst, was sie mir damit angetan haben. Einen Siebzehnjährigen, der Albert Wilfred Goldsborough heißt, nimmt in der Regel keiner ernst – weder Gleichaltrige, noch Erwachsene.

Mich tröstet einzig und alleine der Gedanke daran, dass es mich noch schlimmer hätte treffen können. Wäre ich ein Mädchen geworden, hätten meine Eltern mich womöglich nach meinen beiden Großmüttern benannt und ich würde heute unter dem wirklich gruseligen Namen „Sophronia Ernestine Goldsborough" durchs Leben stolpern. Nichts gegen meine Omas, die zum Glück wohlauf sind und zu denen ich einen guten Draht pflege, auch wenn wir uns nur selten sehen können. Sie wohnen beide etwas weiter weg.

„Hast du schon gegessen?", frage ich Dad und bemerke im selben Moment die angebrochene Medikamentenpackung auf dem Wohnzimmertisch. Schon beim Reinkommen habe ich gemerkt, dass er wieder einmal völlig zugedröhnt ist und diese Packung scheint meinen Verdacht zu bestätigen.

Langsam schüttelt er den Kopf und gähnt herzhaft. „Keinen Hunger", murmelt er undeutlich. „Aber der Kater muss gefüttert werden. Und die Fische auch. Habe ich heute noch nicht geschafft."

Nur mühsam unterdrücke ich ein Seufzen. „Na schön", sage ich ergeben. „Dann mach ich das halt. Du kannst dich ja ... ausruhen oder so." Wie ich ihn kenne, wird er gleich einschlafen und wenn er am Abend wieder aufwacht, hat die Wirkung seiner Medikamente hoffentlich nachgelassen.

Da mein Vater nicht reagiert, wende ich mich ab und gehe in die Küche, um den Kater zu füttern. Während ich Nassfutter in seinen Napf fülle, kommt Steven angetrottet und fordert mich maunzend auf, beiseite zu treten. Dafür, dass Dad ständig vergisst, ihn zu füttern, ist er äußerst moppelig und wirkt kein bisschen unterernährt. Allerdings merkt man ihm langsam an, dass er alt wird. Er springt nicht mehr übermütig herum wie früher, sondern liegt die meiste Zeit eingerollt in seinem Körbchen und schläft. Eigentlich steht er nur auf, um zu fressen oder um sein Geschäft zu verrichten. Genau wie Dad.

Schmatzend und kleckernd macht sich Steven über sein spätes Mittagessen her. Ich stehe derweil am Küchenfenster und starre hinaus auf die Straße. Wehmütig denke ich an die Zeit vor Dads Burnout zurück. Damals war er noch ein lebenslustiger, aufgeweckter Mensch, ein kompetenter Arzt und ein fürsorglicher Vater. Nicht nur ich habe ihn geliebt, sondern auch seine Patienten, die ihn stets munter weiterempfohlen haben – ohne zu ahnen, dass er vor lauter Stress innerlich bereits völlig ausgebrannt war.

Als Psychotherapeut hat er in den letzten Jahren hunderte, wenn nicht gar tausende Klienten behandelt, sich ihre Geschichten angehört und mit ihnen systematisch ihre jeweiligen Traumata aufgearbeitet. Meistens mit Erfolg. Sein eigenes Wohlbefinden hat mit der Zeit immer mehr darunter gelitten, doch das wollte er sich ewig nicht eingestehen. Als logische Konsequenz ist er eines Tages zusammengebrochen und seitdem erkenne ich meinen Dad nicht mehr wieder.

Mittlerweile ist er seit einem halben Jahr krankgeschrieben und noch immer ist keinerlei Besserung in Sicht. Sein Hausarzt verschreibt ihm regelmäßig starke Medikamente, die beruhigend und stimmungsaufhellend wirken sollen, aber leider führen sie eher dazu, dass er nach der Einnahme komplett abdreht. Meistens ist er total weggetreten und verwirrt, starrt entrückt vor sich hin oder redet laut mit den Fischen in seinem Aquarium. Manchmal mache ich mir ernsthafte Sorgen, dass mein Vater den Verstand verlieren könnte.

Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, dass er bald die Kurve kriegt und wieder so wird wie früher. Sonst endet er womöglich wie Mr. Brewster. Ich zwinge mich, diese düsteren Gedanken beiseite zu schieben und schlendere zurück ins Wohnzimmer. Dad ist tatsächlich eingeschlafen – der Länge nach ausgestreckt liegt er auf dem Sofa und schnarcht leise, während Steven sich in einem der Sessel zusammengerollt hat. Er sieht beinahe aus wie ein dickes, plüschiges Kissen.

Mir ist das nur recht so. Ich lasse die beiden schlafen, versorge die Fische und schleiche mich danach auf Zehenspitzen wieder aus dem Haus. Vorsichtig ziehe die Tür hinter mir zu, damit ich bloß niemanden aufwecke. Eigentlich habe ich jede Menge Hausaufgaben zu erledigen, aber das kann warten. Eilig laufe ich den Prior's Walk entlang, krame nebenbei mein Handy hervor und rufe Lorcan an. Hoffentlich hat er Zeit, denn ich will ihm unbedingt von Georgia erzählen. Und von meinem Dad. Er ist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann.

Ich weiß, wir befinden uns noch am Anfang der Geschichte, aber wie findet ihr Albie bis jetzt? Würde mich interessieren ;)

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