19 | Pointless
Schritt 11: Werde kriminell! Hast du schon mal einen Bad Boy mit einer weißen Weste gesehen? So etwas gibt es nicht. Regeln und Gesetze sind dazu da, um gebrochen zu werden. Natürlich musst du nicht gleich jemanden umbringen, aber Diebstahl oder ein kleiner Raubüberfall sollte schon drin sein.
Nach all den verrückten Dingen, die ich in den letzten Tagen und Wochen erlebt habe, bin ich wirklich sehr froh darüber, dass ich mir Schritt elf ersparen kann. Auch wenn Georgia mir echt wichtig ist – ich möchte nicht ihretwegen im Jugendknast landen. Mein Leben wäre dann endgültig im Eimer, Mum würde mich enterben und Dad ... na ja, er würde es wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen, wenn ich hinter Gittern säße.
Umso besser, dass ich gar nicht erst solche Dummheiten machen muss, um das Mädchen meiner Träume für mich zu gewinnen. Wir haben uns heute in der Stadt verabredet, um den Nachmittag miteinander zu verbringen – ohne dass ich dafür irgendwo einbrechen und unschuldige Menschen ausrauben musste. Tatsächlich frage ich mich, wie viele Kriminelle diese dubiose Liste schon hervorgebracht hat. Zum Glück gehöre ich nicht zu ihnen.
Vor meinem Treffen mit Georgia habe ich lange überlegt, ob ich mir extra dafür neue Klamotten kaufen soll, aber letztendlich bin ich genauso aufgekreuzt wie immer – in verwaschenen Jeans, einem langweiligen Shirt und einer dunklen Jacke darüber. Graue Sneaker runden mein unspektakuläres Outfit ab, doch so wie Georgia mich anstrahlt, als sie mich von weitem kommen sieht, scheint sie meine Klamottenauswahl nicht im Geringsten zu stören.
Sie selbst hat ebenfalls darauf verzichtet, ihre besten Kleider raus zu kramen, was mir wiederum ein gutes Gefühl gibt. „Hey!", ruft sie mir fröhlich entgegen, steuert geradewegs auf mich zu und streicht sich dabei ihre roten Haare aus der Stirn, die etwas klamm vom Nieselregen sind und sich deshalb noch mehr kräuseln als sonst.
„Hey", begrüße ich sie mit einem nervösen Grinsen und erwidere ihre Umarmung, wobei ich von ihrem vertrauten, angenehmen Weihnachtsduft eingehüllt werde. Für meinen Geschmack ist der Moment viel zu schnell wieder vorüber. „Was möchtest du machen?"
„Ich dachte, wir holen uns irgendwo einen Kaffee und du zeigst mir ein bisschen was von der Stadt", antwortet sie mit ihrem Georgia-typischen Lächeln, das mich jedes Mal ansteckt. „So lange wohne ich hier ja noch nicht. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast."
„Hab ich nicht!", versichere ich ihr wie aus der Pistole geschossen, ohne auch nur eine Sekunde lang nachzudenken. Mir ist ganz egal, was wir machen – ich wäre genauso mit von der Partie gewesen, wenn sie vorgeschlagen hätte, zusammen in den Wald zu gehen, um dort nach Tannenzapfen und Gnomen zu suchen. Hauptsache, ich kann möglichst viel Zeit mit ihr verbringen.
„Cool!" Georgias glücklicher Gesichtsausdruck beschert mir ein angenehmes Herzflattern. „Dann lass uns direkt gehen, oder?"
Dieser zaghaften Aufforderung komme ich nur allzu gerne nach. In einem nahegelegenen Café besorgen wir uns jeweils einen Kaffee to go und ich merke mir den Fakt, dass sie Milchkaffee mit einem Schuss Karamellsirup darin am liebsten mag. Wer weiß, wofür es gut ist. Gemeinsam schlendern wir danach durch die Stadt, ignorieren das schlechte Wetter und erzählen uns gegenseitig von unseren Familien, während wir unsere warmen Getränke schlürfen.
Ich erfahre, dass Georgia eine glückliche Kindheit an der Nordseeküste verbracht hat, geprägt von vielen Freiheiten und der liebevollen Erziehung ihrer Eltern. Sie ist die Älteste von drei Schwestern, mit den beiden Jüngeren – Mia und Hannah – verbindet sie ein herzliches Verhältnis. Tatsächlich fällt es mir etwas schwer, sie nicht um ihr stabiles familiäres Umfeld zu beneiden. Gleichzeitig ist Georgia neben Lorcan die einzige Person, bei der ich keinerlei Hemmungen verspüre, ungeschönt von meinem psychisch labilen Vater und meiner oberflächlichen Mutter zu berichten.
Sie hört mir aufmerksam zu, stellt keine übergriffigen Fragen und unterbricht mich nicht ein einziges Mal. Stattdessen macht sie mir Mut, kaum dass ich meinen emotionalen Monolog beendet habe. „Ich bewundere dich dafür, wie du mit der Situation umgehst", sagt sie und ich sehe ihr an, dass sie es komplett ernst meint. „Du bist wirklich stark, Albie. Viel stärker, als du denkst."
Prompt spüre ich, wie Hitze in mir aufwallt. Warum besitzt dieses Mädchen eigentlich die Fähigkeit, mich mit simplen Gesten oder Worten derart aus der Fassung zu bringen? „Danke", murmle ich verlegen und schenke ihr ein Lächeln, das sie ohne zu zögern erwidert.
Wir flanieren weiter durch die Straßen von York und es ist das schönste Gefühl für mich, einfach neben ihr her zu laufen, ohne ständig damit rechnen zu müssen, dass Reece oder einer seiner Kumpels auftauchen und den Moment zerstören könnten. Ich zeige Georgia die Kathedrale, die historische Stadtmauer, die Bootham Bar und das Theater. Obwohl ich diese Orte alle in-und auswendig kenne, ist es, als würde ich sie zum ersten Mal besichtigen. Mit ihr zusammen kommt es mir vor wie etwas ganz Besonderes.
Zum krönenden Ende unserer privaten Stadtführung entführe ich Georgia in ein kleines Schokoladengeschäft, das mir persönlich viel bedeutet. Als ich noch zur Grundschule gegangen bin, habe ich meine erste Sechs in Mathe geschrieben und war extrem traurig darüber. Dad hat mich an diesem Tag abgeholt und um mich aufzumuntern, ist er mit mir in genau dieses Geschäft gegangen. Ich durfte mir so viel Schokolade aussuchen, wie ich wollte und ich erinnere mich, wie er lächelnd die Rechnung bezahlt hat. Am Ende des Tages hatte ich Bauchschmerzen, aber der Frust wegen der schlechten Note war vergessen.
Als ich Georgias leuchtende Augen sehe, mit denen sie die unzähligen Leckereien aus Schokolade betrachtet, weiß ich, dass es eine gute Idee war, sie hierher zu lotsen. „Such dir aus, was du willst", sage ich schmunzelnd zu ihr. „Geht natürlich auf mich. Als Dankeschön für den tollen Tag mit dir."
Sie wendet ihren Blick von der Auslage ab und sieht mich an. „Ich habe zu danken", entgegnet sie, während das Leuchten in ihren Augen noch eine Spur heller wird. „Das heute war mit Abstand der schönste Tag, seit ich hierher gezogen bin."
Zum hundertsten Mal an diesem Nachmittag verspüre ich die altbekannte Hitze, die meinen Kopf zum Glühen bringt. Der verzückte Blick einer Mitarbeiterin des Ladens, die unser Gespräch offenbar mitangehört hat, bringt mich zusätzlich aus dem Konzept. „Gern geschehen", sage ich zu Georgia, obwohl ein Teil von mir daran zweifle, dass sie das gerade eben wirklich gesagt hat. Vielleicht halluziniere ich auch nur.
Insgesamt verbringen wir beinahe eine Dreiviertelstunde im Schokoladengeschäft, weil meine reizende Begleitung von der großen Auswahl überfordert ist und sich nicht entscheiden kann. Verständlich, wie ich finde. Letzten Endes wandert jedoch eine Schachtel kunstvoll verzierter Pralinen über die Ladentheke und wir sind beide der Meinung, dass diese Leckerbissen eigentlich viel zu schön aussehen, um sie aufzuessen.
Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, als Georgia mir eine Praline anbietet, sobald wir wieder draußen sind – während ich kaue, komme ich mir vor wie jemand, der bewusst ein wertvolles Kunstwerk zerstört. Etwa so, als würde ich die Mona Lisa anzünden und dabei zusehen, wie sie in Flammen aufgeht. Angesichts der Tatsache, dass diese Süßigkeit verboten gut schmeckt – nach Zartbitterschokolade, Krokant und Marzipan – rücken meine Schuldgefühle jedoch schnell wieder in den Hintergrund.
Gemeinsam gönnen wir uns noch ein paar Pralinen und genießen unsere letzten Minuten miteinander, bis der Zeitpunkt kommt, an dem wir uns vorerst voneinander verabschieden müssen. Georgia hat ihren Schwestern nämlich versprochen, den Abend mit ihnen und ihrer Lieblingsserie zu verbringen. Jetzt gerade sieht sie allerdings nicht so aus, als würde sie sich übermäßig darauf freuen.
„Tut mir leid, dass ich schon gehen muss", sagt sie bedauernd und bestätigt damit unwissentlich meine Gedanken. „Eigentlich würde ich gerne noch länger bleiben. Es war wirklich schön mit dir, Albie. Hoffentlich können wir das bald wiederholen."
„Na klar können wir das", entgegne ich lächelnd. „Ich finde übrigens, wir sollten nicht allzu lange damit warten."
Ihr schelmisches Grinsen spricht Bände. „Schön, dass wir uns einig sind", antwortet sie und umarmt mich erneut – diesmal etwas länger als vorhin. Am liebsten würde ich sie küssen, aber das traue ich mich nicht. Ich möchte auf keinen Fall, dass sie denkt, ich wäre eine Art Reece 2.0, der ihr nur an die Wäsche will.
„Bis dann, Albie", flüstert Georgia dicht an meinem Ohr und drückt mich noch einmal an sich, ehe sie ihrer Wege geht. Kurz bevor ich sie aus den Augen verliere, dreht sie sich ein letztes Mal um und winkt mir zu.
Ich winke zurück, während ich mich bereits jetzt darauf freue, sie morgen in der Schule wiederzusehen. Sie verleiht diesem trostlosen Ort, den ich wirklich aus tiefstem Herzen hasse, einen warmen Glanz, der all das Grau drumherum überstrahlt. Daran können weder Reece, noch Mr. Mount oder sonst irgendjemand etwas ändern. Erfüllt mit Glücksgefühlen mache ich mich ebenfalls auf den Heimweg und selbst die kurze Fahrt im Bus, der nach nassem Hund riecht und überfüllt ist, kann meiner inneren Euphorie nichts anhaben.
Erst als ich in den Prior's Walk einbiege und die Rauchschwaden am Ende der Straße sehe, holt mich die Realität ein. Abrupt bleibe ich stehen, kneife die Augen zusammen und stelle mit Entsetzen fest, dass es tatsächlich unser Haus ist, aus dessen Küchenfenster dicke, schwarze Wolken dringen. Immerhin kann ich in der einsetzenden Dämmerung keine Flammen sehen, doch das ändert nichts daran, dass blanke Panik von mir Besitz ergreift.
„Dad!", brülle ich unvermittelt los, erwache aus meiner Schockstarre und stürze Hals über Kopf die Straße entlang. Bitte, lass ihm nichts passiert sein.
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