14 | Can't find my way home
Den Tag nach meinem Abenteuer im Piercing-Studio möchte ich eigentlich nutzen, um mich auszuruhen und zwischendurch ein paar Kamillenbäder zu nehmen. Doch ausgerechnet meine Mum macht mir einen Strich durch die Rechnung. Sie lädt mich nämlich zum Abendessen ein und ihre Nachricht ist so formuliert, dass ich praktisch keine andere Wahl habe, als ihre Einladung anzunehmen. Dabei ist die Visage von Bruce momentan echt die Letzte, die ich sehen will.
Breitbeinig und ohne besonderen Appetit mache ich mich gegen Abend trotzdem auf den Weg zu Mum und ihrer Geldquelle namens Bruce. Die beiden bewohnen eine protzige Villa in einem langweiligen Vorzeigeviertel von York, das ausschließlich von ähnlich reichen Menschen wie Dr. Frankenstein bewohnt wird. Sein silberner Rolls-Royce parkt selbstverständlich vor dem geschlossenen Garagentor, damit ihn bloß keiner übersehen kann. Kopfschüttelnd gehe ich daran vorbei und widerstehe dem Drang, auf die glänzende Motorhaube zu spucken.
Nur wenige Sekunden, nachdem ich geklingelt habe, wird mir die Tür geöffnet – von meiner Mum, die so aufgetakelt ist, dass man glatt meinen könnte, sie wäre zu einem Dinner mit der königlichen Familie verabredet. Eine Parfumwolke weht mir entgegen, die mir die Luft zum Atmen raubt und ihre hohen Absätze könnte man ebenso gut als Mordwerkzeug benutzen. Schon jetzt bereue ich es, dass ich ihrer Einladung gefolgt bin.
„Albie, mein Schatz!", begrüßt sie mich überschwänglich und umarmt mich, wobei ich den Atem anhalte, damit ich nicht an ihrem Parfum ersticke. „Schön, dass du da bist! Komm rein, die Vorspeise ist schon fertig!"
„Cool", sage ich und ringe mir ihr zuliebe ein Lächeln ab. Mit klappernden Absätzen stöckelt sie ins Esszimmer, während ich langsam hinter ihr her schlendere. Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier zu Besuch bin, doch ich fühle mich in diesem Haus immer noch unwohl.
Ich weiß nicht, ob es an der piekfeinen, unpersönlichen Einrichtung liegt oder daran, dass Bruces unangenehme Präsenz allgegenwärtig ist. Dr. Frankenstein sitzt bereits am gedeckten Tisch, doch als ich den Raum betrete, lässt er den Gentleman raushängen und steht auf, um mir die Hand zu schütteln. Obwohl er stramm auf die Sechzig zugeht, ist in seinem Gesicht keine einzige Falte zu entdecken. Dafür entblößt er beim Grinsen eine Reihe unnatürlich weißer Zähne, um die ihn wahrscheinlich jeder Vampir beneiden würde.
„Ah, unser Gast ist da", sagt Bruce mit seiner heiseren Stimme und mustert mich eingehend, ohne sein Grinsen fallen zu lassen. Mir entgeht allerdings nicht, dass seine Augen dabei völlig ausdruckslos bleiben. „Na, wie geht's dir, mein Junge?"
Die Art, wie er „mein Junge" sagt, gefällt mir überhaupt nicht. Es klingt fast so, als wäre er mein Großvater. „Gut", lüge ich mit einem verkrampften Lächeln. „Danke für die Einladung."
„Keine Ursache", säuselt Dr. Frankenstein und deutet auf den Tisch, der garantiert von meiner Mutter gedeckt wurde. „Setz dich doch. Susan holt schon mal die Vorspeise, nicht wahr, Honey?"
„Natürlich", sagt Mum und verschwindet strahlend in der Küche, während ich vor lauter Fremdscham eine Gänsehaut bekomme. Was mache ich hier eigentlich?
Damit mein Gesichtsausdruck meine wahren Gedanken nicht verrät, beuge ich mich hastig runter, um Tom und Jerry zu streicheln, die beiden jungen, verspielten Siamkater, die dieses ungemütliche Haus wenigstens mit ein bisschen Glanz erfüllen. Natürlich wird mein Kater Steven immer meine Nummer Eins bleiben, aber die beiden sind mir mittlerweile auch sehr ans Herz gewachsen, obwohl ich sie bisher nur wenige Male gesehen habe.
Leider kann ich mich nicht allzu lange mit ihnen beschäftigen, denn wenige Minuten später tischt Mum die Vorspeise auf – eine Tomatensuppe nach italienischer Art, wie sie stolz verlauten lässt. Als Hauptspeise folgt eine Lasagne und der Nachtisch besteht – wer hätte es gedacht? – aus Tiramisu. Wider Erwarten schmeckt das Essen wirklich lecker und das Beste daran ist, dass ich nicht reden muss, solange ich mit vollen Backen kaue.
Dafür quasseln Mum und Bruce umso mehr – von Bruces erwachsenen Kindern, die ja alle ach so erfolgreich sind, von seinen tausend Brust- und Nasenoperationen, die er allwöchentlich durchführt und natürlich von ihrer bevorstehenden Hochzeit. Wenn ich meine Mutter richtig verstehe, plant sie eine Zeremonie, gegen die die öffentliche Eheschließung von Prinz William und Kate ein absoluter Witz wäre. Das prall gefüllte Bankkonto ihres Gatten in spe scheint ihr längst den Bezug zur Realität geraubt zu haben.
Zwischendurch hält sie inne und bemerkt mein halb aufgegessenes Tiramisu. „Was ist los, Albie?", fragt sie stirnrunzelnd, fast schon etwas beleidigt. „Schmeckt's dir nicht?"
„Doch, doch", erwidere ich förmlich, weil sie genau das hören möchte und esse brav meinen Teller leer, obwohl mir der Appetit schon lange vergangen ist. Danach entschuldige ich mich und verschwinde auf die Toilette.
Mein frisch gestochenes Piercing tut ein bisschen weh, aber wenigstens scheint es nicht entzündet zu sein. Seufzend hocke ich mich auf den Rand der Badewanne, die von der Größe her beinahe ein kleines Schwimmbecken sein könnte. Kälte würde den pochenden Schmerz sicher etwas lindern, aber was soll ich schon machen? Ich kann Mum und Bruce schlecht nach einer Handvoll Eiswürfeln fragen, um damit meinen schmerzenden Rüssel zu kühlen.
Nach einer Weile stehe ich wieder auf, um mir die Hände zu waschen. Dabei betrachte ich mich selbst im Badezimmerspiegel. Auf meiner Stirn prangen vier unsichtbare Buchstaben, die zusammengesetzt das Wort „Lost" ergeben. Tatsächlich fühle ich mich komplett fehl am Platz – in diesem Raum, in diesem Haus, bei diesen Menschen. Am liebsten würde ich auf der Stelle verschwinden, um stattdessen meinem Vater Gesellschaft zu leisten, der einsam und alleine zuhause sitzt.
Wie von Geisterhand geht die Tür auf und einer der beiden Kater – ich glaube, es ist Jerry – schiebt sich durch den schmalen Spalt. Schnurrend streicht er mir um die Beine. Zärtlich kraule ich das Tier hinter den Ohren und überlege währenddessen, wie ich schnellstmöglich von hier verschwinden kann, ohne meine Mutter vor den Kopf zu stoßen. Ich könnte ihr weismachen, dass ich für eine wichtige Matheklausur lernen muss. So schlecht wie ich in diesem Fach bin, würde sie mir das bestimmt abkaufen.
„Auf geht's", sage ich zu Jerry und nehme ihn auf den Arm, weil er das im Gegensatz zu den meisten anderen Katzen, die ich kenne, sehr gerne mag. „Bringen wir's hinter uns."
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