1 | Here comes the sun

„Meine Lieben, Ruhe bitte", sagt Mr. Mount mit seiner sonoren Stimme, die immer etwas arrogant klingt. Er streicht sich sein schütteres, graues Haar aus der Stirn und grinst ölig. „Ich würde euch gerne jemanden vorstellen."

Das allgemeine Gemurmel erstirbt langsam und weicht einer erwartungsvollen Ruhe. Siebenundzwanzig Augenpaare heften sich auf das unbekannte Mädchen an Mr. Mounts Seite, das leicht errötet und zaghaft in die Runde lächelt. Rotbraune Korkenzieherlocken kringeln sich um ihr schmales Gesicht und obwohl ich ganz hinten sitze, kann ich ihre zahlreichen Sommersprossen erkennen. Je länger ich sie anschaue, desto mehr spüre ich, wie mein Herz pocht.

„Ihr bekommt eine neue Mitschülerin", fährt Mr. Mount überflüssigerweise fort und sein schmieriges Grinsen wird noch eine Spur breiter. „Das hier ist Giulia Woods. Ich erwarte, dass ihr sie mit offenen Armen empfangt."

Vereinzelte Kommentare werden laut. „Machen wir doch gerne", höre ich eine männliche Stimme raunen, woraufhin einige der anderen Jungen anfangen zu lachen. Typisch, denke ich kopfschüttelnd und verdrehe die Augen. Die Neue ist gerade mal fünf Minuten hier und diese Idioten sind schon dabei, sich irgendwelche perversen Fantasien mit ihr auszumalen.

„Meine Herren, ich bitte um Ruhe!", ätzt Mr. Mount über das aufgeregte Getuschel hinweg und ignoriert die Tatsache, dass etwa die Hälfte unseres Kurses aus weiblichen Teilnehmerinnen besteht. Betont freundlich wendet er sich anschließend an die rothaarige Neue. „Möchtest du vielleicht selbst ein paar Worte sagen?"

„Gerne", erwidert sie prompt, macht einen Schritt nach vorne und räuspert sich verlegen. „Also, ich freue mich, hier zu sein und bin mir sicher, dass wir uns alle gut miteinander verstehen werden. Außerdem möchte ich noch eine Sache richtigstellen – ich heiße Georgia, nicht Giulia. Da haben Sie vorhin wohl etwas verwechselt, Mr. Mount."

Das Gesicht unseres Mathelehrers läuft puterrot an und er presst die Lippen fest aufeinander. Offensichtlich stinkt es ihm gewaltig, dass Georgia ihn vor versammelter Mannschaft auf seinen Fehler hingewiesen hat. „Schön, dann setz dich jetzt bitte", sagt er gedehnt, während einige Schüler verhalten kichern.

Unschlüssig schaut Georgia sich um und für den Bruchteil einer Sekunde hoffe ich, dass sie sich neben mich setzen wird. Schließlich ist neben mir ein Platz frei – wie eigentlich immer. Mein winziger Hoffnungsschimmer löst sich jedoch schnell wieder in Nichts auf, denn ehe Georgia überhaupt die Chance hat, den leeren Stuhl neben mir zu bemerken, sichert sich jemand anderes ihre Aufmerksamkeit.

„Du kannst dich hierhin setzen", meldet sich Reece mit seiner tiefen Stimme zu Wort und deutet grinsend auf den Platz zu seiner Linken. Finster starre ich ihn an, doch natürlich bemerkt er es nicht.

Mich wundert es kein bisschen, dass ausgerechnet er der Erste ist, der versucht, sich an die Neue ranzumachen. Reece Staines ist an unserer Schule dafür bekannt, dass er jede Woche ein anderes Mädchen aufreißt, nur um sie nach wenigen Tagen auf äußerst unsensible Art und Weise wieder abzuschießen. Dementsprechend genießt er keinen besonders guten Ruf, doch aus irgendeinem Grund fahren die Mädels trotzdem total auf ihn ab. Ich weiß beim besten Willen nicht, woran das liegt – vielleicht an seinem nervigen Machogehabe oder an seinen kalten blauen Augen, die mich persönlich an zwei Eiszapfen erinnern.

Georgia kichert geziert, schwebt zwischen den Tischen hindurch und setzt sich tatsächlich freiwillig neben den Oberaufreißer, nicht ohne ihn vorher wimpernklimpernd anzulächeln. Reece reagiert darauf mit einem selbstgefälligen Grinsen, während seine drei dressierten Bulldoggen namens Kim, Ezra und Parker ihm anerkennend zunicken, als hätte er gerade irgendeine Heldentat vollbracht. Ich schäme mich jedes Mal ein bisschen fremd, wenn ich mitbekomme, wie sehr sie ihm dauernd in den Hintern kriechen.

„Nachdem wir das geklärt haben, würde ich mich jetzt gerne der Berechnung von Ortskurven widmen", verkündet Mr. Mount und reibt sich genüsslich die Hände. „Ich schlage vor, jemand kommt nach vorne und löst zum Einstieg eine Übungsaufgabe. Gibt's Freiwillige?"

Zum Glück melden sich ein paar Streber, weshalb er gnädigerweise darauf verzichtet, sich irgendein unschuldiges Opfer raus zu picken. Meistens trifft es nämlich mich und ich habe wirklich keine Lust, mich vor Georgia mit meinen nicht vorhandenen mathematischen Kenntnissen zu blamieren. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob sich mich bisher überhaupt wahrgenommen hat. Vermutlich eher nicht, denn ich sitze nicht nur in der letzten Reihe, sondern bin darüber hinaus auch noch so auffällig wie eine Zimmerpflanze.

Seit ich denken kann, bekleide ich in der Schule die Rolle des stillen, unsichtbaren Beobachters. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt und manchmal ist es sogar von Vorteil. Wenn ich gelegentlich die Schule schwänze, fällt es niemandem auf, weil keiner meine Anwesenheit vermisst – teilweise nicht einmal die Lehrer. Entscheidende Nachteile sind hingegen, dass ich im Sportunterricht immer als Letzter gewählt werde und ich für die Mädchen praktisch Luft bin.

Sie beachten mich einfach nicht und ich glaube kaum, dass es bei Georgia anders sein wird. Wahrscheinlich werde ich nie ein Wort mit ihr wechseln, sondern maximal in den Genuss kommen, sie aus der Ferne verstohlen zu beobachten. So wie jetzt. Ausnahmsweise spiele ich keine Handyspiele unter der Bank, sondern verfolge aufmerksam jede ihrer Bewegungen mit meinen Blicken.

Über tausend Schüler besuchen täglich unsere Schule und etwas mehr als die Hälfte davon sind Mädchen, doch keine einzige von ihnen ist auch nur annähernd so hübsch wie die Neue. Ihre Haarfarbe, ihre Sommersprossen, ihr Lächeln – all das ist in meinen Augen irgendwie besonders. Ganz zu schweigen von ihrer Ausstrahlung. Sie ist noch nicht lange hier, aber in dieser kurzen Zeit hat sie es fertiggebracht, den bedrückenden Raum A-312 etwas aufzuhellen. Eine schier unmögliche Leistung, die ihr so schnell keiner nachmachen wird.

Ich freue mich immer über Votes & Kommentare ;)


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