XX - Improve

So sehr hätte Erik nicht darüber überrascht sein dürfen, wie gut Leona fuhr. Er selbst hatte ähnliches vollbracht, nur mit dem Unterschied, dass er wenigstens ein paar Fahrstunden gehabt hatte, bevor er es gewagt hatte, sich den Schlüssel seines Vaters zu borgen. Diesen hatte der sicher verwahrt. Man hatte Settler Senior wirklich nicht vorwerfen können, dass er es seinem Sohn leicht gemacht hatte, den pferdestarken Wagen zu entwenden.

Und nun saß er hier in einem Wagen, der – wie Leona ihm erzählt hatte – gestohlen war. Nur diesmal wirklich gestohlen, von dem Freund ihrer besten Freundin. Leona hatte ihm ihr Alter nicht verraten wollen, doch Erik war sich sicher, dass sie niemals älter als sechzehn sein würde. Er spürte, dass sie ihn schützen wollte. Sie ging davon aus, dass etwas passierte. Dass sie angehalten, dass sie kontrolliert werden würden. Sie hatte es nicht direkt gesagt, aber Erik war sich absolut sicher. Den leisen Pessimismus hatte er aus ihrer Stimme herausgehört.

Leona stand gerade an einer roten Ampel, den Blinker nach links gesetzt. Von dort würde es auf die Schnellstraße gehen. Dunkles Blau lag schon über der Welt, über Eriks und Leonas kleiner Welt, die im Großen und Ganzen Völzau umfasste, weil hier so vieles passiert war. Erik betrachtete ihr ebenmäßiges Gesicht, wie konzentriert ihre Augen auf dem roten Licht lag, das bald in ein gelbes und dann ein grünes wechseln würde.

Vieles hätte er sagen wollen, aber er blieb still, damit er sie nicht ablenkte. Er wollte nicht, dass etwas passierte. Er wollte, dass alles gut ging. Er wollte, dass sie sicher in Lindstetten ankamen, dass Leona das Paket bei der Packstation abgab und dass sie die ganze Scheiße endlich los waren.

Eine Nachricht ploppte auf ihrem Bildschirm auf, genau in dem Moment, in dem die Ampel von gelb auf grün wechselte. Eine Nachricht von jemandem, den Leona als Arschloch eingespeichert hatte. Erik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, aber es war dunkel und Leona hatte es sowieso nicht gesehen. Als er die Nachricht las, war das spontane Lächeln auch schon wieder verschwunden. Arschloch hatte geschrieben:

Achte auf die Uhr.

Auch Leona musste die Nachricht gelesen haben, denn sie trat mit voller Kraft aufs Gas, sodass der grüne Geländewagen nach vorne schnellte. Ebenso schnell beschleunigte sich Eriks Puls. Unwillkürlich grub er seine Finger in den Stoff der hochwertig erscheinenden Ledersitze.

„Ey, mach vorsichtig!", rief er heiser. Doch da war es schon passiert. Der Koloss von einem Auto hatte den vorausfahrenden Familienvan kräftig angeschoben. Erschrocken ging Leona auf die Bremse, doch das machte es nicht besser. Im Gegenteil: Das ganze Ausmaß des Schadens offenbarte sich, denn Leona hatte dem Wagen die hintere Stoßstange verknautscht. Der Kofferraum beulte sich nach innen und das Nummernschild hing leicht schief.

„O nein, oh, shit, shit", fluchte sie. Der Van fuhr rechts ran, doch anstatt dass Leona dasselbe tat, stieg sie wieder aufs Gas. Hinter ihr wurde gehupt, doch sie visierte die Auffahrt zur Schnellstraße an.

„Was machst du?", schrie Erik auf. Er sah die tanzenden Rücklichter der Autos vor ihnen, als sie immer weiter auf den Einfädelungsstreifen fuhren.

„Jetzt gibt's kein Zurück mehr", flüsterte Leona, als würde sie ihm ein Geheimnis erzählen, obwohl hier nur sie beide waren.

„Das kannst du nicht machen, das ist Fahrerflucht!", redete Erik auf sie ein. Leona bedachte ihn mit einem kurzen Blick und trat weiter aufs Gas. Sie blinkte links und fädelte sich in den Verkehr ein. Das Blitzen vonScheinwerfern hinter ihnen erhellte das Innere des Wagens für einen Moment. Erik drehte sich um und erkannte den Familienvan, den Leona gerammt hatte. Er fuhr dicht hinter ihnen und setzte dazu an, sie zu überholen. Vor Leona zuckelte ein Wohnwagen auf der rechten Spur, von links näherte sich nun bedrohlich der lädierte Van.

Erik rutschte das Herz in die Hose. Das Herz, das vorhin so wild geschlagen hatte, schien sich jetzt immer weiter überbieten zu wollen. Der Van holte auf und Erik erkannte eine wild gestikulierende Frau. Sie zeigte ihnen den Vogel und brüllte etwas, das niemand hören konnte, wahrscheinlich einfach nur, um ihrem Ärger Luft zu machen. Erik meinte nur, ein Wort von ihren Lippen ablesen zu können. Polizei. Erik drückte sich in den Sitz, er wollte am liebsten mit dem Polster verschmelzen.

„Wir sind geliefert. Wir sind so geliefert! Scheiße", hauchte er. In Leonas Augen sammelten sich Tränen, die durch die Reflexion der Rücklichter des Wohnwagens vor ihnen rot glänzten.

„Du kennst mich nicht ..."

„Was?"

Erik verstand nicht. Was wollte sie damit sagen? Gab es noch mehr Geheimnisse? War sie jemand ganz anderes? Er wollte es nicht glauben. Gerade jetzt nicht, wo er sich ihr gegenüber so geöffnet hatte.

„Du kennst mich nicht ... ich hab dich angefahren ... und will dich ins Krankenhaus bringen ...", sagte Leona. Die Tränen liefen ihr unkontrolliert die Wangen herunter und Erik fragte sich, wie sie noch etwas sehen konnte. Doch er verstand jetzt, was sie sagen wollte.

„Nein, das ... ich soll dich leugnen?", fragte er fassungslos.

„Tu was ich dir sage", forderte sie mit harter Stimme, die in Tränen zu ertrinken drohte. „Was hab ich gesagt?"

„Ich kenne dich nicht, du ... hast mich angefahren und ..." Eriks Magen krampfte sich zusammen. Diese Lügen fühlten sich an wie Brennnesseln auf seiner Zunge. Das konnte er nicht tun! Er konnte es nicht.

„... und ich bringe dich ins Krankenhaus ...", beendete Leona den Satz, der in einem Schluchzen überging.

„Ich kenne dich nicht ... du hast ... mich angefahren und bringst mich ins Krankenhaus ...", murmelte Erik. Das Schlucken fiel ihm schwer, als würde ihm jemand den Hals zudrücken.

„Genau, richtig ... Sag das und nichts anderes. Du weißt von nichts. Nicht, dass ich keinen Führerschein hab, nicht, dass ich bloß sechzehn bin und auch nicht, dass im Kofferraum ein Päckchen liegt ... Du weißt nichts davon, dass ich dem Arschloch was in die Limonade gemischt hab, du weißt nichts, nichts, gar nichts ..."

Sechzehn ... Sie hatte es ihm nicht gesagt, nur jetzt. Sie war sechzehn, gar nicht mehr so weit entfernt von einem Führerschein. Eigentlich nicht. Nach dieser Aktion würde es ihr nicht besser gehen als es Erik ergangen war. Fahren ohne Fahrerlaubnis, Fahrerflucht. Nicht gut. Und alles andere auch nicht. Doch jetzt verstand Erik, was die Lederjacke gemeint hatte. Sie hatte ihn betäubt, hatte ihn die Kontrolle über sich verlieren lassen. Wer war Leona? Nein, Erik wusste nichts über sie. Er wusste nichts.

„Ich weiß nichts ...", wiederholte Erik mit erstickter Stimme. Er verspürte eine Enttäuschung, als hätte sich eine Falltür unter ihm geöffnet, aus der gewaltige Hände ihn in die Dunkelheit zogen. Was hatte Leona alles getan, was er nicht wusste? Was hatte sie alles getan, was er nicht wissen wollte? Doch sobald er sie ansah, verstand er, dass da mehr war. Dass er ihre ganze Geschichte hören musste. Dass es so viel zu sagen gab. Keine Rechtfertigungen, keine Erklärungen, nur die Fakten. Und vielleicht würde er verstehen.

„Nichts."

Die hochgeklappten Sonnenblenden wurden getaucht in blaues Licht. Ein heller azurblauer Farbton, den Erik in einer anderen Situation als ganz hübsch empfunden hätte. Leona trat noch mehr aufs Gas. Sie hatte so vieles falsch gemacht, doch Erik konnte sich auch nicht mit Ruhm bekleckern. Sie war ein Rätsel, das immer neue Fragen aufwarf – je mehr beantwortet wurden, desto mehr kamen nach, wie die Verzweigungen der Äste eines Baumes.

„Und merk dir das für meinen Papa: Ich liebe ihn und ich wollte ihn nie unglücklich machen."

Ein Schock durchfuhr Erik. Was hieß das?

„Das ... das musste du ihm selber sagen ... du ... was meinst du damit?"

„Wenn er noch was von mir hören will ..."

„Er ist dein Papa ..."

Leona schluckte hörbar und sagte nichts mehr. Das traurigste Lächeln der Welt verzog ihre Lippen.

„Ich werd's ihm sagen ..." Erik konnte nicht mehr. Er konnte nicht mehr, als ihr diese Zusicherung zu geben. So, wie sie ihm vor – wie lange war das nochmal her? – versichert hatte, dass sie für Erik aussagen würde, falls die Lederjacke ihn anzeigen würde. Sie hatte es ihm versichert. Aber dann konnte Erik doch jetzt auch nicht so tun, als würde er sie nicht kennen. Sie hatte ihm die Worte in den Mund gelegt, doch er wusste, dass er es nicht über sich bringen konnte. Er wollte es nicht. Auch, wenn sich einmal mehr herausstellte, dass diese Leona Kellermann ihm vollkommen fremd war. Er konnte es nicht. Doch er wusste genau, dass Leona alles auf sich nehmen würde.

„Danke", sagte sie und schaute ihn eine Sekunde lang an. Ein tiefer Blick, der ihn dafür tadelte, dass er gegen ihre Anweisungen handeln würde, aber auch ein Blick, der ihm unendlich viel Liebe schickte. Jetzt, hier, in diesem absurden Moment in diesem gestohlenen Wagen mit einem Paket voll Schnee im Kofferraum.

Die Sirenen hinter ihnen schwollen an. Erik wusste, was passieren würde. Leona musste anhalten und das Ganze beenden. Ihre Augen waren stur auf die Straße geheftet, doch sie hatte keine andere Möglichkeit. Der Verkehr war viel dichter als damals, als Erik seine eigene Spritztour unternommen hatte. Sie hatte keine andere Möglichkeit.

„Du musst anhalten, weißt du ...", sagte Erik sachte. Leona nickte. Sie fuhren noch ein paar Kilometer und die Lichter von Lindstetten zogen an ihnen vorbei. Leona nahm die Ausfahrt nicht. Es hätte so einfach sein können. So kurz vor dem Ziel waren sie gescheitert. Doch es würde irgendwie weitergehen. Irgendwie ging es immer weiter, das wusste Erik besser als jeder andere.

Leona blinkte rechts und fuhr auf den Pannenstreifen, wo sie immer langsamer wurde, bis das Fahrzeug schließlich zum Stillstand kam. Die blauen Lichter waren nun überall. Sie waren überall, als die Beamten sich mit Vorsicht dem Geländewagen näherten, sie waren überall, als Erik und Leona aus dem grünen Wagen ausstiegen, als sie in die silber-blauen Fahrzeuge gesetzt wurden – und sie waren überall, als eine Beamte mittleren Alters ein kleines, in braunes Packpapier eingeschlagenes Päckchen aus dem Kofferraum holte.

Die Fensterscheibe des Polizeiwagens beschlug von Eriks Atem, doch er konnte von hier drinnen aus das Gesicht der Frau gut sehen. Es wurde alle paar Sekunden erhellt von einem Guss blauen Lichts. Wie gebannt schaute Erik sie an und konnte sich selbst jetzt ein ganz kleines, heimliches Lächeln nicht verkneifen. In diesem Moment dachte er nicht an das grauenvoll teure Foto des Ritters, das er verschandelt hatte. Er dachte nicht an seinen tobenden Vater, nicht an das sorgenschwere Gesicht seiner Mutter, wenn sie ihn abholen kommen würde. 

Erik war gerade nur hier und jetzt, an diesem Abend in diesem blau pulsierenden Polizeiwagen. Und er hatte nur das Gesicht der Polizistin. Ein Moment des Staunens ließ ihre viele Jahre geübte ernsthafte Miene entgleisen. Es war ein kleiner Aufkleber am Boden des Päckchens.

Improve.

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