XVII - Einzelfahrstunde

Leona sah den protzigen, in auffälligem metallicgrün lackierten Geländewagen von Kathis Lover im Licht der Abendsonne glänzen. Ben war nicht der Vater von Thilo und er würde auch nie der Stiefvater werden, weil er ein kompletter Idiot war. Leona hatte ihn mit Kathi einmal bei einem Spaziergang im Park begegnet. Kathi hatte den Kinderwagen vor sich hergeschoben und der Kerl – Ben – war nebenher gelaufen ohne sich auch nur einen Scheiß für Kathis Sohn zu interessieren. Viel mehr hatten seine Hände ständig den Weg zu Kathis Hüften gesucht – o Mann, echt. Leona hätte den Kopf schütteln wollen, denn während ihre beste Freundin ihrem Kleinen sein Mützchen aufziehen wollte, stand Ben daneben und grabbelte an ihr herum.

Leona hatten sich kurz mit den beiden unterhalten und das hatte ihr auch gereicht, um Ben einschätzen zu können. Ben, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit darüber sprach, wie schnell sein Auto beschleunigen konnte und – ach – wie seine Ex ihm immer geholfen hatte, die Ledersitze zu putzen ... Und ja: Kathi könnte das auch ruhig mal machen, zum Beispiel wenn „die Heulsuse" bei ihrer Mutter war ... Es war für Leona schwer gewesen, da ruhig zu bleiben. Vor allem, weil sie merkte, dass Ben Thilo immer als Last empfand.

Dennoch war sie Kathi zuliebe mit den drei nach Hause zur Wohnung ihrer besten Freundin gelaufen, da die nicht sehr weit vom Stadtkern entfern lag und hatte sich mit der großen pinkhaarigen Frau über Themen unterhalten, die Ben nicht interessierten. Beim Haarefärben und Schuhen wollte er nicht mitreden und war sogar bereit gewesen, freiwillig den Kinderwagen zu schieben, solange er nicht in die Unterhaltung über Lifestyle einsteigen musste.

Kurzum: Leona konnte den neuen Freund von Kathi überhaupt nicht leiden. Jetzt aber war sie froh, dass er da war, denn wo Ben war, da war auch seine froschgrüne Angeberkarre. Vorhin war eine Nachricht von Basti, den sie endlich in Arschloch umbenannt hatte, in Leonas digitalen Briefkasten geflattert: Heute noch. Heute noch, und es war nicht mehr viel Zeit. Heute dauerte noch gute sechs Stunden. Dazu hatte er ihr einen Standort in Lindstetten geschickt. Ohne zu zögern klingelte Leona und wurde auch direkt reingelassen. Es lief. Kathi stand oben in der Tür und erwartete sie mit einem warmen Lächeln.

„Leo, schön, dich zu sehen!", begrüßte sie sie etwas eilig, aber herzlich. Heute war sie wirklich gut drauf. Kathi nahm ihre Freundin in den Arm und bat sie herein. So weit so gut. Es roch nach Bolognese aus dem Glas. Das bedeutete, dass Ben am ‚kochen' war. Leona mochte ihn nicht, doch es tat ihr jetzt schon weh, was sie gleich tun würde. Kathi hatte das nicht verdient. Ben schon, Kathi nicht. Aber Leonas Papa hatte es auch nicht verdient, im Gefängnis zu landen, weil ihm irgendein Zeug untergejubelt worden war.

„Ich störe dich nicht lange, versprochen", versicherte Leona. Wenn Kathi wüsste, wie wahr das war.

„Nicht schlimm. Thilo ist bei meiner Mama. Ben ist hier – Ben wir haben Besuch!"

Aus der Küche kam er mit einer Dose Limonade. Leona presste die Lippen aufeinander und rang sich ein freundlich-distanziertes Lächeln ab. Es war Zitronenlimonade, die Ben in sich rein kippte. Zitronenlimonade. Verdammt, musste sich denn wirklich alles wiederholen?

„Hallo, Besuch!", grüßte Ben mehr oder weniger interessiert und prostete ihr mit seiner Dose zu.

„Komm doch rein", sagte Kathi und schob Leona regelrecht in die Küche. Ben rührte unbeteiligt in der Soße herum. Ein wahrer Sternekoch, dachte Leona sarkastisch. Ein kurzer Seitenblick bestätigte ihr, dass es wirklich Bolognese aus dem Glas war, letzteres stand sogar noch ausgespült neben dem Waschbecken. Ihr Vater kochte das Essen so gut wie immer selbst, außer wenn er wirklich keine Zeit hatte. Die junge Frau konnte zwar verstehen, dass man auch ab und zu mal zum Glas greifen musste, hätte aber erwartet, dass Ben auch mal den Kochlöffel schwingen würde, jetzt, wo „die Heulsuse" aus dem Haus war.

„Wie geht's so ...?", fragte Leona und räusperte sich. So heiser wie ihre Stimme war, klang sie sowas von verdächtig. Ihre ganzen Skills, die sie in der Zeit mit Sebastian gefeilt hatte, schienen wie weggeblasen zu sein. Sie konnte Fremden schamlos ins Gesicht lügen und behaupten, wie sehr sie und Sebastian sich liebten, dass ihr fast das Kotzen kam. Aber Kathi? Kathi anlügen? Es war fürchterlich.

„Gut, danke. Thilo schläft in letzter Zeit so unruhig, ich weiß auch nicht ... Bei meiner Mutter klappt es super, aber hier? Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Und wenn Ben bei mir übernachtet, kann ich das Schlafen gleich ganz vergessen, da dreht der kleine Mann am Rad ...", berichtete Kathi. Böse, böse Worte brannten auf Leonas Zungenspitze. Es wunderte sie nicht, wahrscheinlich spürte sogar der kleine Kerl, dass Ben kein Guter war. Aber sie unterließ jeden Kommentar. Jetzt durfte sie keine Zeit verlieren, also auch keinen Streit vom Zaun brechen. Eine unsichtbare Uhr tickte, ein unbestimmter Countdown lief ab.

„Ich geh schnell aufs Klo", murmelte Leona zusammenhanglos. Verdammt, noch verdächtiger ging es doch gar nicht?

„Du weißt ja, wo es ist", sagte Kathi lächeln und packte die Spaghetti aus. Leona schlüpfte aus der Küche und ließ im Laufen den Schlüssel für Bens Geländewagen in ihre Tasche rutschen. Er befand sich gut sichtbar auf der schmalen Kommode neben der Garderobe – sie hatte ihn schon beim Eintreten gesehen. Auf der Toilette stellte sie den Wecker ihres Handys auf fünf Minuten ein und wählte als Signalton das rasselnde Läuten, das sie auch als Klingelton hatte. Einen Moment lang holte sie tief Luft und fragte sie, was sie eigentlich tat. Doch es gab keine Zeit für schlechtes Gewissen. Leona betätigte die Spülung und kam wieder in die Küche. Kaum hatte sie sich auf einem der Vintage-Holzstühle niedergelassen, meldete sich ihr Handy. Sie drehte sich so geschickt, dass niemand den Bildschirm sehen konnte und wischte geschäftig auf dem Display herum. Jetzt brachen doch wieder die Schauspielskills hervor, denn Leona zog die kleine Nase kraus und die Augenbrauen nachdenklich zusammen.

„Mein Papa hat angerufen ... und mir geschrieben. Oh, das hab ich gar nicht gesehen. Es ist wohl dringend ... Oh ... Oh, nein ... Tut mir leid, ich muss nach Hause!", murmelte sie und strich sich durch die Haare. Was war sie nur für ein Mensch? Kathis arglose Augen schauten sie traurig an. Da kam Leona vorbei und musste nach ein paar Minuten und nach einem Klogang schon wieder weg. Wie schade doch ...

„Wie schade. Vielleicht holen wir ein Treffen noch nach? Soll Ben dich nach Hause fahren?", bot die große, liebe Frau auch noch an. Au, nein, o weh! Auch das noch. Nein, bloß nicht!
„Nein, nein. Mein ... Papa holt mich ab ..."

„Wenn das so ist ... Dann komm gut nach Hause", entgegnete Kathi und nahm Leona in den Arm. Eine schlimmere Umarmung hatte Leona noch nie erlebt. Es war, als hatte das Haus sie ausgespuckt, als sie endlich auf der Straße stand. Sie fühlte sich so dreckig, so elend, so räudig. Der einzige Trost: dass es nicht Kathis Auto war, das jetzt gleich gekidnappt werden würde. Shit, shit, ein verdammt schlechter Trost ... Leona warf einen Blick nach oben zu den Fenstern des Mehrfamilienhauses. 

Die Wohnung von Kathi ging zur anderen Seite, also würde die nichts sehen können von dem, was hier gleich passieren würde. Eilig entriegelte Leona den Wagen, der sie mit einem fröhlichen Zucken der Scheinwerfer begrüßte und stieg ein wie selbstverständlich. Der ach so tolle Ledersitz war ziemlich weit nach hinten geschoben worden, da Ben ein Mann von beachtlicher Größe war. Vielleicht würde Leona zu klein sein und gar nicht bis zu den Pedalen reichen ... Aber es klappte, sofern sie nur den Sitz ganz nach vorne schob. So erreichte sie die Pedale ganz gut ... Die Pedale ... es waren nur zwei.

„Yes!", mit einem freudigen Ausruf schlug Leona einmal aufs Lenkrad, wobei sie fast die Hupe betätigte. Zwei Pedale, das hieß Automatik und jemand hatte gesagt ... hatte gesagt, dass Automatik ganz easy zu fahren sei ... so easy wie ein Boxauto zu steuern. Jemand namens Erik Settler Junior. Leona kniff die Augen fest zusammen, als würde sie dadurch die Realität, das, was war, vor ihrem Inneren verschließen können. Als würde sie so verhindern können, dass das von draußen in ihre Gefühlswelt eindringen und diese verseuchen könnte. Doch das war bereits geschehen.

„Hör auf, konzentrier dich", tadelte sie sich selbst und versuchte, sich an Eriks Worte zu erinnern. Ganz einfach: Erst den Zündschlüssel rein, das wusste jedes Kind. Motor an ... Das leise Tuckern versetzte sie noch mehr in Aufregung. Aber es war irgendwie ein verboten schönes Gefühl; so böse und süß, so schlecht und verführerisch.

„Bremse, Drive, Loslassen, Gas geben ...", versuchte sie sich die Reihenfolge in Erinnerung zu rufen. Und es klappte! Es klappte, denn sie rollte los. Sie lenkte, sie fuhr! Sie fuhr! Zur Probe bremste sie und fuhr wieder an. Es klappte! Vielleicht war sie ein Naturtalent ...? Eine glitzernde Welle reiner Euphorie flutete Leonas kleinen Körper, denn irgendwie funktionierte es! Es funktionierte ... Noch ...

Die Straße hier war recht verkehrsberuhigt, aber weiter unten, an der Tankstelle, würde sich das ändern. Doch das war egal. Alles war egal, denn die Zeit rannte. Leona zog ihr Handy umständlich aus der Hosentasche, um sich nochmal den Standort anzusehen, den Arschloch ihr geschickt hatte. Doch es war eine weitere Nachricht hereingeflattert. Diesmal, zu ihrer grenzenlosen Überraschung, war sie von Erik:

Wo bist du?

Wütend starrte sie die drei Worte an. Verschissener Heuchler. Sie schrieb das erste zurück, das ihr durch den Kopf ging:

Fick dich.

Dann öffnete sie die Kartenapp und gab Lindstetten ein ... Doch – halt! – zuerst musste sie zum Friseursalon. Sie würde unter irgendeinem Vorwand reingehen und ... Sie würde sagen, dass ... Falls ihr Papa da sein würde, dann würde sie sich erklären ... Sie würde sagen ... Oh, sie sollte dringend ihre Gedanken kontrollierten. Alles ging wirr durcheinander. Dabei würde sie sich gleich auf die Straße konzentrieren müssen. Jede Ablenkung musste sie vermeiden, sie, die Fahranfängerin, Anfängerin aller Anfänger, die noch nie eine Fahrschule von innen gesehen hatte. Oh, die Gedanken taten weh, sie hämmerten von innen gegen Leonas Schädel, der gleich platzen würde! Da ploppte die nächste Nachricht auf:

Es tut mir leid, was ich gesagt hab. Wo bist du?

Leonas Finger schwebte einen Moment über der Nachricht. Was? Wollte sie ihm etwa zurückschreiben? Wurde sie etwa weich? Wenn es nach Erik ging, dann war er ihr scheißegal. Ihm war es egal, was mit Leona passierte, was mit ihrem Vater passierte. Dem reichen Söhnchen ging es nur darum, seinen eigenen Arsch zu retten. Leona antwortete nichts, sie fuhr einfach los.

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