XVI - Erkenntnisgewinnungsschock
Obwohl er es nicht wollte, freundete Erik sich nach und nach mit dem Gedanken an, in den Knast zu wandern. Sein Hals war ganz trocken, so schnell wie er lief und die kalte Luft einatmete. Der Geruch von Räucherstäbchen hing ihm noch in der Nase wie der fadenscheinige Nachgeschmack eines stark gewürzten Essens. Ein leises Kopfweh klopfte auch schon von seinem Hinterkopf aus an. Erik kannte verschiedene Arten von Kopfweh. Da gab es das Sorgenkopfweh, das Suffkopfweh und das Dehydrationskopfweh. Jedes davon hatte seine eigenen beschissenen Nuancen und in seinen achtzehn Jahren hatte der junge Mann gelernt, sie zu erkennen und zu unterscheiden.
Dieses hier – drückend und pochend – klang nach Dehydrationskopfweh und das war auch gar kein Wunder in Anbetracht dessen, dass er vor lauter Aufregung gefühlt den ganzen Tag noch nichts getrunken hatte. Er sollte sich zumindest eine Flasche Wasser besorgen, Einkaufsläden gab es hier unten nahe dem Stadtkern ja genug. In seiner Hosentasche hatte er vielleicht noch ein paar Scheine. Hmmm ... ja! Da knisterte es ... blaues Papier, zwei Scheine. Damit würde Erik etwas anfangen können.
Langsam senkte sich die Sonne am Himmel. Der Sonnenschein des Tages hatte den jungen Mann, der irgendwie immer noch ein kleiner Junge war, dazu verleitet, keine Jacke anzuziehen, was er jetzt bereute. Es war ein gutes Stück bis nach Hause und er hatte sein Ticket nicht dabei und wollte sich auch keines kaufen. Lieber lief er und versuchte so, den Kopf frei zu bekommen, als dass er sich in die volle Bahn hockte und im ausgeatmeten Kohlenstoffdioxid von hunderten anderen Leuten schmorte. Es war Samstagabend und die Nachtschwärmer und Clubbesucher stromerten schon durch die Straßen, vorbei an den Obdachlosen, die es dieser Tage immer schwerer hatten. Die Nächte wurden länger und kälter. Während Erik in seinem gemütlichen Zuhause sitzen konnte, würden diese Menschen hier draußen vegetieren müssen.
Glitzer und Seide vermischten sich mit verfilzten Decken und ausgetretenen Sportschuhen. Der Hauch eines blumigen Parfüms verzwirbelte sich mit dem Gestank nach verschüttetem Schnaps. Das muntere Lachen einer Gruppe junger Männer ebbte im streitlustigen Lallen zweier Menschen undefinierbaren Alters aus. War das also die Serenade der Großstadt? Gänsehaut zog sich unter seinem Hemd über Eriks Arme. Zuhause hatte er eine Jacke. Der Mann, der da vor dem Laden saß mit seinem Pappbecher halbvoll mit Kleingeld, der hatte sowas nicht. Weder ein Zuhause noch eine Jacke.
Ohne groß nachzudenken griff Erik in seine Hosentasche, wobei noch etwas anderes mitkam. Ein Sticker. Improve. Passender ging es gar nicht! Er rollte den Zwanziger zusammen, klebte das Ende mit dem Sticker fest und steckte ihn unter den skeptischen Blicken des Mannes sorgfältig in den Becher. Der antwortete nichts, aber einen Dank brauchte Erik auch gar nicht. Er hoffte einfach, dass die arme Seele sich dafür etwas Sinnvolles kaufen würde. Und die Botschaft des bunten Aufklebers nicht fehlinterpretieren würde. Also nicht als Vorhaltung, sondern als Motivation ... O Mann, was maßte Erik sich da schon wieder an. Er wollte doch nichts Böses. Nichts Böses tun, nichts Böses sagen und doch gelang es ihm immer wieder, ins Fettnäpfchen zu treten.
Improve. Ob sein Vater die Modifikation seines Ritterfotos schon unter die Augen gekommen war. Ein Blick auf sein Handy ließ Erik schmunzeln. Es war eine Nachricht von seiner Mutter, aber trotzdem war er sich sicher, dass sie nur auf Improve bezogen sein konnte:
Bist du von allen guten Geistern verlassen? Komm nach Hause!
Auf eine Diskussion hatte Erik keine Lust, weswegen er nicht anrief. Er hatte aber auch keine Lust, per Suchtrupp ausfindig gemacht zu werden, also schrieb er eine kurze Nachricht zurück:
Ja, komme bald.
Dann schaltete er die mobilen Daten aus. Was hatte er denn erwartet? Einen Dank? Einen Dank ... Der Anhänger! Wie elektrisiert blieb Erik stehen und wühlte in seiner Tasche. Fast schon panisch dachte er, dass er den kleinen Löwenkopf verloren haben könnte, aber dann bekam er ihn zu fassen. Ein Anhänger aus Gold als Dank, weil er seine Freiheit riskiert hatte. Ein toller Tausch ... Was würde er damit machen? Ihn Lena schenken? Irgendwie kam ihm das nicht richtig vor. Leona hatte ihm den Anhänger geschenkt, also würde er ihn nicht direkt wieder an jemand anderes weitergeben. In seiner Schreibtischschublade würde sich das kleine Schmuckstück gut machen. Also, solange Erik hinter Gitter sein würde ...
Ja, er würde vielleicht in den Knast gehen. Vielleicht? Vielleicht. Sofern Mamas Anwältin nicht noch etwas reißen würde. Und ja, er hatte Angst davor. Nicht, weil er dann einen Stempel aufgedrückt bekommen würde. Den hatte er sowieso. Viel eher, weil er nicht wusste, was auf ihn zukommen würde. Oder weil er sich zu bunt und detailliert ausmalte, was auf ihn zukommen könnte. Was passieren könnte. Da war einfach ein riesengroßer Berg an Furcht, der sich über ihm ergoss.
Leona, Leona, was hatte sie nur mit ihm gemacht? Er hatte sie stehen lassen, noch schlimmer: Er hatte gesagt, er würde ihr die Rechnung für sein Hemd schicken. Per Post. Noch einfühlsamer geht's ja kaum, Alter, dachte er zu sich selbst. Dabei hatte er es nicht mal ernst gemeint. Gift und Galle hatten sich den Weg durch seinen Körper über seine Zunge nach draußen bahnen wollen, direkt zu Leonas Ohren hinein in ihr Herz. Er hatte gemein sein wollen, hatte sie vor den Kopf stoßen wollen, weil er einfach nicht zugeben konnte, dass er sie mochte. Sehr mochte.
Aber jetzt zurück zu gehen, das kam nicht infrage. Jetzt gab es nur noch den Weg nach vorne. Sebastian würde ihn anzeigen. In den nächsten Tagen würde Erik Post bekommen: einen Haftbefehl. Oder die Polizei würde vor seiner Tür stehen. Blaue Uniformen, draußen die leuchtenden Lichter, fröhlich tanzendes Azurblau. Oder? Würde das so laufen? In seiner Vorstellung ja. Und dann würde er vor dem Richter landen und der würde ihn in den Knast schicken. „Tut mir leid, Herr Settler, aber diesmal geht der Weg direkt hinter Schloss und Riegel. Sie hatten Ihre Chance, aber wie ich sehe, haben Sie diese nicht genutzt", rief eine Stimme irgendwo zwischen Gefühl und Verstand. Das war Eriks innerer Richter, keiner aus Fleisch und Blut, sondern einer aus Staub und Trotz. Erik blieb abrupt mitten auf dem Gehweg stehen, wobei er von einem Mann mittleren Alters von hinten angerempelt wurde.
„Schon besoffen, was?", fluchte der und zeigte Erik den Vogel, ehe er im Strom der Nachtschwärmer verschwand. In Eriks Kopf schwirrte es. Nein, noch nicht besoffen. Noch nicht. Noch nicht. Er brauchte etwas zu trinken. Zu saufen. Sein Kopf würde sich bedanken. Wenn er jetzt auch noch Alkohol trank, dann würde sein Körper noch weiter dehydrieren. Eriks Blick flog zu der Tankstelle auf der anderen Straßenseite. Er würde sich etwas zu trinken holen. Wasser. Einfaches, normales, alkoholfreies Wasser. Vernünftig. Eher unvernünftig rannte er bei Rot über die Straße und trat in den Verkaufsraum. Hinter der Kasse glitt eine große und kräftige Frau mit langen pinken Haaren, die sich zu einem Zopf geflochten über ihre Schulter schmiegte, geschmeidig hervor.
„Bis morgen!", rief sie dem jungen Kerl hinter der Kasse zu. Dem jungen Kerl, den Erik doch kannte ...?
„Marvin?"
Der Kerl blickte auf, als er seinen Namen hörte und für einen Moment schien es, als wolle er peinlich berührt fluchtartig in den Lagerraum springen wollen.
„Du arbeitest hier?", fragte Erik überrascht. Marvin antwortete nicht. Warum? War es ihm peinlich? Es war überhaupt nichts Unangenehmes daran, in einer Tankstelle zu arbeiten, also warum zierte sich Eriks Freund so? Was war los mit ihm? Da war diese Schramme in seinem Gesicht, der Zeuge einer möglichen Auseinandersetzung oder eines Unfalls, die noch leicht zu sehen war, obwohl sie schon verblasste. Er war an dem Abend von Eriks Geburtstagsfeier so schweigsam gewesen, aber das war bei ihm nichts Ungewöhnliches. Doch das Verhalten jetzt gerade schon. Sein Verhalten in Summe, das war durchaus nicht ganz normal. Es war komisch. Verdammt komisch.
„Was ist los, Mann? Wegen der Schramme wollte ich dich noch fragen, aber ich hab's verpasst ...", erklärte Erik und legte eine stille Entschuldigung in seine Worte. Eine Entschuldigung, weil er sich nicht schon früher erkundigt hatte. Betreten schaute Marvin auf den kleinen Ständer mit den Kaugummis und Schokoriegeln auf der Theke. Er wusste, dass er Erik nicht anlügen konnte. Er wusste, dass er nicht „nichts" sagen konnte. Das alles las sein guter Freund ihm aus den Augen ab.
„Ja, ich arbeite hier. Um mein Studium zu finanzieren. Du weißt ja, Luft- und Raumfahrttechnik. Ich hab vergessen, es zu erzählen, tut mir leid ...", erklärte Marvin. Erik schaute ihn lange an. Da fehlte noch ein Teil der Antwort.
„Und die Verletzung?"
„Die ..."
„Brauchst du Hilfe?"
„Nein ..."
„Ey, was los? Kann ich mal zahlen?" Von hinten drängte sich eine Frau unsanft an Erik vorbei. Er nahm nur eine Wolke aus weißer Daunenjacke wahr, wollte protestieren, überlegte es sich aber anders, als ein weitaus größerer Kerl hinter ihr auftauchte und Erik mit hochgezogener Augenbraue musterte. Marvin kassierte eilig die Energydrinks ab, die die Wolke auf den Tresen legte und warf Erik verstohlene Blicke zu. Als das Duo endlich die Tankstelle verlassen hatte, stellte sich der groß gewachsene junge Mann mit den weichen Haaren vor den Tresen, face-to-face mit seinem Kumpel, der sich über die kurz geschorenen Haare fuhr.
„Mann, ja, ich ...", begann Marvin und versuchte Eriks Augenkontakt auszuweichen.
„Wer?"
„Ein Kerl. Ich weiß nicht, wie er heißt. Ich hab mal was bei ihm gekauft. Grünes. Ach, Scheiße, das war eine blöde Idee, ich weiß das selber. Er hat mich dazu gezwungen, ein Paket in einem Laden zu deponieren. Es war ein Friseursalon, glaub ich ..."
Ein eiskalter Schlag traf Erik, unerwartet und furchtbar.
„Ein Typ mit Lederjacke", murmelte Erik.
„Genau!"
Endlich schaute Marvin Erik direkt in die Augen. Eine zarte Erleichterung umspielte seine Gesichtszüge. Und Erik konnte seine Gedanken lesen.
„Ich hab nichts bei ihm gekauft ... ich erzähl es dir wann anders ... ich muss los, jemanden warnen", stammelte er und konnte seine Gedanken kaum sortieren. Er wusste nur, dass er Leona schnell wie möglich suchen musste. Aber wo?
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