XV - Auftragsvermeidungsstrategie
„Nein."
Fokussiert schien Eriks Blick auf einem Punkt irgendwo zwischen dem Hochflorurwald von Leonas Teppich zu liegen. Leona wagte es kaum, zu atmen. Es war, als wäre diese Szene – er und sie in ihrem Zimmer – gegossen in flüssiges Glas, kein Partikel bewegte sich, nicht eine einzige Staubflocke wagte es, im warmen Nachmittagslicht zu tanzen. Woher wusste Sebastian diese ganzen Dinge? Er sorgte vor, das war ihr klar geworden. Niemals würde er eine Situation einfach auf sich zukommen lassen. Dafür war er viel zu kontrolliert.
„Ich hab einen Auftrag für dich, sozusagen als Wiedergutmachung für deinen vollkommen ungerechtfertigten Angriff auf mich und meine körperliche Unversehrtheit ...", fuhr Sebastian einfach fort.
„Nein", wiederholte Erik. Er presste die Lippen aufeinander und erst als er den Kopf zu Leona drehte und sie fragend anschaute, bemerkte sie, dass sie ihn die ganze Zeit über angestarrt hatte.
„Wenn du deiner Leona einen Gefallen tun willst, dann solltest du mir die kleine Bitte nicht ausschlagen."
Deine Leona. Deine. Wie sehr sie dieses ständige dein Erik, deine Leona hasste! Wenn sie gekonnt hätte, dann wäre Leona durch den Hörer direkt zu Sebastian gesprungen, um ihm an die Gurgel zu gehen. Verdammt nochmal, war Sebastian eifersüchtig?! Es hatte sich nie so angefühlt, als würde er mehr von ihr wollen und jetzt machte er die beleidigte Leberwurst. Oder war es nur das Gefühl, alles haben zu können, was er wollte? Er hatte immer bekommen, was er wollte. Er hatte das Glück der Dummen. Gold und Geld flossen ihm regelrecht in die Tasche, aber das, was er nicht bekommen konnte, war Leonas Herz. Er hätte es sich doch nur zuhause an die Wand genagelt, als Trophäe. Nicht wie Erik.
Nicht wie Erik? Hatte sie ihm denn ihr Herz geschenkt? Hatte sie? Hatte sie denn noch eines zum Verschenken oder hing es gerade im Thermalbad in Völzau in der Filteranlage? Wie dumm sie damals gewesen war, damals vor einem knappen Jahr, damals, als sie gedacht hatte, dass Sebastians Hände an ihrer Taille mehr zu bedeuten hatten.
„Also: Jemand hat für mich ein Päckchen im kellermannschen Friseursalon drapiert", fuhr dieser fort. Was? Stille herrschte im Zimmer. Von draußen war ein kurzes, lautes Lachen einer Frau zu hören. Lachen. In dieser Situation? Wer auch immer da draußen gerade lachte, hatte es gut, denn die Person hatte wohl einen Grund dazu. Lachen. Hatte Leona nicht mit Erik ihre Philosophie über das Lachen geteilt? Auch in schlimmen Situationen zu lachen, obwohl einem nicht danach war? Gerade schien ihr alles im Hals stecken zu bleiben.
Leona widerstand dem Impuls, Erik ihr Handy aus der Hand zu reißen und Sebastian hindurch anzubrüllen, dass ihm das Trommelfell platzte. Jetzt wollte er auch noch ihren Vater in die Sache reinziehen! Ihren Vater, der den ganzen Scheiß überhaupt nicht verdient hatte! Genau so, wie er die andere Sache auch nicht verdient hatte. Die Sache mit Leonas Mutter. Die Sache mit Leona selbst. Doch nun schien es sich zu wiederholen. Alles.
„Was ist in dem Päckchen?", fragte Erik mit hohler Stimme, als hätte er Leonas Gedanken gelesen. Ihr schoss das Blut in die Wangen, doch gleichzeitig schien ein Schüttelfrost sie übermannen zu wollen. Sie wollte gar nicht wissen, was Sebastian gleich antworten würde, aber zugleich brannte sie darauf, es zu hören.
„Ein bisschen Schnee für weiße Weihnachten", sagte Sebastian gedehnt, genüsslich, lauernd wie eine Hyäne. Das wagte er nicht ... Das ... nicht ... Leona hätte platzen können. Ströme wilder Wut flossen durch ihren kleinen sechzehnjährigen Körper und mischten sich mit dem lähmenden Gift, das von ihrem Verstand hinab sickerte. Dick und zähflüssig war sie, die Handlungsohnmacht. Leona konnte nichts tun, außer zuzusehen. Wie eine Marmorstatue, die bei hellem Sonnenschein von Tauben vollgeschissen wurde, die von jedem Regensturm geschliffen und vom Hagel attackiert wurde. Sie konnte nur dastehen und zusehen. Und Sebastian redete und redete und redete weiter.
„Das wäre dann geklärt. Also, Erik, du fährst zum Friseursalon und suchst das Paket. Es hat die Maße dreißig mal fünfundvierzig Zentimeter. Damit fährst du zur Packstation nach Lindstetten und ..."
Zack, aufgelegt. Wie hypnotisiert schaute Leona auf dem Homebildschirm ihres Handys. Es war das Bild eines weißen Löwen, der in geometrischen Formen gezeichnet war, auf auberginefarbenem Hintergrund. Sie mochte dunkle Farben. In der Dunkelheit fühlte sie sich wohl, weil dann die Aufmerksamkeit nicht so sehr auf dem Einzelnen an sich lag. Man sah keine Einzelheiten, nur Schemen. Dunkelheit gab Sicherheit. Am liebsten hätte Leona die Rollläden zugezogen und sich unter ihrer Bettdecke verkrochen. Dunkelheit. Im Dunkeln verschwinden.
„Scheiße, warum hast du das gemacht?", schrie sie Erik an. Der blieb gelassen, zumindest äußerlich, was Leona noch mehr provozierte. Die Hysterie zerrte an ihr und ließ sie tanzen wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden.
„Der Kerl lügt", entgegnete Erik kühl. Seine Augen hielten Leona auf Abstand.
„Nein, eben nicht. Ich trau dem Drecksack alles zu. Ich weiß doch, was er kann!", gab sie zurück, etwas weniger laut, aber eindringlich. Erik blähte die Wangen auf und atmete hörbar aus.
„Weißt du, irgendwer muss den Mist auch mal beenden. Wenn du das tust, was er will, dann geht das immer so weiter ..."
„Aber er hat mich komplett in der Hand, verstehst du das nicht?", knurrte Leona zwischen den Zähnen hindurch und kam Erik immer näher. Ihr Gesicht war von seinem nur noch um die Länge eines Lineals entfernt.
„Mich auch. Aber jetzt reicht's mir!", schnappte Erik unerwartet laut. „Meine ... Meine Mutter engagiert mir eine gute Anwältin. Dann ..."
„Dann bist du fein raus! Ja, los, rette deinen eigenen Arsch. Warum dann das Ganze? Warum bist du nicht gleich zu Mama gerannt und hast ihr alles erzählt? Warum sitzt du eigentlich hier bei mir? Und warum hast du mich nicht einfach weggestoßen, als ich dich geküsst habe ...?"
Wie eine ausbrennende Kerze wurde Leonas Stimme zum Satzende hin immer schwächer bis nur noch ein feiner Rauchschwaden durch das Zimmer zog, in dem tausend Düfte von Lavendel über Rosenholz waberten. Doch sie nahm gerade nichts davon wahr. Sie stierte Erik mit mühsam zurückgehaltener Wut an. Warum, ja, warum? Aus welchem Grund hatte Erik sich auf das Ganze eingelassen? Auf sie? Statt einer Antwort stand er auf und steuerte auf die Tür zu. Diese Szene kam Leona schmerzhaft vertraut vor. Wer drückte hier ständig auf die verdammte Replay-Taste?
„Das war wohl dieselbe Dummheit, die mich dazu verführt hat, den Autoschlüssel von meinem Vater zu schnappen", gab Erik zurück. Leona schluckte. Warum hatte sie gefragt? Diese Antwort war, als würde Schwimmbecken eiskaltes Wasser über ihrem Kopf ausgeleert werden. Sie war schockgefroren, zu einem Eisklotz erstarrt. Jetzt war sie das kleine Mädchen, die mit ihrem Dreirad über die Einfahrt zur Garage fuhr. Hinter der ihre Mama lief, damit ihrer kleinen Maus nichts passierte. Die kleine Leona, die an der Goldkette ihrer Mama zog, während die ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vorlas.
Dickflüssige Tränen drückten hinter Leonas Augen nach draußen. Sie spielte nur die Geschichte ihrer Mama nach. Sie, Leona, würde genau so enden wie die schwarzhaarige Frau, die sie geboren hatte. Der ganze Übermut, der Gedanke, alles haben zu können, ohne dafür irgendeinen Preis zu bezahlen. Irgendeinen.
„Bitte hilf mir", flüsterte sie. Hilflos. Sie war aufgeschmissen. An ihren Papa konnte sie sich nicht wenden, auf gar keinen Fall. Sie würde ihn in ein tiefes Loch stoßen, schon wieder. Dabei hatte sie ihm doch nur helfen wollen ... Oder war das nur eine Ausrede? Nur eine billige Ausrede, damit sie ihrem eigenen Willen folgen konnte? Nein – damit sie Sebastians Willen erfüllen konnte. Er hatte sie manipuliert, er ... Durch seine Liebe, die er ihr vorgespielt hatte. Ihr Freund, ihr Verlobter, der größte Lügner, den sie kannte!
Doch auch das war nur eine Ausrede. So ungeschützt wie in diesem Moment, hatte sie sich noch nie gefühlt. Hier stand sie nun, Leona Kellermann, die sich einen Schuldigen nach dem anderen suchte und dabei zu verleugnen versuchte, dass sie ihre Hand ausgestreckt hatte, dass sie sich die Taschen gefüllt hatte. Ein Dieb, der den anderen Dieb bestahl.
„Ich werde nichts mehr tun, keinen Handgriff machen, der mich auch nur einen Zentimeter näher an den Knast bringt. Tut mir leid, aber das Problem musst du allein lösen", sagte Erik ungerührt. Doch in die Kühle seiner Augen mischte sich eine Spur schmierig-ekligen Mitleids.
„Das kannst du nicht machen!", klagte Leona jämmerlich. Mit einem Satz stand sie neben Erik und griff sich seinen Arm.
„Du hast kein Recht, mich hier festzuhalten", raunte Erik und riss sich grob von ihr los. Doch so leicht ließ sie sich nicht abschütteln. Sie packte ihn hinten am Hemd und zog, obwohl Erik sich nicht davon beeindrucken ließ. Stur bewegte er sich bis zur Tür, langsam und mühsam, als würde er gegen einen starken Sturm laufen. Ein ungeduldiges Reißen quittierte Leonas Bemühungen. Irritiert blieb Erik stehen und schaute Leona an.
„Die Rechnung für das Hemd kommt per Post", sagte er und ehe sie etwas sagen konnte, knallte die Wohnungstür ins Schloss. Er hatte sie stehen lassen. Schon wieder. Immer wieder und wieder. Wann wurde Leona auch mal nicht von jemandem enttäuscht, der nicht ihr Vater war?
„Fick dich doch!", brüllte sie durch die geschlossene Tür und kickte gegen das dicke Holz. Doch die Einzige, der sie damit wehtat, war sie selbst. Doch sie konnte nicht tatenlos bleiben und dabei zusehen, wie alles einfach passierte. Wie ihr lieber Vater in einem Schneesturm versinken würde. Sie musste aktiv werden. Jetzt. Sie musste zum Friseursalon fahren. Sie musste ... Sie versuchte, sich die Informationen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Paket holen ... Packstation ... Lindstetten ... Nach Lindstetten waren es zwanzig Kilometer, aber die Anbindung mit den Öffentlichen war schlecht. Es würde viel zu lange dauern bis dorthin.
Leona würde fahren müssen. Irgendwie. Die Möglichkeiten rauschten ihr durch den Kopf und machten sie schwindlig. Es würde auf eines hinauslaufen: Sie würde fahren müssen. Nicht etwa mit dem Bus, der Bahn oder sonst was. Nein, sie würde mit einem Auto fahren müssen. Sie. Irgendwie würde es gehen, irgendwie musste es gehen! Scheiße, verdammte, sie war noch nie im Leben auf einem Fahrersitz gesessen. Aber wenn Erik das geschafft hatte, dann würde sie das auch können. Es gab kein Überlegen.
Sie musste nur an ein Auto kommen, denn ihr Papa war mit dem blauen SUV in die Arbeit gefahren. Er würde nur später kommen und dann wäre es auch schon zu spät ... Wenn es zu lange dauern würde, dann würde er heute Abend vermutlich gar nicht heimfahren, sondern in einer Zelle sitzen. O nein. Leona wollte sich das nicht vorstellen. Doch es gab noch eine andere Möglichkeit. Sie musste dafür ganz, ganz viel Glück haben. Und schnell zu Kathi.
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