XIV - Ein Freund
Samstags hatte Leonas Papa frei. Und wenn er frei hatte, lungerte er in der Wohnung herum und wechselte die Fernbedienung mit dem Staubsauger und den Staubsauger mit dem Kochlöffel. Der Mann war ein Allroundtalent, nicht erst seit sie nur noch zu zweit lebten. Als Leona mit Erik im Schlepptau in den Flur der Wohnung traten, hörte sie in der Küche einen Topf mit Wasser überkochen. Eilig lief sie hin, denn dem Rauschen aus dem Schlafzimmer nach saugte der eifrige Friseur auch noch Staub, während die Kartoffeln auf viel zu hoher Stufe kochten.
Mit einem Topflappen hob Leona den Deckel hoch und stellte die Temperatur des Herds etwas herunter. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Erik unschlüssig in der Tür zur Küche stand. Sie lächelte ihm entschuldigend zu und deckte den Topf wieder ab, stellte den Deckel aber schräg, damit der Wasserdampf entweichen konnte.
„Papa?", rief sie über das Brummen des Staubsaugers hinweg. Dieser wurde prompt ausgeschaltet und der liebe Bär erschien in der Tür zum Schlafzimmer.
„Hallo, Liebes. Wen hast du mitgebracht?"
Aufmunternd lächelte Leonas Papa Erik zu. Es war das erste Mal seit langem, dass sie jemanden hierher einlud. Also offiziell.
„Das ist Erik. Er ist ein Freund", stellte Leona ihn vor. Dabei kam ihr ihre eigene Sprechweise so fremd vor. Er ist ein Freund. Na, was hätte sie denn sonst sagen sollen? Ihr Freund war er ja wohl kaum. Für ein Mädchen in ihrem Alter kam es ungewöhnlich selten vor, dass Leona jemanden nach Hause mitbrachte oder einlud, dass ihr Papa das auch mitbekam. Kathi war neben einer ehemaligen Kindergartenfreundin und einem schon längst weggezogenen Grundschulfreund die einzige Person, die in den letzten Jahren die kellermannsche Wohnung als Gast betreten hatte. Und Sebastian, aber den zählte sie nicht, weil er eher wie ein Phantom war. Ein bisschen wie ein böser Geist, dessen Anwesenheit mehr eine Heimsuchung war. Obwohl – halt! – war das nicht wieder ein bisschen zu gemein? Shit, er hatte es doch verdient! Nach den Hoffnungen, die er geschürt hatte ... Egal.
Nicht jeder kam mit Leonas Art zurecht. Viele – besonders ihrer Mitschülerinnen – waren abgeschreckt und gingen auf Distanz, sobald sie merkten, wie impulsiv das zierliche Mädchen war und wie schnell die Stimmung von jetzt auf gleich kippen konnte. In einem Moment lachte sie, im nächsten weinte sie und wenn man nicht wusste, welche inneren Prozesse dazwischen abliefen, dann konnte das verunsichern, das verstand Leona. Außerdem war sie der Meinung, dass das ein guter Härtetest war: Wer nicht mit ihr umgehen konnte, der war eben nichts für sie. Fertig, aus.
„Schön, dich kennenzulernen, Erik. Kennt ihr euch aus der Schule?"
„Ja."
Leona hatte geantwortet, noch bevor Erik den Mund aufmachen konnte. Ein kleiner Seitenblick bestätigte ihr, dass der Impuls sogar goldrichtig war. Sein erleichtertes Gesicht sprach Bände.
„Wir gehen in mein Zimmer", setzte Leona noch schnell hinterher, bevor mehr Fragen kommen konnten. Sie zog Erik hinter sich her und schloss die Tür. Im Flur setzte das geschäftige Brummen wieder ein.
„Und du meinst, dass Sebastian nicht blufft?", fragte Leona. Auf dem Weg hierher hatten sie sich darüber unterhalten, was der verdammte, bescheuerte ... Sebastian ... ihnen beiden angedroht hatte.
„Ich kann mir vorstellen, dass er es wirklich macht", sagte Erik tonlos. Sein hübsches Gesicht war etwas blass geworden. Leona widerstand dem Drang, über seine Wange zu streichen. Sie wollte ihn so gerne trösten, weil sie sich nur zu gut vorstellen konnte, was in ihm vorging. Wenn Sebastian ihn anzeigen würde und auch noch Beweise hatte – und sei es ein Attest vom Arzt wegen seiner Verletzungen – dann sähe die Sache richtig düster für ihn aus. Natürlich würden die ganzen Vorwürfe erst geprüft werden müssen. Aber die Sache war die: Erik hatte erst mit einer Sektflasche auf Sebastians Kopf gezielt und hatte ihn dann, als das nicht geklappt hatte, in die Baugrube gestoßen. Es musste nur irgendein Zeuge das gesehen oder irgendeine Überwachungskamera das aufgenommen haben und schon hätte Erik ein Problem.
Die U–Bahnstation wurde videoüberwacht. Das wusste Leona, weil jede Station videoüberwacht wurde, laut den Aufklebern auf den Ticketautomaten. Wie weit war denn der Radius, den die Kameralinse über die Umgebung hinweg umfasste? Und die Baustelle? Wurden die nicht auch überwacht? Wenn Sebastian Anzeige erstatten würde, dann wäre eine ganze Lawine losgetreten. Und dann war da noch die andere Sache ... Verkniffen schaute Leona Erik an, der sich auf die Kante ihres Betts gesetzt hatte. Er schien sich nicht sehr wohl zu fühlen, so statisch wie er da saß, mit den Händen zwischen die Knie geklemmt. Es sah ein bisschen so aus, als würde der Raum ihn erdrücken.
Und dann waren da noch die Vorwürfe gegen sie. Inwiefern Sebastian Beweise hatte, die nur sie und nicht auch ihn gleich mit belasteten, wusste sie nicht. Andererseits ... Ihrer Mutter war es auch nicht großartig anders ergangen. Sebastian würde ganz gut aus der Sache rauskommen, egal, wie man es drehte oder wendete. Verdammter Mist!
Klingeling.
In der Hosentasche von Leona bimmelte ihr Handy. Das Display leuchtet, dass man es durch den dunklen Stretchstoff hindurch sehen konnte.
Basti.
Verdammt, sie musste den Namen entweder ändern – zum Beispiel in Arschloch oder Drecksack – oder gleich ganz löschen.
„Er?", fragte Erik unsicher und schien fast noch eine Spur blasser zu werden. Leona nickte.
„Soll ich?", flüsterte sie.
„Mach den Lautsprecher an", entgegnete Erik. Leona nahm den Anruf an und schaltete auf Lautsprecher. Erst sagte niemand etwas. Sie dachte gar nicht daran, den Scheißer zu grüßen.
„Bist du dran?", klang die Stimme von Sebastian. Nicht unsicher, nicht genervt, aber auch nicht neutral. Überlegen. Arrogant.
„Bin ich."
„Das vorhin hab ich schon ernst gemeint."
„Daran hab ich keinen Zweifel."
Leona biss die Zähne aufeinander. Sie musste so viele Flüche und Schimpfwörter runterschlucken, dass sie daran zu ersticken drohte. Ein Blick zu Erik sagte ihr, dass der gerade tausend Ängste litt. Sagte man das so? Egal. Wie leid er ihr in diesem Moment tat!
„Aber das muss ja nicht sein, weißt du?"
Es musste nicht sein. Nein! Nichts musste sein und trotzdem standen sie hier in Leonas Zimmer, sie und Erik, und wurden von Sebastian eingeschüchtert. Einen Moment lang herrschte wieder Stille in der Leitung. Leona schaute zu Erik, in dessen Augen ein kleiner Funke leuchtete.
„Red endlich Klartext!", raunzte Leona ins Handy hinein. „Was willst du?"
„Wie du dir wahrscheinlich denken kannst, hab ich Beweise gegen euch beide ..."
„Welche? Welche Beweise?"
Leonas Stimme überschlug sich. Sie setzte sich auf ihr Bett gegenüber von Erik, starrte jedoch unentwegt nur auf den Bildschirm, auf der ihr der Name wie eine Provokation entgegen leuchtete. Basti. Basti. Fuck!
„Fingerabdrücke von dir, eine Aufnahme von deinem Erik ...", zählte Sebastian im Plauderton auf. Es versetzte Leona einen Stich. Fingerabdrücke von ihr? Er hatte die ganze Zeit daran gefeilt, hatte die ganze Zeit schon Beweise gegen sie gesammelt – für den Fall der Fälle ...
„Du bist widerlich", gab sie zurück, wobei sie versuchte, möglichst unbeeindruckt zu klingen.
„Ich bin rational. Sich abzusichern, ist immer ratsam. Schau, ich wäre auch nicht sauer gewesen, wenn du das getan hättest, denn das hätte immerhin von Klugheit gezeugt."
Jetzt. Jetzt kam die Argumentation, die Totschlagargumente. Er hatte recht. Das musste Leona zugeben, auch wenn es unfassbar wehtat. Er hatte recht damit. Sie hätte sich absichern können. Aber sie hatte es nicht getan, weil sie einfach nicht daran gedacht hatte. Sie hatte diesem Dreckskerl vertraut, obwohl sie das nicht hätte tun dürfen.
Sie hatten gemeinsame Sache gemacht. Nie im Leben hätte Leona angenommen, dass er sie verraten würde – weil sie gedacht hatte, dass sie im selben Boot saßen. Dass er sich immer auch selber belasten würde, wenn er sie verrate würden. Aber hatte sie überhaupt mit dieser Option gerechnet? Nein. Warum nicht? Verdammt, weil sie angenommen hatte, dass da so etwas wie Liebe zwischen den beiden war!
„Ist dein Erik da?", fragte Sebastian zusammenhanglos. Dein Erik. Leona schaute zu ihm. Der groß gewachsene junge Mann zögerte einen Moment, nickte dann aber.
„Ist er."
„Gib ihn mir mal."
Leona reichte Erik das Handy. Der tat genau dasselbe wie Leona vorhin. Er sagte nichts und wartete darauf, dass Sebastian das tat.
„Also, Erik, du kannst doch ganz gut fahren, ist mir zu Ohren gekommen."
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