XII - Vergangenheitschaos
„Fristlos gekündigt, die Dreimonatsfrist übergangen und jetzt auch noch das?" Eine vor bösem Sarkasmus strotzende Stimme ließ Leona aufschrecken.
„Sebastian?"
Er kam näher.
„So heiße ich jetzt für dich?", fragte er enttäuscht – gespielt enttäuscht, ganz sicher – und ließ Erik nicht aus den Augen, während er sprach. Zwei Meter vor den beiden blieb er stehen. So heiße ich jetzt für dich? Was wollte er damit sagen? Er und Leona – die beiden waren nie ein Paar gewesen, waren meilenweit davon entfernt gewesen. Was hatte er denn erwartet, wie Leona ihn nennen sollte? Warum so freundschaftliche Kosenamen verwenden, wenn die Beziehung von seiner Seite aus fast ausschließlich geschäftlicher Art gewesen war?
„Du hast mein bestes Pferd gestohlen. Weißt du, was sie im Mittelalter mit Pferdedieben gemacht haben?", fragte er, nun an Erik gerichtet. Leona nahm wahr, wie dieser merklich zusammenzuckte. Sie selbst blieb ruhig. Solche Drohungen waren nichts Neues aus Sebastians Feder, sie kannte sowas schon. Er versuchte gerne, Leute einzuschüchtern. Wenn nicht mit seiner gehobenen Wortgewalt, dann eben mit Worten mit Gewalt. Manchmal hatte das schon mit einer Faust im Magen geendet. Die Schrammen in seinem Gesicht waren die unbestechlichen Zeugen davon, dass Sebastian nicht wusste, wann es genug war.
„Du spinnst. Mit gewöhnlichen Dieben sind die damals nämlich auch nicht zimperlich umgegangen", konterte Leona, obwohl die Aussage auch auf sie bezogen werden konnte. Scheiße, manchmal sollte sie ein paar Sekunden länger darüber nachdenken, bevor sie etwas sagte. Frustriert bemerkte sie, wie sie Sebastian immer noch unterschätzte, obwohl sie es doch besser wissen müsste.
„Schwaches Argument", quittierte Sebastian ihren Einwand verächtlich, bevor er sich an Erik wandte: „Mit dir hab ich noch eine Rechnung offen."
Leona schaute Erik an, wie er reagierte. Angst zeichnete sich offenkundig in seinen weichen Gesichtszügen ab wie krakelige Linien auf einer ansonsten sehr schönen Zeichnung.
„Dann komm her", forderte Erik überraschend, doch seine Stimme klang so heiser, als würde sein Hals gegen die Worte ankämpfen, die ihm gerade über die Zunge gerollt waren wie eine Lawine, die sich von den Bergen löste und ins Tal donnerte. Meinte er das ernst? Erik war ein gutes Stück größer als Sebastian, doch er wäre ihm kräftemäßig trotzdem mit Sicherheit unterlegen. Leona erwartete Böses, doch irgendetwas hielt sie davon zurück, zwischen die beiden zu gehen. Wie eine unbeteiligte Beobachterin ließ sie ihre Augen von Erik zu Sebastian wandern und wieder zurück.
Was ging in dem Jungen mit den weichen braunen Haaren vor? Erst machte er sich in die Hose, weil der Jugendknast wie das Damoklesschwert über ihm schwebte und jetzt wollte er sich mit Sebastian prügeln? Eine kleine, fiese Stimme in Leonas Hinterkopf flüsterte ihr zu, dass das alles nur wegen ihr passiert war. Weil Erik gemeint hatte, ihr helfen zu müssen. Eigentlich musste sie dazwischen gehen. Eigentlich ...
Sebastian ließ sich nicht zweimal auffordern. Plötzlich und flink schritt er auf Erik zu und donnerte ihm die Faust in den Magen. Seine Bewegungen waren schnell und unberechenbar wie bei einem Raubtier. Leona hatte bei Sebastian aber statt eines eleganten Geparden immer das Bild einer hinterlistigen Hyäne im Kopf. Reflexartig krümmte Erik sich und der Anblick erinnerte Leona schmerzhaft an eine ganz andere Szene mit Sebastian. Dieser griff in Eriks Haare und zog seinen Kopf zu sich heran. Auf einmal rauschte eine Welle der Wut über Leona hinweg. Sie sah rot.
„Verpiss dich doch, verdammter Wichser!", schrie sie und versetzte Sebastian einen Tritt in die Kniekehle. Der knickte mit einem unterdrückten Wimmern ein, fasste sich aber schnell wieder. Gequält grinsend wandte er sich an Leona.
„Warum so vulgär? Da hab ich wohl einen wunden Punkt getroffen, hm? Folgendes: Ich gehe jetzt auf das nächste Polizeirevier und werde ihn anzeigen. Und dich."
Leona schluckte. Das meinte er doch nicht ernst? Wer würde ihm glauben? Hatte er Beweise? Zeugen? Vielleicht hatte er ein ärztliches Attest wegen des Sturzes. Ein paar Prellungen, wie es aussah, mehr nicht. Aber Körperverletzung war Körperverletzung. Nein, es war Notwehr. Was hatte Sebastian dann gegen Erik in der Hand?
„Dann werde ich aussagen, dass es Notwehr war", erwiderte Leona mit eisiger Stimme.
„Notwehrexzess. Schon gehört? Ist es verhältnismäßig, jemanden zu betäuben und zwei Meter in die Tiefe zu stoßen?", gab Sebastian zurück.
Verdammt, der kleine Drecksack hatte auf alles eine Antwort. Notwehrexzess, das war Leona kein Begriff, doch sie konnte sich gut vorstellen, was damit gemeint war. Wenn jemand Hilfe brauchte, dann musste man eingreifen. Doch man konnte sich nicht jeden beliebigen Mittels bedienen. Doch was war schon verhältnismäßig? Sebastian hatte sie bedrängt. Also, was hätte Erik tun sollen und ... tun dürfen? Wenn Leona mit einem Messer angegriffen worden wäre, was hätte Erik dann tun sollen oder dürfen? Wer entschied das?
Leona begegnete Eriks fragendem Blick. Betäuben und zwei Meter in die Tiefe stoßen. Den zweiten Teil hatte er schon verstanden ... nur den ersten nicht. Nicht so ganz. Betäuben ... Sie würde es ihm vielleicht irgendwann mal erklären ...
„Dein kleiner Erik wird in den Jugendknast wandern. Und du? Was meinst du, was Papa zu der ganzen Sache sagen wird, hm? Er wird enttäuscht sein. Und warum wird er das sein? Weil du der personifizierte Parallelismus zu deiner Mutter bist. Und sogar noch schlimmer."
Auf einmal war es, als hätte jemand auf die Stumm–Taste gedrückt. Plötzlich kam es Leona so vor, als wären alle Umgebungsgeräusche ausgeschaltet worden. Sie wagte es nicht, sich zu Erik zu drehen und auch nicht, Sebastian in die Augen zu sehen. Warum hatte er das gesagt? Warum jetzt, hier, vor Erik?
„Du hast nichts gegen uns in der Hand", krächzte Leona, deren hals mit einem Schlag aus Schleifpapier zu bestehen schien.
„Was ist mit deiner Mutter?", fragte Erik hinter ihr. Einen Moment lang schloss Leona die Augen und atmete tief ein und aus.
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