XI - Wellenlängenverstärker
Erik war bewusst, dass Leona ihn nicht verstand. Trotzdem tat es gut, die Geschichte zu erzählen. Es war nämlich eine Premiere. Tatsächlich hatte er sie bisher niemandem auf genau diese Weise erzählt – das hatten immer andere für ihn getan. Die Zeitung hatte über einen Jugendlichen berichtet, der seinem Vater das Auto entwendet hatte und sich mit der Polizei eine Verfolgungsjagd geliefert hatte; natürlich ohne seinen richtigen Namen zu nennen. Im Verwandtenkreis war die Sache so gut wie komplett totgeschwiegen worden. Bei Familienfesten hatte Erik schon bemerkt, dass die Blicke länger auf ihm lasteten als üblich. Aber unter der Hand wussten alle Bescheid.
Sein Vater hatte die Kurzversion immer schon vor den Feiern unter vier Augen erzählt oder noch besser: am Telefon. Alle wussten es, aber niemand machte es in der großen Runde zum Gesprächsthema. Alle waren darüber gebrieft worden, dass Erik Settler Seniors undankbarer Ableger sich den Autoschlüssel genommen hatte, um damit ziellos durch die Gegend zu fahren, wobei er erwischt worden war. Erwischt erfasste nicht ganz das Rennen, das Erik gestartet hatte, als er das Gaspedal bis zum Boden durchgedrückt hatte. Doch diese Version existierte innerhalb der Familie. Auch Erik selbst hatte einen Maulkorb bekommen. Seinen Cousins und Cousinen gegenüber sollte kein Wort darüber fallen. Natürlich waren auch sie eingeweiht – zumindest die Älteren unter ihnen.
Und jetzt öffnete er vor diesem Mädchen, das er gar nicht so richtig kannte, sein Herz und erzählte die Geschichte so, wie sie aus seiner Sicht passiert war und zwar mit seinen Worten. Er ließ nichts aus, kein Gefühl, keine Absicht wollte er verhehlen. Aber auch nicht den Grund, der ihn dazu veranlasst hatte. Alles hatte er vor ihr ausgebreitet wie ein fliegender Händler seine Waren. Würde Leona sie sich länger ansehen oder würde sie weitergehen?
„Ja, dann ging es ab", nahm er den Faden wieder auf. „Die Auffahrt zur Schnellstraße war nicht mehr weit. Also ging ich mehr aufs Gas. Der Streifenwagen hielt mit. Mir war zu dem Zeitpunkt klar, dass sie mir folgten und das machte mich nervös. Wenn ich nach Hause fahren würde, dann würden sie vermutlich meine Eltern aus dem Bett klingeln. Wenn ich anhalten würde, dann würden sie nach meinem nicht existenten Führerschein fragen. Also bleib mir nur die Flucht nach vorne ... dachte ich."
Wie Erik die Möglichkeiten aufzählte, wurde ihm bewusst, wie absurd es klang. Vor Gericht hatte er das, was passiert war, doch auch erzählt, aber natürlich die für ihn maßgeschneiderte Version, die von seiner Anwältin – natürlich sponsored by Mami – abgenickt worden war. Trotzdem, das war etwas anderes. Etwas ganz anderes, wenn alle Augen auf einen selbst gerichtet waren, aber die Erwartungen den Verstand verfälschten.
Das, was Erik getan hatte, war absurd gewesen. Denn egal, wie er auf die Verfolgung durch die Polizei reagiert hätte, es wäre auf nichts Gutes hinausgelaufen. Er hatte den Funken gezündet, denn er hatte sich ohne Führerschein ans Steuer gesetzt. Wie hätte das denn ein gutes Ende nehmen sollen?
„Du hast weiter Gas gegeben?", folgerte Leona.
„Ich hab das Pedal bis zum Anschlag durchgedrückt. Der Wagen hat dreihundert PS und ist nach vorne gezogen wie ein Pfeil. Es hat mich in den Sitz gedrückt und ich hab nur die Lichter der Stadt an mir vorbeiziehen sehen. Zu der Zeit waren kaum noch Autos auf da, zum Glück. Hinter mir haben die Sirenen geheult, das Blaulicht im Rückspiegel hat mich geblendet. Ich bin gefahren wie ein Wilder, hab überholt – von links, von rechts, egal."
„Und wie haben sie dich dann geschnappt?"
„Sie haben mich abgedrängt. Das ... war wohl die einzige Möglichkeit ... um mich zu stoppen."
Hinter diesen wenigen, banalen Worten steckte so viel. Und sie waren so schwer, das Erik ins Stocken geriet. Der Wagen war immer näher gekommen und Erik wollte und wollte doch nicht anhalten. Das letzte Mittel war eben das gewesen, den Koloss eines Wagens gegen die Leitplanke zu drücken. Die Schleifspur an der linken Seite des Wagens hatte Eriks Vater die Tränen in die Augen getrieben.
„Heftig ..."
Leona lehnte sich an die Hauswand des Schulgebäudes und schaute auf den Boden, als würde sie dort eine Skizze machen, die ihr dabei half, die Ereignisse zu verstehen. Dann schaute sie Erik an. Ihre grauen Augen suchten seine. Er ahnte was sie dachte: Wenn man schon abgedrängt werden musste, bedeutete das, dass der Fahrer nicht im Traum daran dachte, anzuhalten.
„Das sieht man dir gar nicht an."
Erleichtert lachte Erik auf. Ein schelmisches Grinsen zierte Leonas Gesicht und sie fasste ihm an die Schulter. Er hatte erwartet, dass sie weggehen würde. Dass sie so reagieren würde wie die meisten Leute, wenn sie das hörten: mit Ablehnung, distanzsuchend, verständnislos. Musste man das denn verstehen? Man konnte es nicht verstehen. Aber trotzdem, Erik war von seinem Umfeld kurz nach der Sache mit spitzen Fingern angefasst worden wie eine schmutzige Socke. Leona tat es nicht und das rechnete er ihr hoch an.
„Du bist tougher als ich dachte. Jetzt kann ich behaupten, jemanden zu kennen, der sich eine Verfolgungsjagd mit der Polizei geliefert hat", fuhr sie mit einer Spur Ehrfurcht in der Stimme fort. Ein Hauch Verlegenheit gab rote Küsse auf Eriks Wangen. Er suchte in seiner Hosentasche nach der Packung Kaugummi. Mit Pfefferminzgeschmack. Zuerst ließ er Leona sich einen Streifen aus der Packung nehmen und nahm sich dann selbst eins. Nachdenklich kauend faltete Leona das silbern glänzende Kaugummipapier zu einem kleinen Schiffchen zusammen. Sie hielt es hoch, sodass Erik es betrachten konnte. Dann sah sie ihn an, sah über seinen Scheitel hinweg. Sie streckte sich aus und platzierte das Schiffchen auf Eriks Kopf. Er kam sich verdammt albern dabei vor, es geschehen zu lassen.
„Bist du echt so drauf? Ich meine, du bist echt komisch", merkte er an.
„Danke, das kann ich nur zurückgeben. Wie gehst du mit Problemen um? Vergräbst du dich unter deiner Bettdecke? So gehen die Schwierigkeiten aber nicht weg. Man muss sich ihnen stellen. Und wenn gar nichts hilft, einfach lachen."
„Lachen? Du meinst, das Schicksal ins Lächerliche ziehen?"
„Genau so meine ich das."
Erik wurde nachdenklich. Er nahm Leonas roten Faden auf und strickte einen Pullover daraus. War der aber zu groß für ihn? Was konnte er von diesem Mädchen noch lernen? Erik fischte sich das Schiffchen vom Kopf und betrachtete es. In den glänzenden Stellen spiegelte sich verzerrt sein Abbild.
„Was machen wir jetzt? Ich fasse mal zusammen: Dein Verehrer ist hinter uns her und mir will er höchstwahrscheinlich eins auf die Mütze geben. Sehr sympathisch."
Erik lachte zynisch auf. Leona presste die Lippen aufeinander und nickte ernst. Wo war ihr Lachen jetzt? Erik warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend los. Ein Kick gegen sein Schienbein holte ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück.
„Hey! Was sollte das?", fauchte er und trat einen Schritt zurück.
„Du spinnst doch wohl! Wir verstecken uns gerade vor dem Scheißkerl, der uns erpresst und du wieherst hier los wie ein Esel!"
„Entschuldige, ich habe dir nur deinen Rat zu Herzen genommen. War das etwa nicht richtig?"
Eine kleine Faust traf ihn überraschend hart an der Schulter.
„Idiot!"
„He, was denn? Wenn der Typ sich hier blicken lässt, dann lachen wir ihm einfach ins Gesicht, hm? Lachen ist doch ansteckend – mal sehen, vielleicht lacht er ja mit ...?"
„Halt dein Maul!"
Leonas Stimme war auch immer lauter geworden. Ihr kleiner Körper stand unter Strom, das erkannte Erik, auch ohne Messgerät. Er provozierte sie und wusste gar nicht, warum er das tat. Irgendwie machte es ihm Spaß, dabei zu zu sehen, wie sich eine wütende kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen bildete und ihre Wangen erröteten.
„Sonst was? Muss ich vor dir jetzt mehr Angst haben als vor der unheilbringenden Lederjacke? Was willst du tun?"
„Dir das Maul stopfen, du Spinner ..."
„Also da bin ich mal gesp..."
Weiter kam Erik nicht, denn mit derselben unvorhersehbaren Schnelligkeit mit der Leona ihn getreten und geboxt hatte, packte sie ihn vorne am Hemd, zog seinen Kopf zu sich herunter und drückte ihre Lippen auf seine. Doch statt eines Feuerwerks war das hier eher ein Knallfrosch – der Moment war viel zu schnell vorbei, als dass er seine Gefühle richtig registrieren konnte. Aber als sie ihn losließ und in seine Augen schaute, explodierten dann schließlich hunderte in allen erdenklichen Farben leuchtende Raketen in ihm. Er wollte sie am liebsten umschlingen und dort weitermachen, wo sie aufgehört hatte ...
Doch in ihren grauen Augen stand eine unausgesprochene Warnung. Es war ernst. Was taten die beiden hier? Eine Lösung musste her. Eine Lösung für das verdammte Dilemma, in das er ohne dieses Mädchen gar nicht hinein gerutscht wäre. Er wusste, dass er ihr damit unrecht tat, weil sie es sich nicht ausgesucht hatte, von der Lederjacke belästigt zu werden. Trotzdem waren diese bösen Gedanken da, hockten in einer schwach beleuchteten Ecke hinter seinem Verstand und prosteten sich mit Whiskey zu.
„Bist du jetzt wieder bei der Sache?", fragte Leona und strich sich eine Locke aus dem Gesicht.
„Nein. Jetzt erst recht nicht", gab Erik zu. Leona packte ihn und vollendete, was sie begonnen hatte.
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