X - Der Geschmack von reinem Wein

Die schwarze Cap tief ins Gesicht gezogen huschte Leona aus dem Hauseingang. Ganz frech hatte sie sich am Kleiderschrank ihres Vaters bedient und die Ausbeute war gut und reichlich gewesen. Dummerweise schlackerte seine dunkle stonewashed Jeans nur so um ihre schmalen Hüften und sie bekam seinen Gürtel fast zwei mal um ihre Taille, damit das Konstrukt hielt, aber dank des großzügig geschnittenen dunkelgrünen Kapuzenpullovers konnte man kaum noch etwas von ihrer Figur erkennen. Sie konnte genauso gut Tom von oben sein.

Sebastian hatte mit dem Stein, den er durch das Fenster hatte fliegen lassen, deutlich signalisiert, wozu er bereit war. Andernfalls hätte Leona sich diese Maskerade auch sparen können. Verunsicherung war gar kein Wort für das, was sie spürte. Auf der Skala zwischen wegrennen und sich verkriechen pendelte sie hin und her wie eine Standuhr. Doch beides würde ihr nichts bringen, sie musste direkt ab durch die Mitte.

Ihre Haare waren kurz genug, dass sie diese vollständig unter der Cap verbergen konnte. Und was nicht durch die Kopfbedeckung versteckt wurde, das verschwand spätestens, wenn sie noch die Kapuze darüber zog. Eilig sah sie sich um und lief dann auf die Straße. Hier ging sie in den Massen an Leuten unter, die den Montag in der Innenstadt verbummeln wollten. Die Straßenbahn war gut gefüllt und Leona sah sich aufmerksam um. Von Sebastian war keine Spur zu sehen. Zum Glück. Trotzdem musste sie vorsichtig sein, denn er konnte überall lauern. Als sie den Park betrat, zögerte sie einen Moment. Was, wenn Erik gar nicht hier war?

„Was machst du hier?"

Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Es war Erik. Zum Glück, er war es.

„Scheiße, du hast mich sogar von hinten erkannt?", fragte sie.

„Klar. Nettes Outfit", erwiderte er trocken.

„Du bist in Gefahr", fiel Leona mit der Tür ins Haus.

„Wegen der Lederjacke?", fragte Erik unsicher. Leona nickte. Sie entschied, dass es besser war, die Nachricht für sich sprechen zu lassen und hielt ihm ihr Handy hin. Jedoch scrollte sie nur zu dem Foto, das Eriks Haustür zeigte, nicht das mit dem blonden Mädchen. Sie beobachtete Eriks Gesicht, während er das Bild betrachtete und den kurzen Text las. Seine Stirn war leicht gerunzelt und er grübelte über die Worte nach.

Wenn er auf das Datum sehen würde, dann würde ihm auffallen, dass die Nachricht schon am Samstag gekommen war. Leona hatte gar nicht erst in Erwägung gezogen, bei Erik zuhause aufzukreuzen. Am Freitag war er einfach verschwunden und hatte sie stehen lassen, allein mit der kryptischen Botschaft. Ich mag dich irgendwie – drauf geschissen! Dementsprechend hatte Leona auch keine Lust mehr gehabt, zu ihm zu gehen. Doch sie hatte nachgedacht. Auch Erik war in Gefahr, sie konnte ihn wirklich nicht einfach ins offene Messer laufen lassen.

„Jetzt wäre der richtige Moment, um mir mal reinen Wein einzuschenken", meinte er schließlich und überreichte Leona ihr Handy. Sie steckte es in die ungewohnt tiefe Jeanstasche.

„Aber nicht hier", erwiderte sie eilig und sah sich vielsagend um. Es waren viele Leute unterwegs und jeder konnte Sebastian sein.

„Ich muss noch arbeiten bis um ...", Erik warf einen Blick auf seine übergroße Uhr, „bis um drei."

„Aber das ist noch mehr als eine Stunde!", protestierte Leona. Erik zuckte mit den Schultern. Sie wollte ihn anschnauzen, doch dann sah sie ihn unter einer Eiche über den bunten Blätterteppich gehen. Sebastian. Über die linke Hälfte seines Gesichts zog sich eine frische Schramme und er schien leicht zu hinken. Ziellos lief er herum und schaute sich um. Er hatte Leona noch nicht gesehen. Eilig schnappte sie Erik am Arm und zog ihn in Richtung der nahegelegenen Realschule.

„Hey, was soll das? Ich muss ..."

„Du musst gar nichts. Er ist da drüben. Sebastian. Was meinst du, wird er tun, wenn er dich sieht?"

„Scheiße ...", murmelte Erik und ließ sich von Leona weiterziehen. Hinter der Ecke, bei den Müllcontainern, machte sie halt.

„Was will der Kerl von dir?", fragte Erik. Jetzt war es an der Zeit, mit der Sprache herauszurücken.

„Ich war mit ihm das eine oder andere Mal auf Beutezug", sagte Leona und betonte das eine oder andere Mal dabei ganz besonders. Erik zog eine Augenbraue hoch.

„Du meinst ...?"

„Ja. Wir haben geklaut, was nicht niet– und nagelfest war." Jetzt war es raus.

„Hä?"

„Ja, er war sozusagen mein Mentor, wenn man es positiv ausdrückt. Durch ihn bin ich auf den Geschmack gekommen, mir einfach die Dinge zu holen, die ich will. Andersrum gesagt: Er hat mich gnadenlos ausgenutzt. Mich und meine Gefühle."

Erik blieb still. Leona bereute, den letzten Satz angehängt zu haben, doch sie konnte ihn genau so schlecht wieder zurückholen, wie man Zahnpasta zurück in die Tube bekam. Ihr Gegenüber schloss schwerfällig für einen Moment die Augen, atmete betont tief ein und wieder aus und sagte immer noch nichts. Verflixt, warum sagte er nichts?

„Das ist kein harmloser Scheiß, nehme ich an?"

Belämmert schaute Leona ihn an.

„Moment mal ...", begann sie zu protestieren, doch Erik schnitt ihr das Wort ab.

„Was wollte er von dir?"

„Hm, das ist es ja gerade. Ich wollte den Kontakt zu ihm abbrechen ..."

„Was genau? Was wollte er?"

Die Vermeidungsstrategie, die Leona fuhr, führte sie aufs Glatteis. Yeah, ab hier wurde es ziemlich rutschig. Scheiße, verdammt, sie würde nicht aus dieser Nummer herauskommen, ohne Erik einzuweihen. Dabei war er ein dämlicher Idiot, den es wahrscheinlich nur interessierte, weil er irgendwie doch in das Ganze involviert war. Und wegen nichts anderem. Ich mag dich irgendwie. Ich mag dich. Irgendwie. Das hieß nichts. Wenn Sebastians Ich liebe dich nichts geheißen hatte, dann tat es ein läppisches Ich mag dich irgendwie schon gar nicht. Seine milden braunen Augen sagten etwas anderes. Sie ließ die Schultern sacken.

„Also gut. Ich will aber nichts hören, lass deinen Moralapostel genau da stecken, wo er gerade ist, okay? Ich weiß selber, dass das Scheiße war. Und denk daran: Der Typ ist total abgedreht."

Erik nickte knapp, in seinen Augen loderte jedoch ein schweißtreibendes Kaminfeuer. Er wollte unbedingt erfahren, was es war, das da zwischen Leona und Sebastian abging. Okay, gut, sie würde es ihm sagen. Und sollte irgendein belehrendes Wort von ihm kommen, dann würde sie so richtig aufdrehen. Schließlich war nur einer von beiden ein verurteilter Straftäter. Also gut ...

„Er hat mich geküsst."

Leona hatte einige Reaktionen erwartet. Dass Erik die Augen aus dem Kopf fallen würden, dass er sie auf der Stelle anschreien oder dass er ohne ein Wort zu sagen einfach weglaufen würde. Aber er schob die Unterlippe leicht vor und nickte anerkennend. Klar, jetzt konnte nur wieder ein blöder ironischer Spruch kommen.

„Du hast recht. Du hast dich da in eine beschissene Lage gebracht. Ich gratuliere. Der Typ ist richtig verrückt, allerdings. Und du findest das auch noch geil?"

„Das hab ich nicht gesagt", gab Leona zurück, doch sie merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Doch. Sie fand ihn gut und wie. Hatte. Hatte ihn gut gefunden. Was wollte Erik überhaupt? War er jetzt eifersüchtig, was? Aber sowas von!

„Das heißt, er steht auch auf dich. Und ist hinter dir her?"

In Eriks Gesicht zeichnete sich ehrliche Besorgnis ab. Das erweichte Leona ein wenig, musste sie selbst zugeben. Vielleicht war er doch ein besserer Mensch, als er sich gezeigt hatte. Doch das würde er jetzt erst einmal beweisen müssen. Jetzt.

„Was soll ich tun?", platzte es aus ihr heraus. Jetzt konnte sie nicht quirlig und lustig sein, beim besten Willen nicht.

„Wenn du willst, dann kann ich ihn mir vornehmen", sagte Erik und räusperte sich vielsagend. „Ich fürchte nur, dass da nicht viel herauskommen wird, außer vielleicht ein blaues Auge oder einen gebrochenen Arm für mich ... Nein, ich denke, du solltest ihn anzeigen. Er hat dich belästigt."

„Was? Das kann ich doch nicht machen! Dann kommt doch auch heraus, was ich getan hab ... Denk dir was anderes aus."

„Warum eigentlich ich? Was bin ich dir noch schuldig?"

Okay, jetzt wurde er wieder unbequem. Was war nur los mit ihm? Und warum tauchte er ständig in Leonas Leben auf und wirbelte alles durcheinander? Wer war er überhaupt, dass er ihr solche Vorhaltungen machen konnte? Ein reiches Schnöselsöhnchen, das nach hinten ausschlug. Ein kleiner verwöhnter Scheißer, den Papis beste Anwälte aus allem bestmöglich rausholten und der immer auf ein weiches Polster fiel. Wer war er überhaupt?

„Jetzt ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, an dem du mir reinen Wein einschenkst, ja? Was hast du denn verbockt, dass du vergammelte Abfälle und vor sich hin gärende Shakes aus dem Park angeln musst?", konfrontierte Leona ihn. Offensiv stemmte sie die Hände in die Hüften und baute sich mit ihrer kleinen Statur vor ihm auf, so gut es ging. Der ärgerliche Gesichtsausdruck von Erik zeigte ihr, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Gut so! Und jetzt würde sie noch eine Prise Salz hinein streuen, falls es nötig sein sollte.

„Das geht dich nichts an."

„Es geht mich nichts an? Okay, und warum sollte ich dir gerade Dinge so private aus meinem Leben erzählen? Die gehen dich genauso nichts an."

„Weil ..."

„Ich höre?"

„Na, weil du mich da reingezogen hast!"

„Reingezogen!"

Theatralisch warf Leona ihre Arme in die Luft und lief einmal im Kreis.

„Ich habe ihn reingezogen, sagt er – so ist das also? Ich hab nie deine Hilfe verlangt."

Eriks Gesichtszüge wurden weicher.

„Entschuldige. Das war nicht so gemeint ..."

„Und wie war es dann gemeint?"

Stille. Zwei Fahrer, die sich beide um das Lenkrad stritten und nun in einer Sackgasse gelandet waren. Da konnten sie nur gegen die Wand fahren, wenn nicht endlich jemand auf die Bremse gehen würde.

„Mit fast siebzehn hatte ich meine erste Theoriestunde. Es hat viel Überredungskraft erfordert, um das möglich zu machen, weil meine Eltern mich erst ein Jahr später in der Fahrschule anmelden wollten. Meine schulischen Leistungen waren nicht, wie sie sein sollten, wenn man nach dem Realschulabschluss das Abi machen und dann Jura studieren soll. Die zusätzliche Lernbelastung würde meine Noten in den Keller treiben, haben sie gesagt. Aber ich hab mich durchgesetzt."

Erik hielt kurz inne und suchte in Leonas Gesicht nach einem Anhaltspunkt. Sie nickte kaum merklich. Dann sprach er weiter.

„Nach zwei Monaten sind meine Noten dann echt immer schlechter geworden. Mit dem Halbjahreszeugnis kam dann auch noch die frohe Kunde, dass mein Klassenlehrer ein Elterngespräch führen wollte. Vielleicht kannst du es dir denken – meine Eltern kamen nach Hause und sagten, sie würden mich von der Fahrschule abmelden. Erst wollte ich nicht verstehen, was sie mir sagten. Dann war ich verzweifelt und am Ende einfach nur noch richtig wütend. Aber was sollte ich machen? Ich war noch keine achtzehn und wenn Daddy den Geldhahn zudrehen würde, dann konnte ich mich auch auf den Kopf stellen. Ich hatte keinen Zugang zu meinem Sparbuch und kein eigenes Konto. Nur das, was ich immer so von meinen Großeltern zugesteckt bekam. Ohne Kohle würde ich also keinen Führerschein bekommen."

„Haben sie nicht mit sich reden lassen?", fragte Leona.

„Leider nicht. Ich bin hoch in mein Zimmer gerannt und hab die Tür zugeknallt. Das Abendessen hab ich ausfallen lassen. Sie haben sich noch eine Weile unterhalten und sind dann auch irgendwann ins Bett gegangen. Kurz vor Mitternacht war es dann soweit; ich hab eine kleine Spritztour unternommen. Der Schlüssel war da, wo er immer war. Weil niemand damit gerechnet hat, dass ich das tun würde."

„Aber ... hattest du schon Fahrstunden gehabt? Woher konntest du fahren?"

„Zwei, drei Fahrstunden, ja. Aber ich hatte meinem Vater oft genug zugesehen. Und meiner Mutter. Jeden Handgriff hab ich mir gemerkt, etwa so, wie andere Vokabeln verinnerlichen. Das war mein Vorteil. Und dass das mein Vater keinen Schaltwagen fährt. Automatik ist easy, ein bisschen wie Boxauto fahren."

„Boxauto ...?" Leona schnaufte, als würde sie einen ungewollten Lacher unterdrücken wollen.

„Ist doch so. Also fast. Naja, es ist wirklich einfach: Auf die Bremse, dann den Hebel auf D und die Bremse loslassen. D wie Drive. Kann man sich gut merken. Tja, und dann kann man losfahren."

„Und dann bist du durch die Gegend gefahren. Einfach so, ziellos?"

„Ja. Ich wollte auf die Autobahn, aber dann hab ich bemerkt, dass ein Streifenwagen hinter mir her war. Vielleicht war er schon eine ganze Weile da gewesen, das kann ich nicht sagen. Ich war in Gedanken mal im Auto, mal auf der Treppe zuhause, mit ganz viel Wut im Bauch."

Leona runzelte die Stirn. Das klang ziemlich unverantwortlich. Yeah, auch wenn sie Eriks Ärger über seine Eltern nachvollziehen konnte, verstand sie nicht, was ihn dazu getrieben hatte, das Auto seines Vaters zu entwenden. Sie versuchte sich in seine Lage zu versetzen, aber sobald sie sich das liebevolle rundliche Gesicht ihres Vaters vor Augen rief, widerstrebte alles in ihr einer solchen Aktion. Wie konnte er das nur tun?

„Tja, und dann ging es richtig los."

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