VII - Löwenstark
Der Raum war getaucht in lilafarbenes Licht. Auf dem Schreibtisch stand eine bunt bemalte Schale, in der Räucherstäbchen träge Schwaden an die Umgebung abgaben. Das rauchig–süße Aroma, das den ganzen Raum erfüllte, kroch in seine Lungen und verursachte ihm einen leichten Hustenreiz. Mit einem Lächeln und einer bauchigen Flasche mit klarer Flüssigkeit darin trat Leona durch die Tür.
„Birnenbrand", erklärte sie knapp und ließ sich zu ihm aufs Bett fallen. Ihr Körper schien so leicht zu sein, dass nicht einmal der Lattenrost knarrte.
„Noch nie probiert", gab Erik zurück und suchte mit seinen Augen ihren Blick. Ihn einzufangen war genauso schwer wie das Licht der Sonne in einem Marmeladeglas zu konservieren.
„Es gibt für alles ein erstes Mal, weißt du?", flüsterte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln, während sie den Deckel abschraubte. Einladend hielt sie ihm die Flasche hin. Ihre Version davon jemandem ein Getränk anzubieten. Erik zögerte. Er mochte keinen Brummschädel. Als sie sein Zögern bemerkte, zuckte sie mit den Schultern und trank selbst einen Schluck direkt aus der Flasche. Dann legte sie sich auf die Seite und stützte sich mit dem Ellbogen ab. Ihr Gesicht war eine halbe Armlänge von seinem entfernt.
In dem lilafarbenen Licht sah es anders aus, irgendwie jünger, weicher. Ihre Lippen lächelten, aber die Augen nicht. Warum versuchte sie, sich selbst zu betrügen? Ihr Mund wollte ihr Herz verarschen. Wie es in ihr aussah, konnte man von außen nicht ablesen.
„Wir wollten reden. Über den Wich... den Kerl, den ich in die Baugrube gestoßen habe. Du erinnerst dich?", rief er ihr ins Gedächtnis.
„Ja, der Typ. Ich glaube, er hat bei uns die Scheibe eingeworfen. Ach was, ich glaube es nicht, ich weiß es. Und der Kerl ist gefährlich", sagte Leona und sah ihm tief in die Augen. Die ganze Situation war so unfassbar irritierend. Wie konnte sie so schnell umschalten, von gelassen zu ernst?
„Und deshalb betäuben wir uns mit Birnenbrand ...?", fragte Erik und schielte auf die Flasche.
„Exakt. Hör mal, ich weiß, ich habe eine seltsame Art, mit solchen Dingen umzugehen. Aber wenn wir alle gleich wären, dann wäre es doch langweilig ..."
Erik schluckte. Hatte sie etwas eingeworfen? Er suchte ihren Blick. Die Pupillen waren unverdächtig, sie konnte also schon mal nicht high sein. Oder vielleicht etwas anderes ...? Er blieb an der regengrauen Iris hängen. Ihre Augen waren so schön und so traurig zugleich, als wären sie aus bleiernen Tränen gegossen worden.
„Hier brauchst du dich nicht zu zieren", flüsterte sie, als würde sie ihm ein Geheimnis erzählen, das es nur zwischen den beiden geben würde. Die Räucherstäbchen vernebelten seinen Kopf und er konnte nicht mehr klar denken. Oder waren es ihre Präsenz? Sie machte ihn fertig. Erik legte sich auf den Rücken und legte seine Hände auf den Bauch. Er spürte, wie der sich mit seinen Atembewegungen hob und senkte.
Plötzlich war Leona über ihm. Ihr warmer, vom Alkohol geschwängerter Atem streichelte sein Gesicht. Er wollte nicht, dass sie wegging. Gleichzeitig fühlte es sich falsch an, hier zu sein. Er sah sie gerne an und gleichzeitig wollte er Abstand suchen. Ein bisschen war es dieselbe Faszination, mit der man einen ausgestopften Hirschkopf betrachtete.
Wenn Erik ihr Gesicht sah, fühlte er sich zu ihr hingezogen, aber sobald sie den Mund aufmachte, stürzte sie ihn in ein Labyrinth, dessen Wände sich alle paar Sekunden verschoben. Die Art, wie sie sprach – tränenfröhliche, wutlachende Worte – ließen ihn im Gespräch mit ihr schlittern.
„Du pennst mir hier aber nicht weg", neckte sie ihn, als Erik einen langen Moment die Augen geschlossen hatte. Als er sie wieder öffnete, lag ihr weißes Shirt neben ihm auf dem Bett wie eine geschossene Taube. Sie stand vor ihm in ihrem rosafarbenen BH mit Spitzenträgern. Alarmiert richtete Erik sich kerzengerade auf, was das Mädchen mit einem schelmischen Lächeln kommentierte.
„Hey, was wird das hier?", murmelte Erik unsicher. Mit einer Handbewegung wischte Leona seinen Einwand weg.
„Behalt deine Hose an, ich will dir bloß was zeigen", lachte sie. Aber Erik sah es, noch bevor sie darauf deuten konnte. Der Kopf eines Löwen. Knapp unterhalb ihres BHs seitlich auf ihrem Brustkorb, so groß wie seine Hand.
„Mach den Mund zu", kicherte Leona und ließ sich neben Erik auf das Bett fallen. Sie nahm seine Hand und legte sie auf die feinen Linien des Löwenkopfs. Erik zog sie wieder weg, kam aber näher und fuhr mit dem Finger fasziniert die bläulich–schwarzen Outlines nach.
„Leona, die Löwin", murmelte er vor sich hin. Sie lächelte, als habe sie diese Bemerkung schon hundertmal gehört. Ihm selber kamen sie so weichgespült vor, kaum hatte er sie ausgesprochen.
„Wie findest du es?", fragte sie. Unschlüssig nickte Erik und sie sah es ihm sicher an, wie viele Fragezeichen auf seinem Gesicht standen. Ihr sanftes Lächeln war wie mit Aquarellfarben auf ihr herzförmiges Gesicht gemalt und nahm unterschiedliche Färbungen an, verschwamm, als habe man einen Becher Wasser auf diesem Kunstwerk verschüttet und wurde wieder klarer nachgezeichnet.
„Haben dir deine Eltern das erlaubt?", stellte Erik die offensichtliche Frage. Mit neckischem Lächeln legte Leona den Zeigefinger auf ihre Lippen. Lange hielt sie diese Pose aber nicht durch, denn sofort brach sie in leises Gelächter aus, das sie schnell noch mehr dämpfte. Was genau er daraus schließen sollte, wusste Erik nicht. Klar war ihm allerdings, dass ihre Eltern nichts von diesem Löwen wussten.
Wieder hielt sie ihm den Birnenbrand hin, diesmal wollte er sie nicht wieder abweisen. Widerstrebend nahm er die Flasche und roch daran. Als er das Gesicht bei dem alkoholisch–antiseptischen Geruch verzog, ergriff Leona die Initiative. Sie setzte ihm die Flasche an die Lippen wie das Fläschchen bei einem Baby und kippte sie, sodass die brennende Flüssigkeit in Eriks Mund strömte. Schnell griff er an den Flaschenhals und nahm sie wieder weg.
„Das reicht", schnappte er und sprang von ihrem Bett. Verdattert betrachtete Leona ihn und kletterte dann ebenfalls vom Bett.
„Hab ich was falsch gemacht?", fragte sie besorgt. Einen Moment lang sagte niemand etwas. Erik dachte, dass sie die Antwort doch aus seinem Gesicht ablesen konnte. Dass sie im Raum herumschwirrte wie eine lästige Fliege.
„Ich will nicht in den Knast", erwiderte er tonlos. Seine Stimme klang heiser und sein Mund fühlte sich trocken an.
„Das wirst du auch nicht müssen", gab Leona zurück und trat näher an ihn heran.
„Oho, doch, das werde ich, wenn ich weiter mit dir herumhänge und mich in Schwierigkeiten bringe, anstatt einfach stur meine verdammten Sozialstunden abzuleisten. Weißt du, was ich hier gerade aufs Spiel setze?"
Er hatte gar nicht gemerkt, wie er lauter geworden war. Leona blieb auf Abstand und sah ihn traurig an, als hätte er gesagt, dass er sie nie mehr wiedersehen wollen würde. Jetzt wurde ihm bewusst, was er da gesagt hatte: Wegen dir. Wegen dir stecke ich in dieser Scheiße. Wegen dir riskiere ich alles. Stimmte das denn überhaupt?
„Entschuldige, dass ich dich deine Freiheit koste, das wusste ich nicht", murmelte sie und schaute betreten zu Boden. Die Flasche mit dem Birnenbrand hatte sie immer noch in der Hand.
„So war das nicht gemeint. Aber du weißt, worauf ich hinaus will. Du bist die Verbindung zu diesem Kerl, den ich lieber nie mehr wiedersehen will. Wir sollten uns nicht treffen, wir sollten abwarten. Wenn das alles vorbei ist, dann können wir vielleicht ..."
„Was? Was können wir dann? Weißt du, was ich satt habe? Die ganzen Wenns und Abers. Wir können alles, ja, das können wir, aber es sind immer Bedingungen daran geknüpft. Ein ganzer verschissener Müllsack voller Wenn und Aber", schnappte sie und stellte die Glasflasche auf dem Boden neben dem Bett ab. Sie fand im weichen Teppich keinen festen Halt und neigte sich leicht. Dabei fiel Eriks Blick auf einen mit Panzertape umwickelten Schuhkarton, der unter dem Bett lag. Er stutzte einen Moment lang, richtete seine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf Leona.
„Das ist nicht fair", entgegnete Erik. „Du stehst nicht mit einem Bein im Gefängnis. Du hast nicht einen wahnsinnigen, zugedröhnten Typen in eine Grube gestoßen. Was, wenn er mich jetzt verfolgt? Du hast doch selber Angst, das ist ja der Grund, warum ich hierher gekommen bin. Und statt über das Problem zu reden, willst du mich mit Schnaps abfüllen. Nimmst du das alles überhaupt ernst oder lebst du in deiner kleinen Zuckerwatte–Welt, in der du von jeder Wolke weich fällst, egal wie tief?"
„Nein, das tue ich nicht. Aber mein Leben ist auch nicht ganz so rosig und problemlos wie du vielleicht denkst."
Erik verzichtete darauf, nachzuhaken, er wartete, dass sie von sich aus sagte, was sie meinte. Doch das tat sie nicht. Stattdessen zog sie die Gardinen beiseite und öffnete das Fenster. Kalte Abendluft strömte hinein. Jetzt erst merkte Erik, dass er geschwitzt hatte, denn an der kühle Windzug streichelte mit eisiger Hand die feuchten Stellen an seinem Rücken.
„Geh nach Hause", befahl Leona.
Doch das wollte Erik nicht. Er wollte hier bei ihr bleiben und ihre Geschichte hören. Er wollte erfahren, warum ihr Leben nicht so rosig und problemlos war, wie er es sich angeblich vorstellte. Aber auf der anderen Seite wollte er sie nicht bedrängen. Er stand an der Tür, sie am anderen Ende des Zimmers am Fenster. Wenn sie seine Nähe im Moment wollen würde, dann würde sie das anders zeigen.
„Es tut mir leid, wenn du das in den falschen Hals bekommen hast. Du sollst wissen, dass ich dich irgendwie mag, okay?"
Mit diesen Worten öffnete er die Tür und trat in den Flur. Offensichtlich schlief Leonas Vater tief und fest, denn alle Lichter waren aus. Einen Augenblick lang stand Erik im Türrahmen und wartete auf etwas. Worauf? Vielleicht, dass Leona ihn zurück rief. Dass sie ihn zum Bleiben überreden würde. Aber das passierte nicht. Und deshalb ging er.
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