VI - Schadensminimierungsversuche

Leona bemühte sich darum, nicht alle paar Schritte einen Blick zurück zu werfen. Selbst hier, in diesem blendend hübschen Wohnviertel, wo mindestens an jedem zweiten Haus eine Überwachungskamera über der Eingangstür befestigt war, fühlte sie sich nicht wirklich sicher. Die Fahrt in der U–Bahn war vergleichsweise angenehm verlaufen, weil noch so viele andere Leute auf dem engen Raum waren. Normalerweise hätte Leona sich darüber geärgert, sich in den Feierabendnahverkehr zu pferchen wie in eine Sardinendose, aber heute war sie dankbar für die vollgefüllte Bahn gewesen.

Sie ertappte sich dabei, wie sie die Zähne fest aufeinander biss. Ihre Kiefermuskeln waren total angespannt, als würde sie versuchen, einen Ziegelstein durchzubeißen. Auf der offenen Straße fühlte sie sich wie Freiwild. Der Kerl war wie ein verdammter Bluthund und er würde ihre Spur wittern. Das Reh war angeschossen und humpelte auf unsicheren Beinen durch den Wald. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er Blut gewittert haben würde. Scheiße, das musste Leona irgendwie verhindern!

Und dann war da noch Erik. Sie hatte den Idioten nur warnen wollen, aber er hatte sie weggeekelt. Ja, er wollte nichts von ihr, danke, noch ausführlicher brauchte sie die Abfuhr nicht serviert zu bekommen. Dabei war der Grund, warum sie hierher gekommen war, doch nicht, dass sie ihn sehen konnte und weil sie ihn ach so toll fand ... Oh, was machte sie sich eigentlich vor. Natürlich fand sie ihn toll! Natürlich würde sie ihm gerne durch die Haare streichen, seine braunen Augen von ganz nahmen erkunden. Doch er wollte es nicht. Vielleicht hatte er ja schon eine Freundin. Oder Leona war gar nicht sein Typ. Viele Kerle standen doch auf lange Haare und die hatte sie nicht zu bieten.

Mann, jetzt schweiften ihre Gedanken in alle erdenklichen Richtungen. Was reimte sie sich da zusammen? Wollte sie irgendeinem Kerl gefallen, der mit Müllsäcken und einer Greifzange durch den Park lief? Verflixt, was hatte denn das eine jetzt mit dem anderen zu tun? Was es auch war, das den Kerl an ihr so sehr abturnte, sie brauchte nicht noch einmal hier in diesem Nobelviertel vorbeizukommen. Da war Erik wirklich deutlich genug geworden, danke für nichts.

Es hatte Leona allerdings gewundert, dass er nicht danach gefragt hatte, woher sie seine Adresse hatte. Er wusste zwar, dass Leona Kellermann in der Wildhoferstraße 34 wohnte und auch ihre Handynummer hatte er – sie hatte aber mit Mühe und geschicktem Herumfragen herausfinden müssen, dass Erik Settler Junior in der Talbachstraße 2 lebte. Egal, sie würde wieder nach Hause gehen und sich eine Strategie überlegen. Nachdenken, ganz viel nachdenken. Vielleicht hatte ihr Vater sich bereits um die Fensterscheibe gekümmert.

Zuhause angekommen wurde Leona von einem kühlen Luftzug begrüßt. Nein, die Scheibe war noch nicht heil. Sie streifte in die Küche und sah, wie ihr Vater den Fensterrahmen mit einem schwarzen Müllsack mehr schlecht als recht überdeckt hatte. Er selbst saß mit einer dampfenden Tasse vor sich am Küchentisch.

„Heute kommt keiner mehr. Ich habe es mit einer provisorischen Lösung versucht. Willst du auch einen heißen Kakao?"

Ein warmes Lächeln erhellte Leonas Gesicht. Auch mit vierzig würde sie niemals eine Tasse mit wohlig–süßem Kakao von ihrem Vater abschlagen können.

„Gerne", antwortete sie und setzte sich an den Tisch. Er war klein, reichte für drei Personen, aber es war in letzter Zeit nie jemand anderes hier als Leona und ihr Vater. Dabei war der Abend die einzige Zeit des Tages, an dem keiner allein aß. Morgens ging ihr Vater schon recht früh los, da schlief Leona meistens noch. Er kochte Kaffee und ließ ihr immer etwas in der Kanne für sie übrig. Er stellte die Butter raus, damit sie schön streichfähig war und nicht das ganze Brot aufriss. Er war zu gut für diese Welt.

„Ich wüsste wirklich gerne, wer das gewesen ist ... Es scheint ja, als ob man gezielt das Fenster dieser Wohnung zerschlagen wollte. Wenn es ein Einbrecher gewesen wäre, dann hätte der es doch eher im Erdgeschoss versucht ...", mutmaßte ihr Vater und strich sich über die ergrauenden kurzen Haare.

„Stimmt ...", murmelte Leona. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und sie wollte sich ungern verraten. Natürlich hatte sie eine Ahnung davon, wer es war. Nur konnte sie das nicht sagen.

„Wer wirft am helllichten Tag eine Scheibe ein? Da muss doch sicher irgendjemand von den Nachbarn etwas mitbekommen gaben, meinst du nicht?"

„Mhm, möglich wär's ...", meinte Leona und fuhr sich mit der Hand den Hals entlang. Ihre Finger blieben an der Choker–Kette stehen und sie spielte daran herum. Jetzt fehlte der Anhänger. Sie bereute es schon, ihn diesem Vollidioten geschenkt zu haben, denn es hatte ihr eigentlich sehr viel bedeutet. Doch Leona wusste inzwischen gar nicht mehr, wie sie zu dem Löwenkopf aus Gold stehen sollte. Der Löwe, das Lieblingstier ihrer Mutter. Dennoch: Erik schätzte es nicht. Er schätzte sie nicht. Da hätte es als Dank also auch irgendetwas anderes getan, vielleicht Messing verzinkt ... Irgendwie kam ihr die Kette enger vor als sonst.

„Morgen habe ich ja frei, dann klingele ich mich mal durchs Haus. Und wenn es hier niemand mitbekommen hat, dann bestimmt nebenan. Da hockt immer der alte Opa mit dem Ziegenbart im Fenster und raucht – der wird bestimmt etwas gesehen haben ..."

Leonas Kette wurde enger und enger. Ein mehrstöckiges Haus reihte sich hier ans nächste. Es war sehr wahrscheinlich, dass ihr Vater etwas herausbekommen würde. Sehr, sehr wahrscheinlich. Ihr wurde ganz schlecht. Plötzlich wollte sie keinen Kakao mehr, sondern sich am liebsten übergeben.

Aber halt! Was würde ihr Vater denn herausfinden können? Höchstens würde er eine Beschreibung von dem Kerl erhalten. Und weiter? Damit zur Polizei gehen? Wie viele Typen trugen eine Lederjacke? Sehr viele. Das würde ihm nicht weiterhelfen. Hatte er denn heute überhaupt eine Lederjacke getragen? Schließlich hatte Leona den Kerl nicht einmal selbst gesehen. Wie dem auch sei, ihr Papa würde Anzeige gegen Unbekannt erstatten müssen und wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche erfolgreich war? Mit einer Spur Erleichterung atmete sie langsam aus. Ihr Vater stellte die Tasse Kakao vor ihr hin und setzte sich ihr gegenüber.

„Fängst du morgen zu ersten Stunde an? Ich kann dich fahren."

„Papa, morgen ist Samstag."

Theatralisch schlug er sich mit der Hand vor die Stirn.

„Klar, natürlich. Mensch, bin ich durcheinander. Ich glaube, nach der Tasse Kakao werde ich mich direkt ins Bett verziehen."

Leona lächelte nachsichtig. Die Arbeit im Friseursalon erfüllte ihren Papa, manche Kunden suchten den Laden extra wegen ihm und seiner guten Laune auf. Kein Wunder, so redselig und aufgeschlossen wie er immer war. Manchmal fragte Leona sich, was für Inhaltsstoffe der morgendliche Kakao enthielt, die bei ihrem Vater wirkten wie ein Stimmungsaufheller ... Er schüttete den letzten Schluck seines Heißgetränks herunter und stellte die Tasse in die Spüle.

„Gute Nacht, Papa!", sagte Leona und sah dem rundlichen Mann hinterher, wie er langsam in Richtung Schlafzimmer trottete.

„Gute Nacht, Liebes."

Sie nahm einen Schluck von ihrem Kakao und sah auf ihr Handy. Nichts. Was hatte sie denn erwartet? Eine Nachricht von Erik? Er hatte ihre Nummer verlangt, aber auch nur, um sich zu melden, falls er eine Anzeige bekommen sollte. Andernfalls nicht. Natürlich nicht, denn dann gäbe es auch keinen Anlass. Sie quetschte das Handy zurück in die Tasche ihrer engen Jeans und im selben Moment begann es zu vibrieren. Erik.

„Was ist?", rotzte sie ihm unfreundlich durch den Hörer entgegen. Dabei gab sie sich nicht einmal Mühe, nett zu klingen. Das hatte er schließlich auch nicht getan.

„Alles klar bei dir?", fragte der junge Mann unsicher. Das ließ sie aufhorchen.

„Ja ... und bei dir? Wie läuft die Party?"

„Gut ..."

„Na dann. Was willst du von mir?"

„Ich ... Wir müssen reden. Bist du da?"

„Klar. Aber du wirst doch nicht deine Party über den Haufen werfen, um mit mir zu reden?"

„Gut, okay, ich hab sie nach Hause geschickt. Hab gesagt, dass mir schlecht sei. Es hat mir die Lust auf Torte verschlagen. In einer halben Stunde werde ich mich raus schleichen."

Hörte Leona da richtig? Er hatte seine Geburtstagsparty sausen lassen, um zu ihr zu kommen? Ha! Wer's glaubt ... Da war garantiert irgendein Eigennutz dahinter. Natürlich hatte er gesehen, wie sie angefangen hatte zu weinen und meinte jetzt wahrscheinlich, dass er sein schlechtes Gewissen beseitigen müsste. Sollte er nur kommen. Sollte er kommen ... Dann ... Was dann? Den kleinen Hüpfer, den ihr Herz gemacht hatte, konnte Leona nicht ignorieren. Sie freute sich, dass er sich gemeldet hatte. Sie könnte Luftsprünge machen, weil er sogar vorbeikommen wollte.

Er wollte vorbeikommen. Hätte er das rein aus schlechtem Gewissen getan? Hätte er vielleicht. Oder es steckte noch mehr dahinter. Sonst hätte er einfach nur angerufen. Doch scheinbar wollte er sie sehen. Sonst würde er doch nicht um diese Zeit im Dunkeln noch raus. Egal – Leona musste es auf sich zukommen lassen.

„Schreib mir, wenn du an der Eingangstür bist, dann werde ich dir aufmachen. Klingel aber nicht, bis dahin schläft mein Vater schon ..."

„Okay. Bis gleich."

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